910 Und die beiden Väter waren überzeugt, daß der Erhard es zu etwas bringe im Leben, da er den rechten Griff dafür hätte. Der Simon aber erzählte zü Hause bei sich der Liesi von dem Gespusi, das der Erhard mit der Madlen gehabt hatte, und was der Bursch für ein Glück mache. Aber das sei halt so der Welt Lauf, Liebe käme nimmer zu Liebe, Arm zu Arm nur und natürlich Geld zu Geld. Die Liesi hatte da nur hingehorcht und nichts gesagt. Große Augen hatte sie geniacht und an einem fort hingestaunt. Und als der Simon ihr„gutnacht" sagte, da warf sie sich auf ihr Bett und weinte und wimmerte. Und als sie die halbe ?tacht so geweint hatte, da begannen ihre Gefühle zu kämpfen. Die Liebe sagte immer:„Ach was, er ist so gut und so hübsch und lieb" und die Vernunft sagte:„Ter Vater hat gute Augen, und Du bist arm wie ein halbverserbeltes Kirchen- mäuslein, das nur ab und zu ein Stücklein von der Hostie bekommt, wenn es gut geht." Aber die Liebe ist ein wunder- liches Ding und weiß alles besser als die Vernunft. Sie sagte darum nochmals zur Liesi:„Glaube mir, das ist alles Zufall, und der Erhard mag Dich, und er ist doch so hübsch, oder nicht?" Da sagte die Liesi selbst:„Jawohl ist er das, und das alles ist nur dumme Angst, und er hat mich auch liebl" Und da schlief sie ein und träumte schöne Tinge und er- wachte am anderen Morgen nicht zur Zeit. Da ging der Simon und machte der Liesi ihre Arbeit ins Reine. Er gönnte dem Kind die Ruh� Aber als er einmal genau hinsah, da schüttelte er doch den Kopf. Er konnte nicht begreifen, daß die Liest so glücklich lächelte im Schlafe. War doch ihr Traum vergangen und alles zu Ende. Aber als die Liesi erwachte, machte er sich nichts weiter daraus und ging in den Wald, seinem Dienste nach. Die Liest hatte die nächsten Tage durch in sich eigene Kämpfe und Widerstreite. Sie fühlte sich unglücklich, matt und arm. Sie konnte mit ihrem Lose hadern, dann kam aber wieder die Ruhe. Er mußte sie ja auch lieb haben, sonst hätte er sie nicht geküßt, dort vor mehr als zwei Jahren. Und sie konnte wieder sinnen und träumen und weinen, oder eines der Kinder an sich drücken und herzen, so daß der kleine Wurm, der ihr gerade unter die Finger kam. aufjauchzte. Aber war es nicht der Findling, der diesen Ausbruch der Gefühle abbekam, dann konnte der kleine Bursch wild werden und schreien und eiser- süchtig sein. Er wollte die Küsse und er wollte verhätschelt sein. Wenn das alles auch einem anderen galt, was lag dem Findling daran? lFonsetzung folgt.) SleicKKeit/) Von Leo N. Tolstoi -f. Die Grundlage des menschlichen Lebens ist der Geist Gottes, ein und derselbe in allen Menschen. Deswegen müssen alle Menschen gleich sein. I. Das Falsche der Ungleichheit. Im Altertum glaubte man. es würden verschiedene Menschen, ounklcn und hellen Geblüts. Japheliten und Hamiten. geboren, die eils Herren, teils Knechre wären. Man glaubte an diese Einteilung, i>etl man sie alS von Gott herrührend ansah. Dieser rohe und chädliche Aberglaube existiert, wenn auch in anderer Form, bis auf den heutigen Tag. Man braucht nur das Leben christlicher Völker zu beobachten. vi« teils aus Leuten bestehen, die ihr ganzes Leben in ver- dumniender, mörderischer, für sie selbst nicht notwendiger Arbeit hinbringen, teils aus solchen, die von Müßiggang und allen mög- ichen Genüssen übersättigt sind— um über den schrecklichen Grad "on Ungleichheit zu staunen, bis zu welchem Menschen gelangt find, ote sich zum Christentum bekennen, und ganz besonder» über die tterlogenhejt einer Verkündnng von Gleichheit bei Lebens- bedingungen, die durch die allergrausamste, offenbare Ungleichheit Bestürzung erregen. ') Tolstoi , dessen Todestag sich am 20. November jährte, hat nocr i'n den letzten Lebenslagen an einem Werke: Der Lebens» weg gearbeitet, das in deutscher Sprache bisher nicht erschienen ist. Der Abschnitt Gleichheit wird unsere Leser interessieren, obwohl Tolstoi von anderen Gesichtspunkten ausgeht als der Sozialismus. Die Wo»c dieses wahren Christen würden zudem in bürgerlichen Blättern kaum eine Unterkunft finden. Eine der ältesten, tiefsten Religionen war die der Hindus. Der Grund, weshalb sie nicht Weltreligion geworden ist und nicht die Frucht getragen hat, die sie hätte