Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 72.
72]
Sonnabend den 13. April.
( Nachdruck verboten.)
Pelle der Eroberer.
Der große Kampf.
Roman von Martin Andersen Nerö. Rührt den elendsten von ihnen jetzt nicht an! Die große, berauschende Macht ist über ihn gekommen; ein jeder ist über sich selbst hinaus gewachsen und glaubt sich fähig, Wunderwerke zu verrichten. Es sind keine losen Teilchen, das Ganze ist ein großer Bergrutsch. Zupft an einem von ihnen, und die Kraft der Masse wird in ihn hineinströmen. Er wird die Folgen vergessen und handeln wie unter einem Schicksal, wo das Große, dem er angehört, die Verantwortung übernimmt und Gesetz ist!
Es ist ein Rausch, in den Reihen zu gehen und die Vereinsfahne tragen zu dürfen, aber schon allein das Mitdabei sein verleiht Stärke und Freude.
Mutter und die Kleinen kommen gut mit, obwohl sie meistens im Rinnstein gehen müssen. Amüsant ist es, auszutreten und das Ganze mächtig vorüberziehen zu lassen, und dann einen Richtweg einzuschlagen und sich wieder an die Spiße zu stellen. Stunden währt es, bis der Zug an einem vorübergekommen ist, wenn man sich an einer Straßenede aufgestellt hat. Trapp, trapp! Trapp, trapp! Das geht ins Blut hinein und bleibt da wie ein ewiger Taft.
Ein Fachverein zieht vorüber und ein anderer zieht auf: die Maschinenarbeiter mit dem dicken Mund als Fahnenträger, demselben, der die drei Schläge des jüngsten Gerichts schlug, die die fünfundvierzigtausend Mann zum Kampf für das Koalitionsrecht zusammenriefen, hurra hoch! Die Maler, die Typographen und die Handschuhmacher , die Klempner, die Kortschneider, die Weißgerber und eine Gruppe Seeleute mit X- Beinen. An ihrer Spike schreitet Heulpeter, der verwandelte Hünel Die Kupferschmiede, Kohlenarbeiter und Bautischler, die Bäckergesellen und Wagenbauer! Das da, was ist das da für eine sonderbare Prozession? Ach, das sind ja die Gürtler, und da haben wir die Gipser und die Stuffateure und die Feinschmiede, selbst die Sandgräber sind mit dabei, die Schneider und die Schuhmacher sind leicht zu ertennen. Und da sind, Herr Du meines Lebens, die Pantoffelmacher dicht auf ihren Fersen, sie wollen auch mit dabei sein! Die Bergolder, die Lohgerber, die Weber und die Tabakarbeiter! Die Feilhauer, die Modelltischler, die Maurer, die Böttcher, die Buchbinder, die Schiffs- und Hauszimmerleute. Nimmt das denn nie ein Ende? Die Glasergesellen, Blazz da! Ja, die können wohl lachen! Das sind alles Meistergefellen. Da kommen die Gas- und die Wasserarbeiter, und die Möbeltischler, die einwärts gehen wie die Grobschmiede und dicht vor ihnen hermarschieren, als sollten die von ihnen lernen! Das da sind die geschickten Kunstdrechsler und die Bürstenbinder, mit Brille auf und Bürsten aus der Nase Heraus, das heißt wenn sie alt sind. So, nun ist es also endlich vorbei! Den Schluß bildet eine Schar ausgelassener Zungen!
Aber das sind ja die Milchjungen, diese Strolche! Sinter ihnen kommen die Fabrikarbeiterinnen, und dann fängt es wieder von vorn an: die Pianofortearbeiter, die Müller, die Sattler und die Tapezierer Fahnen, soweit man sehen fann. Wie groß und bunt doch die Welt ist! Wieviel Gewerbe der Mensch doch hat, damit es ihm nicht an Arbeit fehle! Da sind die Maurer mit all den alten Veteranen an Der Spiße und die Leute, die von Anfang an mit dabei gewesen sind! Seht doch, wie sicher der alte Stolpe auf seinen Beinen geht! Und die Schieferdecker mit dem Pardauzspringer an der Spite; die sehen aus, als gingen sie gar nicht auf der ebenen Erde! Die Sägewerksarbeiter, die Brauerei arbeiter, die Stuhlmacher. Jahr für Jahr ist ihnen ihr Lohn herabgesetzt worden, so daß sie jetzt beim Anfang des Kampfes nur halb soviel verdienten wie vor zehn Jahren; aber seht nur, wie froh sie ausschen: jest wird wieder Effen in die Speisefammer fommen. Das sind ja die Weberinnen, die fahlen Frauen da! Eine Fahne haben sie nicht; acht Dere die
1912
Stunde reicht nicht aus, um damit zu flaggen. Und dann schließlich eine Handvoll Zeitungsfrauen vom„ Arbeiter". Herrgott, wie müde sie sind, die vielen Treppen siben ihnen wie Blei in den Beinen! Sie haben ein Bündel Zeitungen über dem Arm als Kennzeichen.
