Denn und nun kommen wir auf die zweite oben gestellte Frage wir ergründen diese Einheit nur auf dem Wege der Erfahrung, die immer durch die Praxis korrigiert und erweitert wird. Der Empirismus, der auf die Erforschung des tatsächlich Gegebenen pocht, hat gewiß recht, sofern er nur die Selbständigkeit jeder ein- zelnen Tatsache nicht Übertreibt. Denn es gibt keine reine Tatsache; jedes Ding erweist sich bei weiterer Forschung als ein Teil des Weltganzen. Ein Beispiel möge das Gesagte erläutern. Die Naturwissenschaft vor Darwin sah ihren ganzen Stolz darin, möglickst viele und möglichst genaue Beschreibungen der in der Natur existierenden lebenden Wesen zu liefern. Von ihrer gegenseitigen Verbindung wollte sie nichts wissen. Und doch eben auf diese mühselig erworbene Tatsachensammlung stützte sich Darwin , indem er aus den Einzelbeobachtungen die Entwickelungs- einheit der organischen Welt herausarbeitete. Die Einheit steckt bereits in den Tatsachen, sie konnte jedoch nur mittels des Kopfes entdeckt werden. Und was für dos beschränkte Gebiet der Biologie gilt, das gilt auch für das gesamte Weltall. Dieser Punkt ist mit aller Schärfe ins Auge zu fassen, denn daraus ergeben sich Konsequenzen, die geeignet sind, unsere ganze Denkweise zu revolutionieren. Wenn das Weltall eine gesetz- mäßige, ewig fließende Einheit ist, die alle Verschiedenheiten und Gegensätze in sich begreift und keine starren Grenzen kennt, so kann keine Denkweise auf die Dauer standhalten, die von dieser Erkenntnis nicht durchdrungen ist. Unser Denken muß demnach d i a- lektisch sein wie die Natur selbst. Das heißt, es muß alle Gegensätze und Unterschiede, die in der Natur und in der Gesell- schaft vorkommen, als bloß relative auffassen, die durch die fort- schreitende EntWickelung überholt und durch neue ersetzt werden. Dieser Forderung hat Hegel eine mystische Form gegeben; für Dietz- gen ergab sie sich aus den positiven Tatsachen der fortschreitenden Natur- und Gesellschaftswissenschaft. Unser Denken aber muß zu- gleich induktiv sein, d. h. seine Verallgemeinerungen nur aus Grund strenger Erforschung einzelner Tatsachen aufstellen. Denn die Einheit in der Natur ist kein leeres Schema: sie wird immer nur in einzelnen Erscheinungen offenbart. So muß unsere Denk- weise der Forderung des Empirismus genügen, ohne sich jedoch dadurch erschöpfen zu lassen. Sie muß sich vielmehr auch den be- rechtigten Ansprüchen des Rationalismus fügen, d. h. ihre Ber - allgemein erungen mit dem Bewußtsein treffen, daß sie den tatsäch- lichen Einheitsverbindungen in der Natur immer näher und näher kommen. Kann aber unser Geist allen diesen Forderungen genügen? Dietzgen beantwortet diese Frage, indem er, dem Beispiel seiner großen Vorgänger folgend, die Natur des Geistes unter- sucht. Dieser Untersuchung ist vornehmlich seine erste philosophische Arbeit:Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit" gewidmet.Denken ist eine Tätigkeit des Gehirns, wie Gehen eine Tätigkeit der Beine. Wir nehmen das Denken, den Geist ebenso finnlich wahr, wie wir den Gang, wie wir Schmerzen, wie wir unsere Gefühle sinnlich'wahrnehmen. Das Denken ist uns fühlbar als ein subjektiver Vorgang, als ein innerlicher Prozeß." Wir haben hier die erste engere Bestimmung des Geistes als physiolo- gische Funktion; diese Bestimmung ist Dietzgen mit allen Materia- listen gemein. Verfolgen wir diesen Gedankengang etwas weiter, wozu sich bei Dietzgen zahlreiche Ansätze finden, so ergibt sich daß das Gehirn mit seinen Funktionen als ein Hilfsorgan im Kampfe des Organismus ums Dasein entstanden ist und sich in dieser Richtung weiter ausgebildet hat. Schon diese durch die biologische EntwickelungSlehre verbürgte Tatsache dürfte genügen, um die nähere Verwandtschaft der geistigen Tätigkeit