schüttelt und sich nun darangemacht haben, Besitz von der Welt des Geistes zu ergreifen, als Leuten, die neues Land für sich und ihre Nachkommen erobern wollten. So ein Zug von Er- oberern, sie hinken ja allel— Eine flügellahme Schar, die dennoch den Flug versuchen will. Und wohin wollen sie denn ziehen? „Ins Land des Glücks woll'n wir ziehen!" stimmte einer der Gesangchöre an. Und wo liegt denn dies Land? Hat jemand von Euch es in wachem Zustande gesehen— oder waren es nicht böse Träume, die der Hunger gezeugt hat? Eßt Euch nur einmal wirklich satt, Leute, und laßt uns dann miteinander reden! Was ist denn da überhaupt auf der anderen Seite? Die Leere, die Euch gebar und noch wahnsinnig in Eurem ausge- hungerten Blute kocht? Oder das Land des Lebens? Be- ginnt denn jetzt eine neue Welt für Euch? Oder ist der Fluch ewig, der Euch gebar, Sklaven zu sein? Es liegt ein eigener, sicherer Takt in ihrem Schritt, der alles übertäubt: Wir sind Matadore, so arm wir auch aus- sehen! Vier Millionen Kronen haben wir gebraucht, um den Kampf zu führen, und zwanzig Millionen sind dabei drauf- gegangen, weil man die Arbeit unserer Hände zum Stillstand brachte! Wir kommen aus der Finsternis und gehen dem Licht entgegen: niemand kann uns zurückhalten! Hinter uns liegen Hunger und Elend, Unwissenheit und Sklaventum, vor uns liegt ein glückliches Leben, beschienen von der aufgehenden Sonne der Freiheit! Von heute an ist eine neue Zeit ange- krochen, wir sind ihre jungen Kräfte und �dern die Macht für die zehntausend Familien! Die Wenige� oaben lange genug geherrscht! Unerschütterlich marschieren sie dahin, trotz der Wunden, die noch schmerzen müssen, da sie ja hinken! Warum sollten fie wohl zweifeln? Hört, fie singen! Heiser tönt es aus den fünfzigtausend Kehlen, als sei der Gesang festgerostet oder müsse sich erst los- reisten. Ein neues Instrument, das noch nicht vom Meister gestimmt ist: die ersten Töne sind Mißtöne! Aber der Gesang läuft hin und her durch den Zug in rhythmischen Wellen: das Ganze ist ein wandernder Körper: die Augen werden durch- glüht und brennen von dem schwellenden Machtgefühl, die Vielen zu sein. Und der Ton wird mächtig dadurch, ein Ge- Witter, das sich bis zur Häuserhöhe erhebt: Bald wird eS tagen. Brüder! lgortsetzung folgt.)! Serlm im k8. jfakrkimclert. 2. Handel und Wandel. Die amtlichen Verordnungen wie die Zeitungsanzeigen von Privaten, aus denen Consentius sein Material gesammelt hat, er- schienen in den Jntelligenzblättern. Auch diese bestanden in Ab- hängigkeit vom Heerwesen, insofern als man ausschließlich oder doch zuerst in ihnen inseriere» mutzte und die Gebühren dafür (neben anderen) dem neuen Potsdamer Militärwaisenhaus zu- flössen. Zu anderen Zwecken die Presse zu fördern, entsprach nicht dem preußischen Regime. Die erwähnte Beschränktheit des Materials ergab sich aus der Besonderheit dieser Quellen. Sie betreffen vorwiegend den gut- bürgerlichen Durchschnitt. Die Spesen eines Inserats mutzten einer gewissen Höhe des Einkommens und des Umsatzes ent- sprechen. Von den unteren Volksschichten, wozu damals der ver- hungerte, verprügelte Berufssoldat gehörte, erfahren wir wenig. Von erwünschten, gewiß nicht häufigen Ergänzungen zu dem Leben der ärmeren Klassen, die die wachsende Industrie sich tribut- pflichtig machte, findet man eine in Wielands Zeitschrift „Teutschcr Merkur" bom_ Ende der