Auf dem Dache jedoch, hinter dem frisch mit Lehm beivorfenenSchornstein, lag unter einem Schafpelz ein Mann. Chadschi-Murat stieß den auf dem Dache Liegenden mit dem Schaft seinerReitpeitsche an und schnalzte mit der Zunge. Unter dem Schaf-pelz hervor kam ein alter Mann in einer Nachtmütze und einemfettglänzenden, abgetragenen Beschmet zum Vorschein. Die Wimper-losen Augen des Alten waren rot und entzündet, und um sie zuöffnen, mußte er mehrmals heftig blinzeln. Chadschi-Muratmurmelte den üblichen Gruß:„Salem alettum!" und enthülltefein Geficht.„Aleilum saleml" murmelte der Alte lächelnd mitdem zahnlosen Munde, nachdem er Chadschi-Murat erkannt und fichauf den mageren Beinen emporgerichtet hatte. Dann zog er nichtohne Mühe seine neben dem Schornstein stehenden Pantofsel mitden Holzabsätzen an, steckte, ohne sich zu beeilen, die Arme durchdie Bermel seines ruppigen, nicht überzogenen Pelzes und kletterteauf der an das Dach gelehnten Leiter, mit dem Gesäß voran, vomDache hinunter. Während er sich anzog und hinabkletterte, bewegteer beständig den auf einem dünnen, runzeligen, wettergebräuntenHalse sitzenden Kopf hin und her und schmatzte mit dem zahnlosenMunde. Als er auf der Erde war, nahm er dienstfertig Chadschi-Murats Pferd am Zügel und wollte ihm den rechten Steigbügelhalten. Doch der gewandte, stämmige Muride, der mit Chadschi-Murat gekommen war, sprang rasch vom Pferde, schob den Altenzur Seite und faßte statt seiner den Bügel. Chadschi-Murat stiegvom Pferd« und trat leicht hinkend unter das Schutzdach. Aus derTür der Hütte kam ihm flink ein etwa fünfzehnjähriger Knabeentgegen, der mit seinen schwarzen, an reife Glanzkirschen er-innernden Augen voll Erstaunen aus die Ankömmlinge sah.„Geh nach der Moschee und ruf den Vater," befahl ihm derAlte. Dann ging er Chadschi-Murat voran und öffnete ihm dieknarrende Tür der Hütte.Während Chadschi-Murat die Schwelle überschritt, kam ausder nach dem Innern der Hütte führenden Tür eine nicht mehrjunge, schlanke, hagere Frau in einem roten Bcschmet über demgelben Hemd und blauen Pluderhosen mit einigen Kissen heraus.„Dein Eingang sei gesegnet," sagte sie, verneigte sich tief undbereitete an der Borderwand für den Gast einen Sitz aus denKissen.„Langes Leben sei Deinen Söhnen beschieden," antworteteChadschi-Murat, nahm den Filzmantel, die Flinte und den Säbelab und übergab alles dem Alten. Der Alte hing die Büchse undden Säbel vorsichtig an ein paar Nägel neben die an der Wandhängenden Waffen des Hausherrn, zwischen zwei große Becken, dieon der glatt beworfenen und sauber geweißten Wand glänzten.Chadschi-Murat schob seine über den Rücken gehängte Pistole zurecht,schritt auf die Kissen zu, schlug die Schöße der Tscherkeska(langerTscherkessenröck) zurück und setzte sich auf die Kissen. Der Alte hockteneben ihm auf seine nackten Fersen nieder, schloß die Augen undhob die Arme mit den ausgestreckten Händen empor. Chadschi-Murat tat das gleiche; dann strichen beide, ein Gebet hersagend.sich mit den Händen über das Gesicht und vereinigten sie am Endedes Bartes.„Ne chabar?" fragte Chadschi-Murat den Alten— das heißtsoviel wie: Was gibt's Neues?„Chabar iok— gar nichts," antwortete der Alte, während ermit seinen roten, leblosen Augen nicht in Chadschi-Mnrats Gesicht,sondern auf seine Brust sah.„Ich lebe draußen im Biencngartenund bin heute nur hergekommen, um einmal nach meinem Sohne zusehen. Er weiß mehr."(Fortsetzung folgt.)I�atunnllenscKaftlicKe Ocberflcbt.