mit der Umgebung des Organismus zu erklären. Mittels seiner Sinnesorgane, die auf dem Prinzip der Arbeitsteilung aufgebaut find, tritt der Organismus in verschiedenartige Bezeihungen zu seiner Um- gebung. Diese Beziehungen nennen wir Sinneseindrücke oder Empfindungen; sie bilden das gegebene Material für die Tätigkeit unseres Geistes. Hiermit erhalt der Geist eine weitere Bestim- mung; wir dürfen ibn fortan nicht mehr rein physiologisch auf- fassen, sondern vielmehr als eine mit dem gesamten Dasein zusammen- hängende Erscheinung, als eine kosmische Kraft. Diese Kraft hat, so gut wie irgendeine andere Kraft des Universums, ihre eigene spezifische Wirkungsweise. In der tausendjährigen Geschichte der Menschheit treten ihre Wirkungen klar zutage. Jeder Schritt auf dem Wege der Erkenntnis besteht letzten Endes in dem Zergliedern und Zusammenfassen des finnlich gegebenen Materials, in dem Schaffen der Begriffe, die das Allgemeine in den wechselnden Er- schcinungen festzuhalten suchen. Beim Herausarbeiten der Be° griffe verfährt der Geist schöpferisch, aktiv, jedoch nicht willkürlich. Er hat im Einklang mit den Tatsachen zu bleiben. Denn nur solche Begriffe bewähren sich, die durch Tatsachen kontrollierbar sind, die uns erlauben, das Künftige vorauszusehen und unsere Macht über die Natur vermehren. Worin besteht nun das Endergebnis dieser Tätigkeit? Ver- mag unser Geist bis zur Erkenntnis der Wahrheit vorzu- dringen? Darauf antwortet Dietzgen:Die Aufgabe des Menschengeistes besteht nicht darin, die Wahrheit zu suchen, sondern ein möglichst treffliches Bildnis der Wahrheit zu gewinnen. Zum Verständnis dieser etwas paradox klingenden Ansicht wollen wir auf das Vorhergesagte zurückgreifen. Der Empirismus zweifelte an der Existenz der objektiven Wahrheit. Er-sah in den Emp- findungen nur das Subjektive, er beachtete nicht, daß in ihnen zugleich die objektiven Verhältnisse der Dinge stecken. Für den Rationalismus befand sich die reine Wahrheit in den allgemeinen Begriffen der Vernunft; die Welt der sinnlichen Erscheinungen war für ihn eitel Lug und Trug. Für Dietzgen ist, wie wir schon wissen, Awade diese, unseren Sinnen sich offenbarende Welt dev Inbegriff der Wahrheit. Unser Geist ist eine Teilcrscheinung dev Welt, und wie das Ganze nie in seinen Teil vollständig eingeht, so geht auch die unendliche Mannigfaltigkeit der sinnlichen Er- scheinungen in die Begriffe des Geistes nicht hinein.Wir können alle Dinge durchaus erkennen; aber nebenher sind sie noch mehr als kenntlich, und daß sie noch mehr sind, daß sich das Sein nicht auflöst im Denken, darf nur ein Phantast beklagen." Es liegt hierin eine Anerkennung der relat'ven Gültigkeit des Kantischcn Kritizismus, wonach unsere Vernunftserkennlnis nicht über die Grenzen der Sinnlichkeit reicht.' Aber Dietzgen verwirft die Aiß- ficht, als ob diese Erkenntnis nicht ins Innere der Natur zu dringen vermöge: für ihn gibt es keine andere Erkenntnis, weil es auch keine Welt hinter der erfahrbaren gibt. Der menschliche Geist, der auf diese Weise am Ausbau dev Wissenschaft wirkt, erhebt sich dadurch aus dem Reiche der Natur in das der Geschichte: er wird zum Gesamtgeiste des Menschen- geschlechts. Dieser wirkende Geist wird aus dem materiellen Ge- triebe des Erwerbslebens geboren und beständig modelliert. Ucbcr die Richtung, in der diese Formung des menschlichen Geistes von sich geht, über die Befähigung des Geistes, sich selber zu erfassen und so hinter das Geheimnis seiner Beziehung zur Natur zw kommen, sagt Dietzgen in der Vorrede zu seiner ersten grund- legenden SchriftDas Wesen der menschlichen Kopfarbeit":Ich entwickele in dieser Schrift das Denkvermögen als Organ des Allgc- meinen. Der leidende, der vierte, der Arbeiterstand ist insoweit erst der wahre Träger dieses