Regierung Friedrichs II. Da liest man von dem Rasseln der Wollen-, Seiden- und Leinen- Weberstllhle, von den einstöckigen Holzhütten in den langen, un- gepflasterten Straßen der Stralauer Vorstadt, von dem Elend der vor Armut halbnackten Bewohner. So berichtet 1786 der könig - liche Leibarzt Formey von der Wohnungsnot der arbeitenden Klasse, von dem dadurch bedingten Elend und der hohen Krank - heitszisfer unter ihnen, von der besonders schädlichen Tätigkeit in den Tecniederlagen. Noch 1843 war nach Fidicin die Sterblich- keit in den älteren Vierteln größer als in denen neuen. Eine Gattung dieser Klassen ist es jedoch, die Consentius aus- führlich berücksichtigen kann: daö Gesinde. Eine sehr detaillierte, 1718 erlassene Gesindeordnung, die das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und-nchmer regelt und bis 1746 bestand, betrifft die Domestiken im engeren Sinne. Auf die Uebertrctung der darin enthaltenen Bestimmungen standen Geld-, Gefängnis- und Zuchtbausstrafen, Karrendienst oder Verweisung aus der Stadt. Allerdings konnten die Uebcrtretungen bis auf eine nur von den Domestiken begangen werden. Das einzige nämlich, was dem Brotherrn als strafbar untersagt blieb, war: mit dem Lohn über die festgesetzte Taxe hinauszugehen. Diese Taxe betrug zum Beispiel für einen Kutscher bei 4 oder S Pferden bis 16 Taler. für eine gute Köchin, die dasselbe wie ein Koch kann. bis 18 Taler, für ein Kindermädchen 6 Taler. Erst nach drei Jahren war eine Zulage erlaubt; in einer neuen Stellung mutzte diefelbe Wartezeit eingehalten werden ein zuverlässiges Mittel, den Dienstwechsel möglichst zu verhindern. Unterbieten dagegen durfte der Herr die Taxe getrost, wie er auch das Recht hatte» den Domestiken vor Ablauf des vereinbarten Jahres, lediglich gegen den laufenden Ouartalslohn zu entlassen, von ihm die Unterstellung seines gesamten beweglichen Eigentums, als Siche- rung gegen etwaige Unehrlichkeiten, zu verlangen, diese Sachen bei Diebstahlverdacht zu revidieren, ihm den Gesamtlohn erst bei Verlassen des Dienstes zu zahlen. Demgegenüber hatte das Ge. finde so gut wie gar keine Rechte. Interessant ist hier bereits ein behördlicher Angriff im Interesse der Herrschaft gegen die Koalitionsfreiheit der Dienstboten. Die Polizei verhaftete sämt. liche Teilnehmer einer auf Besserung ihrer Lage gerichteten Zu- sammenkunft und der Richter verurteilte sie zu Wasser und Brot oder Arbeitshaus. Eine von den vereideten Gesindevermittlerinnen hatte wohl zu der Verschwörung ihre Hand geboten; sie war den stellungslosen Mädchen in nicht immer unbedenklicher Weise ge- fällig und hilfreich, ließ sie für sich stricken und spinnen oder zog mit ihnen auf die Dörfer, um sie an die Soldaten zu verkuppeln. Die begreifliche Kehrseite dieser(wie jeder) Rechtlosigkeit des Hauspersonals war die oft unerlaubte Älbsthilfe, der die obrig- keitliche Gewalt mit neuen drakonischen Gegenmatzregeln entgegen- trat. Der Hausdiebstahl der Domestiken wurde bis zum Werte von 66 Talern mit vier Jahren Festungsarbeit oder Spinnhaus bestraft. Ueberstieg der Wert aber diese Summe: so stand auf das Delikt unerbittlich der Galgen. Eine zufällige Differenz von Groschen entschied also über Leben und Tod. Bekannt sind die dank dieser Bestimmung verübten Justizmorde. In der Brüder- stratze kannten die Eingesessenen noch bis inS 19. Jahrhundert nahe dem Nicolaischen Hause