pagna unternahm, konnte jederzeit dasselbe sehen. Aber gerade heute hatte es auf ihn einen Eindruck gemacht, wie noch nie. Pietro begriff die Ursache: gegen den Hintergrund, den der Krieg bildete, hob sich das Ungeheuerliche in den Mitzzuständen schärfer als fönst ab. Warum Millionen an zweifelhafte, vielleicht un- lautere, ungerechte Unternehmungen vergeuden, aber den Unglück- lichen, die sich nicht selber helfen tonnten, jede Hilfe verweigern? Es war nicht die Ergebung in ein hartes Geschick, was ihnen ihr Gepräge aufgedrückt hatte, es war eine bodenlose, durch Genera- tionen vererbte Stumpfheit, die sie, neben dem Mangel an allem, was das Leben erträglich macht, in ihrer Erniedrigung festhielt. Ihm sielen einige Worte ein, die er tags zuvor in einer Zeitung gelesen. Es war ein Auszug aus einer Rode, die, wenn er sich recht erinnerte, ein englischer Minister gehalten� hatte. „Es ist meine aufrichtige Ueberzeugung, daß ein befferes Ein- vernehmen zwischen den Nationen durchaus möglich ist.-- Die Steuern würden sich ermäßigen lassen und das Geld, was man an den Rüstungen sparte, könnte man für die Entwickelung der Hilfsquellen des Landes und für die Verbesserung der Lage des Volkes verwenden. Der Eckstein der Finanzen ist Friede auf Erden und ein gegenseitiger guter Wille unter den Menschen." „Was ist denn der Krieg?" dachte Pietro.„Warum gestattet man diesem Alp, der den Fortschritt, das Glück, alles Begehrens- werte im Leben hindert, ja, der der unerbittlichste Feind des Lebens selber ist, die Völker zu drücken und ihr Herzblut zu sau- gen?" Wie war das möglich? Wo sollte er die rechte Antwort suchen? Die gab es doch. Buddha, Plato , Christus und tausend andere mit ihnen hatten sie gegeben. Nein, er wollte nicht denken, sich nicht länger an Rätseln den Kopf zerbrechen. Es war hoffnungslos. Mit einem bittereu Lachen murmelte er: „Das Waffengetöse verstummk, mild werden eherne Zeiten." „Du warst ein schlechter Prophet, Vcrgilius! Das Waffen- getöse wird nicht verstummen, und die ehernen Zeiten werden ehern bleiben. Das ist die Wahrheit. Deine Prophezeiung gehört zu den frommen Wünschen, Vergiliusl" tFortsetzung folgt.]] Das Chicagocr Hempo. Bon Artur Holitscher. Ein amerikanisches Problem schwerster Art ist das des Land- streichers, des Tramp. Die jüdische Bevölkerung, die jüdische Einwanderung stellte einen erschreckend hohen Prozentsatz zu dieser „Berufsgattung". Der arme jüdische Arbeiter, der schon entnervt, geschlagen vor der Schlacht, von den heimatlichen Pogroms anämisch geworden, ins Land der Freiheit und der siegreichen Energie kommt, hält selbstverständlich dem Speed nicht lange Stand. Er hat die Wahl zwischen Selbstmord, Erschöpfungstod, Wahn- sinn und Verbrechen. Er wählt die Landstreicherei. Zons �die» verläßt er, zumeist in einem Alter von 37— 40 Jahren, Weib und Kinder, wird ein Bum und verschwindet im Westen oder im Süden. Der Amerikaner ist gutherzig, verhungern läßt er einen so leicht nicht. Der Arme tut keinem Armen was zuleide. Nur der Reiche tut dem Armen gebrannte Leiden an. Selbst der große Philanthrop und Friedensapostel Carnegie erweist sich bei näherer Hinschauen als der tückischste, erbarmungsloseste Leuteschinder. In den Pittsburgcr Werken gibts noch eine 24-Stunden-Schicht, die