Hlnterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 107. Donnerstag den 6. Jtml 1912 lNachdruik verbolea.» 34] Suitana« Ein arabisches Frauenschicksal von Emil Rasmussen. Nun hatte Nur sich allerdings eine solche Bürde nie- mals allzu naheliegend vorgestellt oder gewünscht; auch be- neidete er den Schwager durchaus nicht um feine Popularität und all die Verpflichtungen, die ihm daraus erwuchsen; aber das Lachen verletzte ihn ebenso wie dazumal in der Schule das Grinsen der beiden algierischen Juden. „Mein Großvater war ja auch Ca!d!" «Und Dein Vater?" „Nein, mein Vater ist es nicht. Noch nicht wenigstens. Weil er zu jung war, als Großvater starb. Aber ich will 5Dir nur sagen, daß es nicht viele junge Araber von Familie gibt, die das Lyc6e Carnot absolviert haben, so daß ich viel- leicht bessere Aussichten habe als die meisten." „Nun, nehmen wir den Fall an, daß sie Dich nicht ab- weisen, so würdest Du Dich also nicht für zu gut halten, diesen Füchsen zu Helsen , Dein eigenes Volk zu unterdrücken?" Nur fühlte sich unsicher. Aber es gab keinen Rückzug. Er mußte mit erhobenem Nacken den Weg weiter verfolgen. Sultana saß halb abgewandt auf dem Teppich und lauschte dem Gespräch, ohne sich einzumischen. Rurs devorstehende Abreise lag ihr schwer am Herzen. «Die Franzosen sind nicht böse." sagte er er. „Ich weiß, daß ihr beide, Dein Vater und Du, dieser Meinung seid. Aber Ihr sollt wissen, daß alle redlichen Männer Eueres Volkes anders denken und Männer wie Euch als Verräter des Vaterlandes und als Abtrünnige unserer Religion betrachten I Denn Ihr begünstigt die ungläubigen Hunde!" „Mich kannst Du schmähen, aber man soll nicht den Vater vor dem Angesicht der Kinder schmähen." sagte Nur so ruhig und schön, wie er diese Art Dinge sagen konnte, und errang sich durch diesen kleinen Seitenhieb einen Vorteil.' «Dein Vater," sagte Abdallah ruhiger,„hat unrichtig gehandelt, als er Dich in die französische Schule brachte, statt Dich an der Djamaa ez Zituna studieren zu lassen!" „Die Zeit wird es erweisen." „Jawohl, das wird die Zeit sicherlich erweisen. Die Schule hat Euch mit unreinen, pestbehafteten Menschen zu- sammengeführt wie mit dieser Frau Barriöre, die mit einem Priester lebt—" «Was weißt Du darüber?" ».Man sagte es in Tunis ." „Dann sage ich in Gafsa , daß dies Lügen sind." „Sind es auch Lügen, daß sie gegen den Islam predigt?" „Ja! Sie predigt für ihren Glauben." „Aber jedenfalls sind es keine Lügen, daß ihr Sohn Marcel, der dünn und bleich ist wie ein Bandwurm, Gott leugnet, sowohl Allah wie den französischen Gott, und daß er glaubt, der Himmel sei aus kaltem Glas, an dem die Luft sich ansetzt und zu Regen wird, denn das hat er mir selbst erzählt und ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört. Und einen solch räudigen Hund empfängst Du in Eurem Hause! Und Du bildest Dir ein, daß Allah es nicht sieht und Euch nicht dafür strafen wird! Hast Du nicht selbst gesehen, wie all das Geld, das Dein Vater von Frau Barriere cnt- lieh, nur zu einer Schuld wurde, die ihn nun bedrückt, ohne daß er etwas anderes davon geerntet hätte als einen Haufen Schande und Unglück? Ungestraft pflegt kein Muslim Freundschaft mit einem Ungläubigen! Die Strafe trifft das ganze Haus! Jeder einzelne kommt ins Unglück! Wenn Sultana weiterhin unfruchtbar bleiben sollte— was Allah verhüte!— so ist es nur eine Strafe dafür, daß Ihr diesem Marcel Zutritt in Euer Haus gegeben, diesem stinkenden Schakal, dem ich mit kaltem Blut mein Messer durch den Leib jagen könnte. Darum grolle ich Euch im Innersten. Darum balle ich die Hand gegen Euch." „Marcel ist nicht böse." „Schweig!" Sultana war sehr bleich geworden. Sie sah vor ihren Augen wieder den getöteten Delphin, wie er auf dem Wasser schwamm. 