Organs, als die herrschenden Stände durch ihre besonderen Klasseninteressen verhindert sind, das Allgemeine anzuerkennen. Wohl bezieht sich diese Beschränkung zunächst auf die Welt der menschlichen Verhältnisse. Aber solange diese Verhältnisse nicht allgemein menschlich, son- dein Klassenverhaltnisse sind, muß auch die Anschauung der Dinge von diesem beschränkten Standpunkt bedingt sein.... Da nun dem Denkverniögen alle Verhältnisse Gegenstand sind, hat es von allem zu abstrahieren, um sich selbst rein oder wahr zu er- fassen. Da wir alles nur mittels Denkens begreifen, müssen wir von allem absehen, um das reine, das Denken im allgemeinen zu erkennen. Erst eine historische Entwickclung, welche so weit fort- geschritten, um die Auslösung der letzten Herr- und Knechtschaft zu erstreben, kann soweit der Vorurteile ent- behren, um das Urteil im allgemeinen, die Kopfarbeit wahr oder nackt zu erfassen.... Der Mensch des vierten Standes ist endlich reiner" Mensch." Physiologische Funktion, universelle Kraft, wirkender Faktor der Geschichte dadurch daß Dietzgen diese drei Stufen des GcistcS zu einer Einheit verschmilzt, gibt er dem historischen Materialis- mus die Kraft, das Gebiet der Jdeobzgie ebenso zu beherrschen, wie das der Oekonomie und Geschichte. Ist jedoch eine derartige Erweiterung und Ergänzung des Marxismus notwendig? Brauchen wir überhaupt eine Philosophie? Manche sind geneigt, diese Frage zu verneinen. Und doch nehmen wir irgendein Gebiet der Spezialkenntnis: überall treffen wir die gleichen dialektischen Bewcgungsgesetze an, die auch unser Denken beherrschen. Aber was dort in unendlicher Mannigfaltig- keit und Spezialisierung auftritt, erscheint hier in einfacher und durchsichtiger Form abstrakter logischer Gesetze. Je besser wir demnach unseren Geist in seinem allgemeinen Verhältnis zur Welt der Erfahrung kennen, jephilosophischer" unsere Gesamtbildung ist, desto leichter werden wir uns auch in der Erkenntnis einzelner Tatsachen zurechtfinden, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Mag eine solche philosophische Schulung für den einzelnen vielfach! zu entbehren sein, die proletarische Ideologie in ihrer Gesamtheit läßt sich auf die Dauer philosophischer Elemente nicht berauben, ohne einer Verflachung zu verfallen. Gegen eine solche Gefahr bildet das Studium Dietzgenschcr Schriften den besten Schutz. Aber noch mehr als dies. Jetzt wo man an allen Ecken und Enden vonder Belebung des philosophi - scheu Interesses" spricht und sich wieder anschickt, den Kampf gegen die Bestrebungen der Arbeiterklasse in das philosophische Gewand zu kleiden, kann uns die Dietzgcnsche Philosophie zu einer Nüst- kammer wertvoller Waffen werden. Enthält sie doch, wie wir ge- sehen haben, alle wesentlichen Elemente der früheren Philosophi« ,n sich aufgehoben und kann daher gegen jede Ueberspaunung philo- sophischr Begriffe von relativer Gültigkeit erfolgreich ins Feld ge» führt werden. In jedem Falle aber wird das Studium Dietzgen. scher Werke nur zu einer Förderung, Belebung und Vertiefung unserer geistigen Kampfmittel führen. Das eine aber wird man darin vergebens suchen: den in letzter Zeit viel besprochenen Gegen- satz zwischenengerem" undweiterem" Marxismus . Wer von den ökonomischen oder historischen Werken marxistischer Schule zum Studium Dietzgcnscher Werke übergeht, der findet sich, trotz der Verschiedenheit der behandelten Gegenstände, in einer und der- selben Welt. Es ist die gleiche Methode, die in diesen beiden Ge- bieten herrscht, es ist derselbe Geist trr sie bestl t, und das ist der Geist weder desengen", noch desweiten", sond-rn des rechten und echten Marxismus . III. Durch vorliegenden� kurzen Abriß ist die reiche Gedankenwelt Dictzgens nur in ihren Hauptzügen skizziert; wer Dietzgensche