berüchtigte Schicht des„Doppelten Lunch-Korbs". Sämtliche „Schmutzaufrührer" des intellektuellen Amerikas haben sich an der Mauer um diese Pittsburger Ungeheuerlichkeit Beulen in die Schädel gerannt. Sobald es sich aber nicht mehr um Geschäft und Eintausch von Energie und Kraft gegen Geld und Nahrung handelt. kehrt Arm und Reich sozusagen wieder sein fühlendes Innere nach außen. WaS riskiert der arme jüdische oder andersgläubige„Bum" bei der ganzen Geschichte? Schlimmer als in seiner Schtvitzbude und seinem Masscnquartier kanns ihm im Freien und bei den Leuten der weiten Einöde auch nicht gehn. Hat er sich erst zum Pacific durchgeschlagen, so ist er ein Lazzarone oder doch etwas Aehnliches und fein heraus. Und wenn auch nicht? Den Tod sieht er immer noch als Tröster und milden Herbergsvater in der Ferne winken. Mögen sich die Wohltätigkeitsvercine seiner„Hinterbliebenen" annehmen. Was schiert ihn Weib und Kind? In ihrer Not und Verwaistheit wird ihnen wahrscheinlich sicherer durchs Leben ge- bolfen werden, als er es zu seinen„Lebzeiten" vermocht hätte. Hat Er sie etwa auf dem Gewissen, sein Weib und seine Kinder? Ohne einzelne Fabriken, die ich gesehen habe, zu denunzieren, muß ich sagen, daß ich auf dermaßen mörderische, unhygienische und verbrecherisch vernachlässigte„Shops" doch nicht vorbereitet war. Daß ich selber heiler Haut aus diesen Räumen herauskam, in denen Treibriemen ohne Schutzgitter herumsausen, siedende Wachsmasse frei herumspritzt, Aethersioffe ohne Maske auf Schuh- leder gerieben werden, tausend Unzukömmlichkeiten auf Schritt und Tritt auffallen und einem das Gefühl revoltieren, dafür sage ich hiermit meinem Schutzengel, der mich auf der ganze» Reise gö treulich begleitet hat, öffentlich tiefgefühlten Dank. Unfallversicherungen, Altersversorgung, Jnvaliditätspension und ähnliche zivilisierte Dinge kennt das demokratische Land des freien Wettbewerbes nicht. Neben den Bettlern mit heiler Haut fallen einem die Verstümmelten aller Katogerien peinlich auf. Rabelais könnte sich keine groteskeren Gesellen wünschen als diese im Ge- triebe des amerikanischen Fabrikswesen zu Schaden gekommenen Gestalten, die einem in den Straßen, in den Salons, an den Dreh- kurbeln der Lifts begegnen. Es muß aber nicht gerade der körperlich Verstümmelke seich dem sich das volle Mitleid des Betrachters zuwendet. Arger ist es, was die heutige Produktionsweise mit der Seele des Arbeiten-- den anfängt.— Di« Scheibe, die die quietschenden Schweine dem kleinen Vier- schrötigen zuführt, in den Armour-Werken, wird durch das Gebot des speed-bvss in Bewegung gesetzt und wenn sie sich bis heute mit einer Schnelligkeit von LS Tieren in der Minute gedreht hat. so genügt eine Kurbeldrehung, um sie sich morgen mit einer Schnei- ligkeit von 30 Tieren in der Minute herumdrehen zu lassen. Wenn das armselige Wesen eben in dem Packsaal täglich IS 000 Blechdosen in Papier wickelt— ihre Hände bewegen sich rasend rasch, so daß man die Finger kaum sieht— so genügt eilt mißgelaunter Blick der Aufseherin und sie wird morgen, bei Ent- lassungsstrafe, 16 000 und 17 000 Dosen einwickeln usw. Unten in der Schlachthalle stehen di« Schlächter in einer Reihe. Vor ihnen ziehen, mit dem dampfenden Leib, der noch blutet, oder der schon