20. In der Rurs Abreise folgenden Zeit war Sultana nahe daran, allen Mut zu verlieren. Sie suchte sich durch angespannte Arbeit im Dienst ihrer Armen und Kranken aufrechtzuerhalten, fand aber nicht mehr dieselbe Freude und Zerstreuung darin wie zuvor. Ihr Kinderkopf hatte schwereren Stoff zu bewältigen be- kommen, als er zu bemeistern vermochte. Es war Abdallahs Wesen und Charakter, dessen Grund zu sondieren sie sich vergeblich bemühte. Marcel, den sie nicht kannte, stand nun in scharfen Um- rissen vor ihr. Er war von innen heraus geworden, aus einem Herzen heraus gewachsen. Man konnte sich seine Ent- Wicklung vorstellen, ihn verstehen wie einen Kiefernbaum, den man zersägt. Ein Jahresring hatte sich um den anderen ge- legt. Wie der erste war, so wird auch der letzte sein— nur größer, sonst aber gleich. Abdallah war anders geartet. Alle Umrisse flimmerten. Er war heute dieser— und man glaubte, dies sei Abdallah aber morgen war er ein anderer. Und wie war der Kern? Er schien entstanden zu sein wie eine Zäuia, die von fremden Händen erbaut wird. Jeder neue Marabu fügt ein Stück hinzu. Es ist kein innerer Plan, und niemand kann be« rechnen, wie sie aussel>en wird, wenn der letzte Marabu das letzte Stück angesetzt hat. Sie liegt willenlos und tot und läßt sich bekleben. So sah es auch mit Abdallah aus. Sie hatte vom ersten Tage an, da sie seiner Obhut über- geben wurde, sein Wesen beobachtet, wie ein lebenslänglich Gefangener seinen Kerkermeister studiert. Sein Charakter war ja ihr Schicksal. Schichte auf Schichte war sie hinabgedrungen, wie man einen Zwiebel entblättert. Aber es schien eine hoffnungslose Ewigkeitsarbeit. Lauter Blätter, böse und gute durchein- ander,— aber nie erreichte sie das Herz, nie bekam sie den Geschmgck seines Blutes, das den ganzen Organismus bestimmt. Sie hatte den ersten Abend sein Herz in seinen Augen gesucht, aber nun wußte sie, daß seine Augen logen. Wenn er einen Kern hatte, wußte er ihn gut zu der- bergen. Er ließ sich nicht den Puls fühlen. Verglich sie aber Abdallah und Marcel, so sah sie ganz klar den Gegensatz zwischen ihnen in einem einzelnen Punkte, der sie selbst in hohem Grade betraf. Marcel war derjenige, der alles andere ihretwegen auf- geben konnte. Abdallah dagegen konnte sie allem anderen zu Liebe auf- geben. So beiläufig dachte sie, wenn auch minder zusammen- hängend und klar, denn sie dachte in Ahnungen und Bildern, in Blitzen und Sprüngen wie ein ungeschultes Bauernhirn denkt. Aber diese Blitze markierten genial und pünktlich den richtigen Weg.-- Der Wurmfresser hatte sich zwischen den beiden entwickelt, und der Name des Reptils war Mißtrauen. Denn es lag nicht daran, daß sie an der männlichen Brust ihres schönen Gatten mit verliebter Freude unbekannt geblieben wäre. Oh. als der erste Monat vorüber war, hatte sie Augen» blicke schwindelnder Glückseligkeit erlebt und jedesmal dabei gewünscht, daß Marcel bloß sehen könnte, wie glücklich sie seil Es hatte einen Punkt gegeben, wo sie nur einen Schritt entfernt standen von jenem tieferen Verständnis, das hinter aller Sinnenfreude liegen muß, um sie auf die Dauer zu ermöglichen und die beiden Wesen zu einem einzigen zu machen. Und wie gerne hätte sie diesen letzten Schritt getan! Denn aus Trotz gegen Marcel war ihr ganzer Wille bei Abdallah. Aber just in diesem kritischen Augenblick hatte er sich gehäutet und war in einer neuen Gestalt aufgetreten, die sie nicht kannte und noch weniger billigte. Und von da an hatte eine Wunde noch nicht heilen können, als er schon eine neue schlug. Daß er sie in einem hitzigen Augenblick, da sie selbst rhn
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29 (6.6.1912) 107
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