tragen können, lag darin, daß fie die Menichen für ungleich erklärte und in Kasten einteilte. Menschen, die sich sür ungleich hallen, können keine wahre Religion haben. » Man könnte noch begreifen, daß die Menschen sich für ungleich halten, weil der eine stärker, größer, oder verständiger, tapferer, weiser, besser ist, als der andere. Gewöhnlich teilt man aber nicht aus diesem Grunde die Menschen in Klassen und hält die einen sür höher, die anderen für niedriger. Für ungleich hält man sie,' weil der eine Graf, der andere Bauer heißt, einer einen seinen Anzug, der andere Bastschuhe anhat. In unlerer Zeit begreift man schon, daß die Ungleichheit der Menschen ein Aberglaube ist, und verurteilt diesen Aberglauben innerlich. Die Leute aber, für die er vorteilhast ist, können sich nicht von ihm trennen, und die keinen Vorteil davon haben, wissen nicht, wi« sie den Aberglauben beseitigen. Wenn der Aberglaube der Ungleichbett nicht wäre, hätten die Menschen nie all die Schandtaten begehen können, die sie begangen haben und noch unaufhörlich nur deswegen begehen, weil fie nicht alle Menschen sür gleich halten. II. Alle Menschen sind Brüder. Dumm, wenn ein Mensch sich für besser hält als andere; noch dümmer, wenn ein ganzes Volk sich sür besser hält, als andere Völker. Dabei leben alle Völler, wenigstens die Mehrzahl derer. die ihnen angehören, in diesem schrecklichen, dummen, verderblichen Aberglauben. Juden, Griechen, Römern stand eS an, durch Mord nicht nur die Unabhängigkeit des eigenen Volkes zu verteidigen, sondern durch Mord auch andere Völker zu unlerjochetr, da man das eigene Volk sür das von Gott auserwählte, alle übrigen aber für Philister. Bar- baren hielt. Roch im Mittelalter, noch kürzlich. Ende vorigen Jahr» Hunderts konnte man so etwas glauben. Wir können es nicht mehr. Wer Sinn und Bedeutung des Lebens versteht, kann gar nicht anders, als seine Gleichheit und Brüderlichkeit mit- allen Zugehörigen nicht nur seines, sondern aller Völker sühlen. Bevor man Oesterreicher . Serbe, Türke, Chinese ist, ist man Mensch, d. h. ein vernünftiges, liebendes Wesen, dessen Ausgabe nur darin besteht, während der kurzen Frist, die es in dieser Welt zu leben hat, seine Bestimmung zu erfüllen. Diese aber ist ganz klar: alle Menschen lieben. Ein Kind begegnet anderen Kindern gleichviel welchen Stande?. Glaubens und Volkes stets mit demselben wohlwollenden freudigen Lächeln. Bevor Erwachsene aber, die doch verständiger alS Kinder sein müßten, mit anderen zusammenkommen, überlegen sie bereits, wes Standes. Glaubens, Volkes die Betreffenden sind und richten danach ihren Umgang Mit ihnen ein. Nicht umsonst hat Christus gesagt: Seid wie die Kinder. » Christus hat den Leuten mitgeteilt, daß ein Unterschied zwischen dem eigenen und fremden Völlern Betrug und schlecht ist. Der Christ, der das begriffen bat, kann kein Mißwollen gegen fremde Völker mehr hegen und Gewalttaten gegen sie nicht mehr damit rechtfertigen, daß diese Völker schlechter ieien als das eigene. Ein Christ muß wissen, daß die Absonderung von fremden Völkern schlecht und eine Versuchung zum Bösen ist: er kann deshalb nicht mehr wie früher bewußt dieser Versuchung nachgeben. Ein Christ muß wiffen, daß sein Wohl nicht nur mit dem d?S eigeneii, sondern mit dem aller Völker zusammenhängt; er weiß. daß durch die Landcsgrenze und Gesetze über seine Zugehörigkeit zu dteiem oder jenem Voll seine Einheit mit allen Menschen der Welt keine Beeinträchtigung erleiden kann; weiß, daß alle Menschen überall Brüder und deswegen alle gleich sind. IH. Alle Menschen sind gleich. Gleichheit ist das Zugeständnis, daß alle Menschen dasselbe Recht auf alle natürlichen Güter der ganzen Welt, dasselbe Recht auf alle aus dem Gemeinleben hervorgehenden Güter, dasselbe Recht auf die Verehrung der menschlichen Persönlichkeit haben. » DaS wahre.Ich" der Menschen ist geistig. Und dieses„Ich" ist in allen dasselbe. Wie können also die Menschen ungleich sein. Zu Christus kanten einst seine Mutter und seine Brüder. Sie konnten nicht zu ihm durchdringen, da viele Leute um Christus ver- sammelt waren. Einer den Anwesenden erkannte fie, trat zu Jesus
Ausgabe
28 (24.11.1911) 228
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten