wie ein Sauger. Und der kleine Lasse fühlte sehr wohl, daß es verpflichtete, wenn die Augen auf einem ruhten. Er war schon ein ganz kleiner Mann mit dem Verlangen, fich bemerkbar zu machen, und so ging er denn hin und blies fich auf. rollte den Körper wie ein Clown und spielte den starken Mann mit dem Schemel, während die Schwester mit den Augen folgte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Er fand, sie hätte wohl ein wenig Beifall äußern könnetf, wenn er sich doch so viel Mühe gab! Eines Tages blies er eine Papiertüte auf und zerknallte sie vor ihrem Gesicht. Das half. Schwester vergaß ihre Unerschütterlichkeit, zuckte in die Höhe und fing an zu brüllen. Es setzte Prügel dafür, aber dafür hatte er sie nun. Es zuckte schon in ihrem kleinen Gesicht, wenn er nur hinkam, um ihr irgend etwas zu zeigen: oft briillte sie schon auf, noch bevor seine Kunststücke losgingen.„Geh weg von Schwester, Lasse-Frederik!" sagte die Mutter.„Du erschreckst sie ja!" Aber nur einen Monat später war es wieder ganz anders. Da gab es niemand, der Klein-Lasscs Unternehmungen besser verstand als Schwester. Sie zwitscherte wie ein Star, wenn er seinen kleinen drallen Körper nur bewegte oder einen Laut von sich gab. Ellens versteinerter Ausdruck war verschwunden jetzt, wo sie wieder etwas hatte, womit sie wirken konnte. Die Kälte hatte ihr allerlei von ihren Ansprüchen abgewöhnt, andere waren durch die Kinder befriedigt. Die beiden Kleinen be- schäftigten sie sehr: sie entbehrte Pelle nicht mehr. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß er beständig von Hause fort war, und ihn auf ihre eigene Weise in ihren Gedanken aufgenommen. Während der Arbeit ging sie umher und plauderte inwendig mit ihm: es war ihr eine Freude, es ihm gemütlich zu niachen, während der kurzen Zeit, wo er zu Hause war. (Fortsetzung folgt.) ■tm \ Der€od des Hlten. Von Charles Louis Philippe . Aus dem Französischen übersetzt von Wilh. Südcl. Folgendes trug sich zu: Eines Tages merkte Mutter Turpin, daß sie gar keine Freude mehr an ihrer Arbeit hatte. Ein Gedanke verfolgte sie, den sie nicht wieder loswerden konnte: der, ins Bett zu gehen. Sie legte sich nieder, und als sie sich erst einmal lang ausgestreckt hatte und so recht die Ruhe genoß, fühlte sie, daß sie niemals wieder für all das Interesse haben würde, was bisher den Inhalt ihres Lebens gebildet hatte. Sie täuschte sich nicht. Es dünkte sie sogar, daß es etwas gab, was ihr noch mehr Ruhe ver- schaffen könnte als Schlafen. Das Atmen, ja nur die zum Atem» holen nötigen Bewegungen, wurden ihr außerordentlich schwer. Sie konnte keine Luft mehr bekommen und starb im Alter von vierundsiebzig Jahren. Sicher wußte Vater Turpin, daß jeder einmal sterben muß; aber er wußte nicht, daß gerade dieser Tag der Todestag seiner Frau sein würde. Er war vor Staunen ganz dumm im Kopf. Er sagte:„Niemals hätte ich geglaubt, daß der Tag so enden würde!" Selbst als es ihm zur unerschütterlichen Gewißheit geworden. daß das traurige Ereignis eingetreten war, vermochte er fich von der Bedeutung, die der Heimgang seiner Frau für ihn haben würde, keine Rechenschaft zu geben. Sie war tot. Er beklagte sie von ganzem Herzen, weil es ja noch trauriger ist, tot als krank zu sein. Alle Nachbarn waren herbeigeeilt. Es gewährte ihm eine gc- wisse Befriedigung, daß sie sich trotz der späten Stunde noch diese Ilmstände gemacht hatten. Zuerst glaubte er. daß es ihnen gelingen würde, die Sorgen zu lindern, die der Tod eines geliebten Menschen ja stets zur Folge hat. Er sagte: „Was seid Ihr doch für gute Menschenl" " Der Gedanke, daß diese Leute besser ivarcn, als er bis dahin geglaubt halle, tat ihm sehr wohl. In jeder Weise sorgte man für ihn. Die Frauen meinten: „Vater Turpin, Ihr habt den ganzen Tag gearbeitet und habt nun einen so schweren Schlag erlitten. Ihr müßt Erich Ruhe gönnen, in Eurem Alter. Wir werden die Nacht auch ohne Euch aufbleiben." Wenn es nur nach ihm gegangen wäre, so würde er sich neben seiner Frau schlafen gelegt haben. Als sie lebte, hatte er keine Angst vor ihr gehabt. Nun sie tot ivar, würde sie ihm wohl auch keine Furcht einflößen. Aber es schickt sich nicht, in dem Bett einer Toten zu ruhen. Uebrigens war da noch ein anderes Bett im Zimmer: das, in dem sein Enkel zu schlafen pflegte, wenn er die Ferien bei den Großeltern verbrachte. Es war sehr schmal und unglücklicherweise auch nicht lang, weil der Kleine erst zehn Jahre alt war. Doch Ke Nachbarsfrauen erklärten: „In diesem Bett seid Ihr noch besser aufgehoben als auf einem Stuhl." Vater Turpin konnte seine Beine nicht ausstrecken, mit dem Rücken stieß er gegen die Wand; sicherlich würde er sich steife Glieder holen. Aber ein Gedanke kam ihm, der ihn mit einer Art Frohgefühl all die Beschwerden dieser unglücklichen Lage ertragen ließ. Er sagte: „Die arme Frau— da Hab' ich's