(Radium und Biologie.)Unter allen Entdeckungen der Neuzeit hat kaum eine andereauf so vielen Gebieten revolutionierend gewirkt und zahlreichefür unumstößlich gehaltene Anschauungen über den Haufen ge-warfen, wie die des Radiums und der von dieser merkwürdigenSubstanz ausgehenden Strahlen. Ich brauche da, um wenigstenseinen Fall herauszugreifen, nur an die durch die neuere Radium-forschung festgestellte Möglichkeit einer Umwandlung der Elementezu erinnern. Nach der heutigen Auffassung ist ja Radium daserste Beispiel eines im Zerfall begriffenen chemischen Elementes.Der alte Traum der Alchimisten scheint dadurch aus dem Reicheunwissenschaftlicher Spekulation durchaus in das Gebiet deS Möglichen gerückt zu werden. Wenn Radium sich in Helium unddieses weiter sich in Polonium und Blei zu verwandeln vermag,warum sollte nicht auch die Herstellung von Gold möglich sein?ES ist dies ein schönes Beispiel dafür, wie bisweilen durch Be-kanntwcrden einer neuen Tatsache alte für felscnficher gehalteneGrundanschauungcn einer völligen Revision unterzogen werdenmüssen. Doch nicht nur auf die anorganischen Wissenschaften er-streckte sich der Einfluß dieser Entdeckung, auch auf dem Gebieteder Biologie hat die Radiumforschung zahlreiche wichtige Ergeb-nisse gezeitigt. Wir stehen hier freilich erst am Anfang der For-schung und niemand vermag zu sagen, welche Ueberraschungcn wirhier in den kommenden Jahren noch zu erwarten haben dürfen.Der erste allerdings unfreiwillige Versuch über die Ein-Wirkung der von dem Radium ausgehenden Strahlen auf denlebenden Organismus geht auf den Entdecker oicscr merkwürdigenSubstanz, den Polen Curie und den um die Radiumforschunghochverdienten französischen Forscher Bequerel zurück. Nochunvertraut mit der starken physiologischen Wirkung des Radiumstrug Bequerel eine größere Meng« eines starken Radium.Präparates wohlverwahrt in der Brusttasche seines Rockes einigeStunden lang mit sich herum. Etwa zehn Tage später bemerkteder Forscher auf der unter der betreffenden Rocktasche gelegenenHautstelle eine leichte Rötung, die von Tag zu Tag sich stärkerentzündete. Allmählich entwickelte sich daraus ein tiefgreifendesbösartiges Geschwür, das erst nach 49 Tagen, trotz sorgfältiger Be-Handlung, zur Heilung gebracht werden konnte.Eine ganze Anzahl ähnlicher freiwilliger und unfreiwilligerVersuche mehrten fich, die einwandfrei zeigten, daß in der Tatdurch die von Radiumpräparaten ausgesandten Strahlen derartigechronisch verlaufende Entzündungen mit oft recht bösartigen,Folgen hervorgerufen werden können. Ganz charakteristisch istes dabei, daß die schädlichen Folgen sich immer erst nach einerlängeren Latenzzeit, d. h. erst mehrere Tage nach erfolgter Be-strahlung, geltend machen.Angeregt durch diese Erfahrung wurde jetzt von zahlreichenSeiten, sowohl von Medizinern wie Biologen, ich nenne nur Namenwie S e l d i n. H e i n i ck e und Thi e s, A u b u r t i n, Guyot,London, Schaper, Levy, O. u. G. Hertwig u. a., dieEinwirkung der Radiumftrahlen auf den tierischen und mensch-lichen Körper sowie auf pflanzliche Organismen einer sorgfältigenund eingehenden Untersuchung unterzogen. Bemerken möchte ichhier nur ganz kurz, daß die physiologische Wirkung der von demRadium ausgehenden sog. Bequerel st rahlen sehr änhliche,nur noch intensivere Erscheinungen wie die bekannten Röntgen-strahlen zeitigt. Gleich diesen rufen sie z. B. auch im Auge eineLichtempfindung hervor. Dabei ist es nicht einmal nötig, denradioaktiven Stoff in unmittelbarer Näh« des Auges zu bringen,es genügt schon, daß man das betreffende Präparat an den Hinter-köpf der Versuchsperson hält. Voraussetzung für das