Trapp, trapp! geht es in langsamem, besonnenem Marsch wohin? Dahin, wo Belle will. Bald wird es tagen, Brüder! Immer wieder von vorne an, wenn eine Abteilung mit dem Lied fertig ist, nimmt die nächste es auf. Die Seitenstraßen speien ihren Inhalt aus auf den Zug, einge schrumpfte Wefen, die gegen ihren Willen vom Kampf berfengt wurden und sich nicht wieder aufrichten können; sie folgen ihm mit großen Augen und geben fanatische Er klärungen.
Da steht ein junger Bursche auf dem Bürgersteig; er deckk sich hinter einigen Frauen und macht einen langen Hals. Denn nun kommt sein Fach, dem er in Kampf untreu ge worden ist; die Neue hat ihn hierher getrieben. Der Takt reißt ihn mit fort, so daß er alles vergißt und dahinschreitet; er fieht sich wohl selbst in den Reihen, singend und stolz über den Sieg. Und plöglich erfassen ihn ein paar Kameraden und ziehen ihn in den Bug hinein; sie heben ihn auf und führen ihn mit sich fort. Hurra für so ein Wahrzeichen! Nur schade, daß er nicht auf eine Stange gesetzt und hoch in der Luft getragen werden kann.
Belle schreitet noch immer an der Spike des Zuges dahin, an der Seite des dicken Munck. Ruhig und lächelnd geht er; drinnen in ihm aber rasen unbändige Kräfte, so start hat er sich noch nie gefühlt. Auf den Bürgersteigen hält die Polizei Schritt mit ihn, schweigend und schicksalsschwanger. Er führt den Zug schräg über den Königsneumarkt, und plötzlich geht ein Schaudern durch die Massen: er will hin und sein Heer auf Schloß Amalienburg vorstellen. Daß auch niemand auf den Gedanken gekommen ist! Nun ist die Polizei aber doch flüger gewesen. Die Straßen, die nach Schloß Amalienburg führen, find vom Militär abgesperrt.
Allmählich verbreitert sich der Fahnenzug und füllt den ganzen Marktplay. Anderthalb hundert Fachvereine, jeder mit seinem wehenden Abzeichen. Das ist ein mächtiger Anblick! Jede Fahne hat ihre Geschichte. Alle die sind rot, die über Vereinen wehen, die in der sozialistischen Zeit gebildet wurden, und dazwischen sind Dannebrogsflaggen, alte Zunftund Vereinsfahnen blaue, rote und weiße. Sie gehören uralten Verbänden an, die sich allmählich der Bewegung angeschlossen haben. Ueber ihnen allen sieht man die Fahne der Müller, die ist eine Kleinigkeit von ein paar hundert Jahren alt! Es steht so sonderlicher Krimskrams darauf: das ist der Namenszug des ersten absoluten Königs.
Aber die rechte Fahne ist nicht hier, das rote Abzeichen der Internationale, das die Bewegung durch die ersten Jahre der Trübsal hindurchgetragen hat. Die Alten würden sie wohl wieder erkennen, und die Jugend hat soviel Legenden über sie gehört. Wenn sie überhaupt noch existiert, ist sie gut versteckt; sie würde zu mächtig auf die Obrigkeit wirken, wie ein rotes Tuch auf einen Stier.
Und wie sie dastehen und starren, steigt sie plöblich in die Luft auf, zerfetzt und ausgefranst, aber unvergänglich in der Farbe. Pelle steht oben auf dem Bock cines Fuhrwerkes und hebt sie feierlich in die Höhe. Einen Augenblick kommt es ihnen allen überraschend, dann fangen sie an zu rufen, und es wächst zu einem Orkan an. Sie grüßen die Verbrüderungsflagge, das rote Blutzeichen der Internationale, und Pelle, der sie mit seinen berbrannten Händen emporhebt, den guten Kameraden, der das Kind aus dert Feuer gerettet und die Bewegung zum Siege geführt hat!
Und Pelle steht da und lächelt ihnen offen zu, wie ein großes Kind. Hier wäre der Ort, ihnen allen ein gutes Wort zu sagen, aber seine mächtige Stimme ist noch nicht wiedergekommen. Da führt er denn mit einer langsamen Drehung die Fahne rings über sie hin, als ob er sie in Eid nähme. Und er ist so still dabei. Dies ist ein alter Traum, der ihm cben in Erfüllung gegangen ist!
Die Polizei reitet in Haufen unter die Massen vor, aber die Fahne ist verschwunden; Mund steht mit einer leeren Stange da und ist im Begriff, das Vereinsbanner daran zu befestigen. Sie müssen dafür sorgen, daß diese Menschen