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Da fagte der Fremde leise:

Schmidts haften an der Oberfläche. Es bedarf feiner Bemühung, Als meine Frau und ich, ehe fie starb, besprachen, wohin nachzuweisen, daß vieles stilistisch gebessert worden ist. Der Urmeister wir wollten, wenn sie gesundet, da meinte fie, hierher, da wir früher einmal hier durchgekommen waren. Und als sie ver­starb, da galt ihr Wunsch für mich gleich. Darum bin ich hier." " Thr seid ein absonderlicher Mann", sagte da der Alten­berger Herr.

Und nach eine Weile fragte er den Fremden, ob er nicht Bust hätte, sich eines Knaben, arm, Findling und aufgeweckt, anzunehmen, das würde ihn zerstreuen und dem Jungen gut tun.

ist ja nur ein erster Entwurf, noch nicht für den Druck gereift. hemmungslos herausgesprudelt war, ist dann einheitlich gestrafft, Manches flirrende Gleichnis, das in der Gärung des Schaffens geiles Beiwert anmutig streng gebändigt worden. Wo dem Schöpfer bie Liebe zur Gestalt geblieben war, so besonders bei der Gestalt Philinens, ist das Massige des ersten Entwurfs strömend aufgelockert worden, Beschreibung in Bewegung, Stedbriefartiges in Handlung, Beschauliches in Schauendes umgewandelt und befreit worden. Auch überall, wo Goethe in Versen gebessert, ward vollerer Klang in reinerem Rhythmus gewonnen. Aber all dies trifft nicht den inneren Stil des Werkes. Der innere Stil ist, von Sendung zu Lehrjahren, wenn nicht Abstieg,

Da sagte der Fremde nach tiefem Sinnen: Bringt mir den Buben, verlassene Menschen gehören zu- so doch Abweg. fammen!" ( Fortseßung folgt.)

Der Urmeifter.

Boll freudigen Stolzes, dem gesamten deutschen   Volke Heute zurückgeben zu fönnen, was sein größter Dichter Schweizer   Freunden einst ehrenvoll anvertraut, widmet diese erste Ausgabe des Ur- Meister die Universität Vern   der Universität Berlin   bei der Feier ihres hundertjährigen Bestehens und zugleich der Herausgeber, ein dankbarer Sohn und Doktor der alma mater Berolinensis, dem Rector  Magnificus Erich Schmidt  , als seinem verehrten Lehrer und dem Herausgeber des Ur- Faust. Das gesamte deutsche   Volk, das dieses mächtige Gedicht in Prosa auf dem ersten Blatte eines auferstandenen Werkes von Goethe ge­nießen durfte, bestand aus achthundert und etlichen numerierten Sterblichen, die so vermögend oder so leichtsinnig waren, 38 Mark für einen Oktavband von rund 400 Seiten herzugeben. Um diesen Breis erhielten sie allerdings auch die Versicherung, daß sich jenem Hymnus die Erben der Goetheichen Familie", das Goethe- Archiv und die Cottasche Buchhandlung anschließen.

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Einige Wochen später kam dann mit einer Widmung an die Abschreiberin, der wir die Erhaltung des Werkes verdanken Barbara Schnetters zum Gedächtnis" und einer mittelmäßigen Philologen- Einleitung eine Voltsausgabe heraus; und die wissen­schaftliche Edition der Weimarer   Sophienausgabe hat auch nicht das Licht der numerierten Literaturlebewelt erblickt.

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Ein paar scheinbare Kleinigkeiten, die doch ins Junere der wachsenden Stilentfremdung weisen. Wenn der Wilhelm des Ur­meister die fuppelnde Vertraute derb und recht ein Luder" nennt, der Held der Lehrjahre aber eine Sybille", so ist das die Ver irrung in jene umschreibende, gebildete Zimperlichkeit, die das Erz­laster jeder Kunst ist. Das Nähmädchen kann sich bei dem Luder recht viel und vor allem das Richtige denken, bei der Sybille sieht es nichts wie einen schwarzen Fleck.