ein solches GalgenhauS; der Galgen wurde zur größeren Wrkung vor dem Hause der Tat errichtet. Nicht unter der Gesindeordnung stand die Beschließerin oder AuSgeberin, die selbständig das Haus führte, die Gesellschafterin oder Kammerfrau, die meist aus einem Bürgerhause stammte» nicht wie. die meisten Mägde vom Lande. Der Lakai mutzte Schneider und Haarkünstler sein, überhaupt des Herrn Garderobe besorgen. Konnte er schreiben und rechnen, nach französischem Muster bei Tisch den Braten anrichten, womöglich selbst französisch sprechen, so war er ein gesuchter Reisebegleiter, ja soviel wie«in echter Kammerdiener. Das Wichtigste blieben aber doch die Lakaienfertigkriten, nicht die Gelehrsamkeit. DaS erfuhr das akademisch« Proletariat, das in Preußen zeitig gedieh, wenn eS mit den handfertigen Domestiken in Konkurrenz treten wollte. Man nahm wohl einen armen Studenten als Sekretär an; mehr als ein Kammerdiener war er deswegen nicht. Oder er wurde Informator, Hauslehrer bei den Herren Söhnen; der ungebildetste Franzose, der Aeutzerlichkeiten anzudressieren wußte, galt ihm gleich. Das Ende seiner Fnformatorkarriere blieb günstigstenfalls,. daß er als Hofmeister die jungen Herrn auf die Universität be- gleitete: er war und blieb ein Bedienter. Ein guter Koch war der Herrschaft wichtiger. Der Lakai war— bezeichnend genug für den Gesellschaftsbau der Zeit— der König seines Standes und der Tyrann seines Brotherrn. Er mochte Langfinger machen und noch so oft dem Dienst entlaufen, er fand immer seinen Dienst, er wurde überall gebraucht. Auch der Philosoph von Sanssouci vermochte seine Untertanen nicht von dem höheren Wert eines akademischen Bedienten zu überzeugen. Noch 1789 lesen wir von einer Gegenüberstellung seines erbärmlichen Da- seins einerseits und des herrlichen der französischen Mamsell andererseits: sie ist nach der gnädigen Frau die erste Dame im Hause— er rangiert kaum mit dem ersten Livreebedienten. Das war der unausrottbare Geist der in Preußen souveränen Kaste, des Krautjunkertums, dem die Regenten ebenso unterlagen wie die Bevölkerung. Ihre mittelalterliche Rauflust hatte sich zum modernen Militärwesen gewandelt; ein äußerer Schliff, unter dem sie ihr Barbarentum verbergen konnten, befriedigte ihr Kulturbedürfnis vollauf. Militärisch war das ganze städtische Bau- und Fcuerlösch- Wesen geleitet, militärisch-junkerlich wurde auch das ganze Wirtschaftsleben regiert. Daß man den Städten Kantonfreiheit gegeben hatte, sie von der Militärwerbung ver- schonte, hatte den zwingenden praktischen Grund, fremde Hand- werksgescllen nicht von der Zuwanderung abzuschrecken, auf diese Weise den Bevölkerungszuwachs und den Gewerbefleiß zu be- schränken. Der Begriff des Staates existierte in der Wirtschaft- lichen Praxis jener Tage vollends nur auf dem Papier. Wirtschaft» lich gesehen zerfiel nach dem Wunsche der Regierenden das ganze Land in unzählige Bezirke, die jedesmal in einer Stadt mit dem sie umgebenden platten Lande bestmiden. Von diesem aus hatte der städtische Fabrikant seine Bedürfnisse' zu decken, sollten sich Brauer und Branntweinbrenner ihr Rohmaterial"verschaffen. Kamen die Waren auch nur ans Gegenden jenseits der Oder oder Elbe, so verfielen sie bereits einem Extrazoll. Doch schon die
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29 (12.4.1912) 71
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