Wenn er sich noch ihr inangelndes Verständnis damit 1 hätte erklären können, daß sie unfruchtbar und selbstsüchtig war. Einfach und unzusammengesetzt war sie in seinen Augen immer gewesen, und doch war ihr Wesen ihm beständig ein Rätsel! Sie war nicht übertrieben mildtätig und mit- fühlend anderen gegenüber, das war wahr: aber sie forderte auch nichts für ihren eigenen Mund, für ihn und die Kinder dachte sie alle ihre Gedanken. Er mußte zugeben, daß sie alles rücksichtslos für ihn geopfert hatte, das Heim, die ganze Welt, und daß sie ein Recht hatte, etwas dafür wieder zu fordern. Auch war sie unverändert die gleiche. Was sie selbst an- betraf, war ihr gleichgültig, wenn nur er und die Kinder etwas hatten, das genügte ihr: sie brauchte selbst so wenig, schien davon satt zu werden, wenn sie sie essen sah. Pelle mußte sich oft darüber wundern, daß sie ihr gesundes Aus- sehen bewahrte, obwohl die Nahrung, die sie zu sich nahm. so schlecht war. Sie konnte sich ja vielleicht im geheimen pflegen, aber den Gedanken verjagte er beschämt wieder. Es war ihr immer so völlig gleichgültig gewesen, was sie: sie achtete nicht darauf, woraus es bestand, sondern tischte ihm und den Kindern das beste auf namentlich ihm und schien dabei zu gedeihen. Ja, noch immer tischte sie wirklich sür ihn auf! Es war, als erfülle sie ein tiefes Gesetz, un- abhängig von ihrem Verhältnis zueinander! es konnte auch nichts ihr Wesen verändern. Sie konnte einer schönen großen Hündin gleichen, die dasitzt und aufmerksam auf den Appetit der Jungen achtgibt: niemand kann aus ihrer überlegenen Ruhe erkennen, daß ihre eigenen Gedärme vom Hunger zer- rissen werden. Wenn sie etwas nachließen, so nötigte sie sie. Ich habe gegessen," sagte sie, so ruhig, daß es ihr in der Regel gelang, sie zu täuschen. Ach, es war zum Verzweifeln, daran zu denken, noch unerträglicher, je tiefer er in die Sache hineindrang. Sie opferte sich für ihn, und mußte sein Tun und Treiben verdammen! Dem Hunger verstand sie zu trotzen, weit besser als er. Und begriff nicht, warum sie hun- gern mußten! Aus allen diesen schmerzlichen Erwägungen stieg sie immer stärker hervor, stärker und unfaßlicher, schön in all ihrer Eigenheit. Und er eilte nach Hause, voll brennender Sehnsucht und Hingebung, beständig in der Hoffnung, daß sie ihn: diesmal entgegenkommen würde, glühend vor Liebe, um voller Scham ihre Augen an seiner Schulter zu bergen. Die Enttäuschung stürzte ihn noch heftiger in den Kampf hinein: das Sehnen des Herzens nach einer weichen, sorglosen Hand uiachtc seine eigene hart. «- Immer wieder bemühte er sich. Auswege zu finden, wie dr Geld schaffen konnte. Da es aber von vornherein keine Auswege gab. und er von dem Kampf stark in Anspruch ge- uommen war, beschäftigten sich seine Gedanken schließlich nicht wehr damit. Es saß da drinnen hinter seinem Bewußtsein wie ein wollüstiger Wunsch, der nur das tägliche Dasein um- armte: es war, als habe irgend etwas in seiner Seele sein Zeichcntalent in Besitz genommen, saß da und zeichnete nun schönes Papiergeld und schob es ihm in der Phantasie hin. Eines Tages, als er nach Hause kam, saß die Witwe Raßmussen da und hütete die Kinder, während sie Flicken- schuhe nähte: Trunkenwalde war wieder von ihr geflogen, hinaus in den Frühling! Ellen war auf Arbeit gegangen. Es durchzuckte ihn wie ein Stich. Wie sie es getan hatte, ohne erst ein Wort zu sagen, wirkte auf ihn wie ein Schlag SnS Gesicht, und im ersten Augenblick wurde er wütend. Aber Hinterlist war seiner Natur fremd! Er mußte erkennen, daß sie in ihrem Recht war: und damit war der Zorn verduftet. «urück blieb eine verzweifelte Stimmung, etwas in ihm zuckte - dies war denn doch die umgekehrte Welt.Ich muß wohl lieber zu Hause bleiben und die Kinder hüten," dachte er bitter. lFortsetzung folgt.x jfolcf viet2gens Lebenswerk. Im vorigen Jahre bat der neue Münchcncr Verlag der Dietzgenfchen Philosophie Josef Dietzaens Sämtliche Schriften(3 Bände, gebunden 12 M.) erscheinen lassen und dadurch -das Gesamtbild des Mannes, dem der deutsche und nicht zuletzt der internationale Sozialismus so vieles verdankt, dem neuen Gc- schlechte wieder näher gebracht. Ter den Sozialismus nicht nur als eine Theorie des proletAi» sehen Klassenkampfes auffaßt, sondern zugleich als eine Kultur» bewegung, bestimmt, alle lebensfähigen Keime der vorangegangenem Kulturöntwickelung in sich aufzunehmen und organisch zu ver- arbeiten, der wird nicht vorbeikommen können am Lebenswerke deS Mannes, der eben dieser syntethischen Tendenz des Sozialismus ihre schärfste Ausprägung verliehen hat.Das Akquifit der Philo- sophie" nennt Dietzgcn eine von seinen Schriften. Dieser Titel könnte indes füglich für alle seine Schriften gelten, denn alle sind sie durch den Gedanken beherrscht, daß der Sozialismus berufen ist, das Erbe der bürgerlichen Ideologie ebenso und in