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Oder: Wenn ich einen Augenblick es zu gestehen zauderte, fo war es die Furcht, daß mein Bekenntnis für ihn schlimme Folgen baben möchte." So spricht im Urmeister die durchgebrannte Geliebte zu dem protokollierenden Aktuarius, ganz mündlich, ohne peine liche Rücksicht auf grammatikalische Unzweideutigkeit. In den Lehr­jahren" redet das Mädchen schon selbst protokollreif: Wenn ich einen Augenblic es zu gestehen zauderte, so war die Furcht, daß mein Bekennen für meinen Geliebten schlimme Folgen haben fönnte, allein daran Ursach.

Im Urmeister finden sich die Leiden Wilhelms und Mariannens Er war schlimmer dran, als der einem Schatten nachläuft, denn et

bielt in seinen Armen, er berührte mit seinen Lippen, was er nicht genießen, woran er sich nicht fättigen sollte. Marianne, die seine Qual nicht verkannte, hätte wohl schon in manchen Augenblicken das Glück. das er so sehnlich wünschte, mit ihm geteilt, fie fühlte in sich, daß er weit mehr wert war, als sie ihm geben fonnte, aber feine Berwirrung und seine Liebe verdunkelten ihm seine Vorteile, und ihre Stille, ihre Unruhe, ihre Tränen, ihre fliehende Umarmungen warfen ihn außer sich lieblichste Töne der ergebenden Liebe in überdrängtem Schmerz zu ihren Füßen, bis sie beide zulegt in dämmernden Augenblicken des Taumels fich in den Freuden der Liebe verloren, die das Schicksal den Menschenfindern aufipart, um fie für so viel Druck und Leiden, Mangel und Kummer, Harren, Träumen, Hoffen und Sehnen einigermaßen zu entschädigen." Aus diesem Brautnachtgewitter lastende Schwile, brausende

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wird in den Lehrjahren ein Wetterbericht über ein Ge­ziehend witter:" Ber   wagte hier zu beschreiben, wem geziemt es, die Seligs feit zweier Liebenden auszusprechen! Die Alte ging murrend bei Seite; wir entfernen uns mit ihr und lassen die Glücklichen allein." In dieser Stiländerung wandelt sich die Kunst selbst in ihrem Verhältnis zum Leben.

Vor hundert Jahren hätte ein neues Wert Goethes monatelang der Presse Stoff zu unerschöpflichen tiefsinnigen Betrachtungen ge­geben. Unsere Zeit ist im tiefften Grunde aller Kunst Freund, für die wir gar keine Muße finden, und das Erscheinen des Urmeisters war nichts wie zuerst eine widerliche kapitalistische Spekulation und dann eine glüdliche überhaftete Beitungssensation. Heute, nach Entladung und müdielige Berubigung in wenigen Säßen vorüber­wenigen Wochen, ist der Urmeister schon vergessen und wird seine weitere Existenz hinfort wesentlich in germanistischen Seminarien fristen. Gleichwohl regt die Entdeckung des ursprünglichen Entwurfs von Wilhelm Meisters Lehrjahren ernste Gedanken über den Weg der deutschen Literatur an. Daß nun die bisher fünstlerisch leeren ersten zehn weimarischen Jahre durch eine bedeutende Schöpfung ausgefüllt sind, ist eine biographische Tatsache zweiten Ranges. Auch nach dem Urmeister wird die schönste Dichtung Goethes in diesem Jahrzehnt die Brieflyrik sein, die Charlotte v. Stein   löste. Aber die Entwickelung, die jest zwischen dem Urmeister und den Lehrjahren flarliegt, läßt nun das Problem durchschauen, wie es fam, daß die Klassische deutsche Dichtung immer mehr sich dem Volksboden ent­fremdete, in dem sie wurzelte, warum die gelehrte Literatur, von der uns die Klassiker doch erst erlösten, schließlich doch, wenn auch in unendlich höherer Sphäre zu sich zurückbehielt; wenn die deutschen Nähmädchen Vulpius und nicht Goethe lafen, durch Iffland und nicht durch die natürliche Tochter" sich rühren ließen, so waren am Ende doch nicht die Nähmädchen an solcher Verirrung allein schuld. Die Trennung zwischen dem einsam und exklusiv filtrierten Kunstverstand und dem funstlosen, aber doch kunstbegehrlichen Bolts­bewußtsein war zu schroff und weit. Und von beiden Seiten geschah nichts, um sich gegenseitig zu erziehen.