Gelingendes Experiments ist jedoch, daß das Auge nicht vorher schon durchLichteindrücke ermüdet ist.Wie bereits längere Zeit bekannt ist, werden Bakteriendurch die Radiumstrahlen abgetötet. Wie ferner D i ck s e n beikeimendem Kressesamen festzustellen vermochte, wird das Wachs-tum der Pflanzen in der Nähe des Radiumpräparates gehemmt.Vor der Keimung bestrahlte Samenkörner zeigen deutlich eineverlangsamte Entwicklung und sterben entweder bald ab oderliefern doch nur schwächliche und verkümmerte Pflänzchen. Beilänger andauernder und intensiverer Bestrahlung kann die Keim-fähigkeit sogar ganz verloren gehen. Auf ausgelvachsene Pflanzen-teile dagegen konnte ein wahrnehmbarer Einfluß nicht beobachtetwerden.Weit intensiver als bei pflanzlichen Organismen zeigt sich derEinfluß der Radiumftrahlen auf tierische Zellen und Gewebe,namentlich auf junge, noch in der Entwicklung begriffene Organismen. Es ist überhaupt beuicrkenswert, daß sich die ver-schiedenen Gcwebsarten außerordentlich verschieden verhalten. Sosind namentlich die tierischen Keimzellen, Eier sowohl wieSpermatozeen, das Nervensystem, Blut, Lymphe unddie lynip Heiden Organe wie Milz, Knochenmarkusw. sehr empfindlich. Bei einem von Dan Ys z angestellten Ver-suche wurde während einer Stunde längs dcs Rückenmarkes einerMaus ein intensives Radiumpräparat hin- und herbewegt. Schonnach einigen Tagen machten sich Lähmungserscheinungen bemerkbar, und nach kurzer Zeit starben die Tiere plötzlich ab. Zu ganzgleichen Ergebnissen führten zeihlreiche von London und an-deren Forschern angestellte Kontrollversuche.Wie Versuche verschiedener anderer Forscher an Ratten undKaninchen zeigten, vermag man durch Bestrahlung der Keimdrüsen,sowohl bei männlichen wie bei weiblichen Individuen, vollkommeneSterilität(Unfruchtbarkeit) zu erzeugen. Der Geschlechtstriebbleibt dabei ungeschwächt bestehen. Die mikroskopische Untersuchungergab, daß oft schon nach einer sechsstündigen Bestrahlung die samen-bereitenden Zellen von Grund aus zerstört waren, währeird dasumgebende Bindegewebe usw. unbeschädigt blieb. Da die einmalzugrunde gegangenen Samenbildringszellen nicht wieder ersetzt wer-den können, so ist die durch die Strahlung hervorgerufene Unfrucht-barkeit eine dauernde. In neuester Zeit hat Oskar Hertwig denEinfluß der Radinmstrahlcn auf tierische Keimzellen in systemati-scher und eingehender Weise untersucht. Als Material dienten ihmhauptsächlich die Eier und Samenfäden von Seeigeln und Fröschen.Die Versuche wurden in Serien angestellt, und zwar in der Weise,daß in einer Serie normale Eier mit bestrahlen Samenfäden be-fruchtet, in einer anderen Serie normale Samenfäden mit bestrahl-ten Eiern zusammengebracht wurden, oder endlich das bereits be-fruchtete Si wurde in verschiedenen Entwickelungsstadien den Ein-Wirkungen des Radiumpräparats ausgesetzt. Dabei ergab sich, daßdie bestrahlten Keimzellen sich zu ganz verkümmerten Larven ent-wickeln oder bereits auf einem sehr frühen Entwickelungsstadiunrabstarben. Die wachstumsverzögcrnde und schädigende Wirkungdes Radium? machte sich um so stärker geltend, je länger die Dauerder Bestrahlung gewesen und je stärker das verwendete Präparatwar. Doch auch eine nur fünf Minuten lange Bestrahlung hattezur Folge, daß sich aus dem befruchteten Ei Zwexglarven entwickelten, die sich nicht oder nur sehr unvollkommen bewegten, meist aufdem Baden lagen und auch auf Reize hin nur schwach reagierten.Eine Bestrahlung der männlichen Samenfäden schien ohne jedeWirkung zu bleiben. Die Spermatozoen zeigten keinerlei Beränd�i