demselben Sinne zuzutreten, wie er durch Marx das Erbe der klassischen politischen Oekonomie angetreten hat. Und wie man Marx' ökono- mische Lehren nur auf dem Hintergrunde der Ideenwelt seiner großen bürgerlichen Vorgänger begreift, so läßt sich auch Dietzgens Philosophie nur im Zusammenhange mit der neuzeitlichen Eni- Wickelung der Philosophie erfassen. Es ist also keine willkürliche Ablenkung von dem Thema, wenn wir zunächst durch einen histori- schen Exkurs, der notwendigerweise nur schematisch sein kann, ver- suchen werden, die Voraussetzungen Tictzgenschen Philosophiercns kennen zu lernen. I. In der Geschichte der neueren Philosophie, deren Anfänge in das 16. Jahrhundert zurückreichen, also in jene Epoche, wo die neue bürgerliche Gesellschaft in ihren Umrissen schon fertig dastand, lassen sich zwei mächtige, bald parallel laufende, bald sich miteinander ver- schlingende Gedankenströme unterscheiden. Der eine ist der englische Empirismus, die Philosophie der Erfahrung. Er stellt im wesentlichen eine Uebertragung gewisser Methoden der Natur- forschung auf das Gebiet der Philosophie vor. Wie die Naturwissen- schaft zunächst gezwungen ist. den unendlich mannigfaltigen Strom der Weltvorgänge in einzelne fest abgegrenzte Teile zu zerlegen. jeden für sich zu erforschen und erst dann nach ihrem einheitlichen Zusammenhange zu fragen, so macht es der Empirismus ebenso auf dem Gebiete der menschlichen Erkenntnis. Er sucht nach den letztem Bestandteilen unserer Erfahrung. Seine Hauptvertreter: Locke . Berkeley, Hume erforschten das Gesamtgebiet der mensch- lichen Erkenntnis und fanden, daß sie aus einer unübersehbaren Menge der Sinneseindrücke Empfindungen und Vorstellungen bestehe.Nichts ist im Verstände, was nicht vorher in den Sinnen war" so lautet der von Locke verteidigte Grundsatz. In den Sinnen des einzelnen Subjektes sind jedoch nur einzelne Farben, Töne. Formen und Gestalten anzutreffen, keine Zusammenhänge und Einheitsverbindungen. Dieser Umstand machte den Empiris- mus zu einer schon für die Zeit seiner Entstehung unzureichcnden Theorie der Erkenntnis. Im stolzen Bau der newtonianischcn Wissenschaft offenbarte sich die mechanische Einheit der Welt, die gesetzmäßige Verknüpfung der Weltereigniffe. wenn auch zunächst nur für das Gebiet der Astronomie. Der Empirismus aber, der die gesamte menschlich« Erkenntnis in den Kreis der einzelnen Sinnes- empfindungen festgebannt hatte, mühte sich vergebens ab, seine Grundsätze mit den Eroberungen der fortgeschrittenen Naturwissen- schaft in Einklang zu bringen. Er endete mit dem Zweifel an der Möglichkeit jeder über den Kreis der sinnlichen Gewißheit hinaus- gehenden Erkenntnis(Hume ) und mit der Ansicht, daß olle Er- fahrung. also auch die Existenz der ersahrbaren Welt, an das Vor- handensein des wahrnehmenden Subjektes gebunden sei lBerkeleyj. Neben dieser Denkweise, die den Schwerpunkt der Erkenntnis ausschließlich in die Sinne verlegte und so aus der zusammenhang­losen Vielheit der Elemente keinen Weg zu ihrer Einheit fand, entwickelte sich die andere grundlegende Richtung der neuerem Philosophie, der Rationalismus, die Philosophie der Ver» nunft. Rationalismus kennt nur«ine Art sichere Erkenntnis: die aus der Vernunft entspringende. Unsere Sinne liefern uns nur un­klare, verworrene Bilder. Klar und frei vom Irrtum wird die Erkenntnis, sofern sie nicht von solchen Bildern, sondern von» Wesen, d. h. von der Idee der Sache ausgeht. Ter Rationalismus sucht die Einheit der Dinge nicht von unten auf zu erforschen, fon- dein von oben herab zu dekretieren. Stützte sich der Empirismus auf die induktive Methode der Naturforschung, so der Rationalis- mus auf die deduktive der Mathemank. Er übersah jedoch, daß die Einheitsverbindungen, von denen die Mathematik handelt, nicht aus reiner Vernunft stammen, sondern auf einer breiten Grundlage all- gemeinster Erfahrungen aufgebaut sind. In seinem Bestreben, alles, was nur auf Erden und im Himmel existiert, als rein logische Folge weniger allgemeiner Sätze darzustellen, geriet der Rationalismus schließlich in phantastische Konstruktionen eines Leibniz und im die unsägliche Pedanterie eines Chr. W o I f f. Ende des 18. Jahrhunderts bereitete sich in der Philosophie insofern ein Umschwung vor, als sie sich bemühte, ihre Lehren auf das Fundament der gesicherten Naturcrkenntniffe �u stellen. Der ftanzäsische Materialismus und die Kantische Philosophie bilden trotz mannigfacher Verschiedenheiten zwei wesensverwandte Formen der Philosophie der mechanischen Naturanschauung. Diese Wendung. die die Einseitigkeiten des Empirismus und des Rationalismus auf- heben und versöhnen sollte, führte gerade zur Aufdeckung des wun- den Punktes alles bisherigen Philosophierens.> Der Materialismus faßte die Wplt als eine mechanische Einheit auf und betrachtete den menschlichen Geist mit seiner Er»