Der Urmeister nun war auf dem Wege zur großen Volkskunst, die Lehrjahre lenfen wieder ab.

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Wie sich die Sprache dem Unbefangen- Vollsmäßigen entfernt, so weicht die Kunst vor dem Leben zurück. Der Urmeister ist ein reiches Beitgebilde, in dem sich wirkliche Menschen tummeln; in den Lehrjahren werden Zeit und Menschen ins Symbolische filtriert. Das Zufällige ist das Ewige, im Beiwerk des Geschehens spiegelt sich das Werk der Geschichte. Die natürliche Freude am stroßenden Geschehen, an den Regungen der Seele wie an den Bewegungen der Außen­welt, treibt die erzählende Kunst. Dieses unendliche, das Kleinste wie das Größte umfassende Behagen an der Fülle des Wirklichen ist die echte epische Stimmung.

Im Urmeister entfaltet sich in der natürlichen Zeitfolge das Leben des Helden, von den Kindheitserinnerungen an. Die Lehrjahre fezzen gleich mit dem ersten Liebesabenteuer ein und Wilhelm erzählt, fehr zur Unzeit, der nach Umarmungen schmachtenden Geliebten Un­endliches von der Kindheit. In Schnißlers Reigen" werden solche von der Sache ablenkenden Gespräche anmutig physiologisch motiviert. der Liebhaber schwatt bon Stendhal  , weil Worte Handeln ersetzen. Aber in den Lehrjahren ist es lediglich ein fompositorischer Einfall des Dichters, der ans Lager der ersten überschäumenden Liebe die alte Buppenbühne rückt; so wird die Leidenschaft ironisch verflüchtigt. Solche komponierenden Eingriffe zerreißen nicht selten die Darstellung der Lehrjahre. Das fünfte Buch schließt mit dem Mignon- Liede: Heißg' mich nicht reden, heiß' mich schweigen". Die Mitteilung des Liedes wird hier mit der wunderlich steifen und etwas ratfelhaften Einleitung ausgestaltet: und so laffen wir unseren Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einige mal rezitiert hatte, und das wir früher mitzuteilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert wurden." Diese Ent schuldigung wird jetzt erklärlich, wenn man aus dem Urmeister So betont nachdrücklich der höchft ordentliche Berliner   Literatur- erfieht, daß Mignon an viel früherer Stelle das Lied vorträgt, und professor Erich Schmidt   und weiß es besser, als Goethe selbst, der zwar im Fluffe der Handlung, die durch die Verse weitergeführt bei der Ernennung des Meister das Gefühl nicht los war, unter wird, nicht als ein willfürlich aufgelegtes Schmuckstück, das ver­äußerem Zwang unluftig, einstiges, fremdgewordenes Leben recht geßlich vergraben und plöglich zum wirksamen Aftschluß aus den nach der Regel fünftelnd zu zerstücken. Die Stielvergleiche Erich Papieren hervorgeframt wird.

Der in der 38 Mark- Widmung angesungene Berliner   Literatur unternehmer verteidigt sehr heftig die Ehre der alten Lehrjahre gegen die junge theokratische Sendung. Er sagt, daß die mehrfach laut gewordene Behauptung, hier erst solle die Welt statt eines fühlen Kunstproduktes den natürlichen. frischen, echten Meister empfangen, felbstverständlich ein Wahn ist, erklärbar aus der Neigung, Unfertiges, Aufgefnöpftes, Persönlicheres mit dem Be­hagen hinzunehmen, als trete der Dichter uns in unmittelbarer Er­scheinung nabe. Vielmehr fann nicht nachdrücklich genug betont werden, es lasse sich kaum anderswo in solchem Grad und in solcher Fülle, sowohl im großen als im fleinen ermessen, wie ein teils schon erstaunlich fertiges, teils noch erstaunlicher unreifes Wert den überlegensten Kunstverstand zur Vollendung gediehen ist."