doch noch besser in meinem kleinem Bett, als sie in ihrem großen!" Ter folgende Tag verging ganz" leidlich. Man hatte tele- graphiert. Zehn Uhr morgens kamen der Schwiegersohn und die Tockter nebst ihrem Jungen. Der Schwager und die Schwester der Verstorbenen trafen gegen elf ein. Wenigstens seit zehn Jahren hatte Vater Turpin sie nicht gesehen. Die Frau war sehr gealtert. Die Männer besprachen dann alles Nähere wegen der Beerdi- gung. Folgenden Tags, um elf Uhr, sollte sie stattfinden. Vater Turpin wurde das mitgeteilt. Man aß zwischendurch. Besuche kamen— die Stunden flössen hin. Abens atz man nochmals. Der Tag verging. Doch der folgende Tag war recht merkwürdig. Frühmorgens legte man den Leichnam in den Sarg. Nachdem man den Deckel festgeschraubt hatte, mußte sich Vater Turpin sagen, daß«r seine Frau nun niemals wiedersehen würde. Er tröstete sich zuerst mit dem Gedanken, daß sie im sarge läge und daß dieser noch da wäre. Er konnte ihn immer sehen. Er ließ auch während der Beerdigung seine Blicke nicht von ihm. Die Träger gingen langsam— das war ihm nur lieb. Die Feierlichkeit in der Kirche dauerte eine ganze Weile. Zum ersten Mal in seinem Leben langweilte sich Vater Turpin nicht beim An- hören der lateinischen Gesänge. Der Sarg nahm, nachdem er die Kirche verlassen hatte, die Richtung nach dem Friedhof. Er war unter einem schwarzen Tuch verborgen, aber er war doch da. Als man ihn am Rand des Grabes niedergesetzt hatte, war er noch immer nicht verschwunden. Zwei Minuten später sah ihn dann Vater Turpin in der Gruft; doch als es den Heimweg anzutreten galt, hatte er die Empfindung, daß jeder Schritt vorwärts eine Feigheit bedeute: er hätte sich nicht von diesem Sarge trennen dürfen. Erst am Morgen des folgenden Tages, als er sich ganz allein in seinem Hause befand, begriff Vater Turpin recht, daß seine Frau gestorben war. Das geschah nicht, wie man wohl denken könnte, als er sich selbst seine Suppe machen mutzte. Nein. Er setzte sie aufs Feuer, ließ sie kochen und goß sie über die Brot- schnitten; das machte nicht viel Arbeit. Es geschah in dem Augen- blick, als er sie essen wollte. Er war schon, nach alter Gewohnheit, im Begriff, den Löffel zum Munde zu führen. Da hielt er Plötz- lich inne. Ja, es war merkwürdig: er fand nicht den Mut zu essen. Hatte er denn keinen Appetit? Ihm schien es doch, daß er hungrig sei. Doch irgendwie mußte es mit ihm hapern— es war ihm nicht möglich, sich zum Essen zu entschließen. Er versuchte, um sich zu zerstreuen, auf seinem Felde zu ar- bciten. Mein Gott, das Feld war nicht weit: bald war er, ohne sick irgendwie zu beeilen, dort. Er wollte Kartoffeln pflanzen und sich auch gleich an die Arbeit machen. Doch plötzlich, wie er sie an- faßte, befühlte und zwischen seinen Fingern hin und her rollen ließ, wußte er gar nicht, was sich da in seiner Hand bewegte. Waren das denn Kartoffeln oder Kieselsteine? Jedenfalls konnte er zwischen ihnen keinen Unterschied machen. Eins war ihm genau so gleichgültig wie das andere. Er ließ sie wieder hinfallen, doch erst eine ganze Weile später merkte er, daß er keine Kartoffeln pflanzte: hockxnifgcrichtet stand er in seinem Felde. Gewiß betrachtete er etwas, er fragte sich vergebens: „Na, was sehe ich denn da nur immer an?" Ihm war es, als sei in seiner Brust ein großes Loch.. Wächst einem vielleicht, wenn man lange mit einem Menschen zusammen- gelebt hat, irgend etwas im Körper? Und gebt das wieder weg, wenn dieser fortgeht? Sicherlich hatte er am Morgen nichts esse» können, weil in seinem Magen ein Loch war. Auch mittags aß er nichts. Als er in seinem Stuhl saß, breitete er die Beine auseinander, beugte den Kopf vornüber und stützte seine Ellbogen auf die Knie. Diese Art zu sitzen behagte ihm. Er betrachtete den Raum zwischen seinen beiden Füßen; daß war sehr wohltuend, weil er so nichts sah und nichts ihn von den Gedanken, die ihn durch den Kopf gingen, ablenken konnte. Er war so, wie man sich wohl die Narren denkt. Ihm schien es, daß Mutter Turpin zwischen seinen Füßen läge. Er beugte sich noch weiter vor, um näher bei ihr zu sein. Er betrachtete sie, eine Unterhaltung begann zwischen ihnen, ein Aus- tausch von Erinnerungen und etwas noch Innigeres: das Band, das sie bei Lebzeiten zusammengehalten hatte, vereinigte sie von neuem. Es war ein Zustand tiefsten Verbundenscins. Um nichts in der Welt hätte Vater Turpin seine Stellung geändert. Die Nachbarinnen, die eS beunruhigte, ihn nirgend zu sehen, suchten ihn schließlich in seinem Hause auf. Doch alles, was-sie anstellten, war vergeblich. Sie mochten noch so viel aus ihn ein» reden. Er wollte sich nicht einmal aufrichten. Er sagte: „Es ist unmöglich; es ist da etwas, das mir den Kopf heruntev» zieht."
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29 (13.3.1912) 51
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