durch das Laugenbad gegangen ist, die Tiere an den Ketten aufgehängt, vorüber. Jeder von den Schlächtern hat eine einzige Bewegung auszuführen. Einer rasiert mit einem kurzen scharfen Messer die obere Partie um den Schwanz herum; der nächste in der Reihe rasiert die untere; der nächste trennt mit einem Schnitt den Schwanz vom Rücken ab; der nächste reißt das Eingeweide des Tieres aus dem Bauch heraus; der nächste wirft es auf einen Karren, der sich mechanisch unter ihm fort- bewegt; der nächste trennt aus dem Eingeweide im Karren die Leber weg, usw. Jeder dieser Menschen hat, von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends, denselben kleinen aber wichtigen Handgriff zu vollführen; er muß aufpassen, daß er ihm gelinge, denn die Kette kennt keinen Aufenthalt. Sprechen, sich den Schweiß von der Stirn wischen, da? Blut, das von den Kadavern spritzt, wegzustreichen, wie könnte er das. Er kaut Tabak, das ist seine einzige Erholung, seine Er- lösung.'Was kümmerts ihn, wohin er seinen Tabakssaft spritzt. auf welche Weise er seine Rase erleichtert? Vor ihm ziehen die Tiere an der endlosen Kette vorbei, hinter ihm ist der Aufseher her. Passiert nur ein einziges Tier, ohne daß der Schlächter seine Arbeit an ihm verrichtet, so ist der Schläch- ter erledigt und zwar gründlich. Rechne es dir aus, wie oft ein Mensch, eine Kreatur mit diesem wundervollen Mechanismus des Herzens, des Nerven, und Gan- gliensystems, mit der staunenswerten Muskulatur des Armes, der Gelenke, der Hände und Finger in lOmal und 60mal 60 Sekunden. die gleiche, immer gleiche Bewegung ausführen muß, damit jener Mechanismus, jenes Mysterium nicht stocke, erlösche, damit es notdürftig fort sich friste durch eine dunkle Rächt hinüber zu einem trostlosen Morgen. Drüben in den schönen. lichten und blanken Hallen der be- rühmten Uhrenfabrik von Elgin sitzen 3700 Menschen, von denen jeder eine einzige, kleinwinzige Verrichtung zu besorgen hat. Täg- lich werden dort 2SOO Uhren hergestellt, jede Uhr hat 211 Bestand- teile. Welche Blicke treffen Dich, wenn Du neugierig und wiß- begierig an den Tischen der Arbeiter vorüberschrcitest. Haben Dante in den Pfühlen der Verdammnis solche Menschenblicke getroffen? Und doch sind die, die von ihrer Arbeit aufblicken können, noch die glücklich zu preisenden unter den Sklaven dahier. Vor den meisten zischt und wettert und schlägt eine Maschine, die sie zu bedienen haben. Haarscharfe Nadeln bohren haardünne Löcher in kleine Kupferplättchen,«in Augenblick, ein um einen Millimeter zu weites Vorwärtsschieben des Fingers und die Nadel fährt ins Fleisch, in den Fingernagel, das Brot verschwindet mit dem Bewußtsein, das den Körper mildtätig«in paar Augenblicke lang von feinen Schmerzen erlöst. In vielen Fabriken, Warenhäusern usw. wurden mir kleine Broschüren überadie Baseball-, Tennis- und Fußball-Mannschaften in die Hand gedrückt, sie handelten von den Taten dieser Mann- schaften, der Fabriksmannschasten, in den freien Stunden nach ge- taner Arbeit. Aber ich habe auch die„Whisky-Zeile" gesehen an der Grenze der Schlachthäuser und der Stadt,— wo der Arbeiter seinen„Augen- öffner" am Morgen hinuntergießt ehe er an die Arbeit geht, um seinen Magen zur Aufnahme der Nahrung gefügig zu machen, die ihm bis zur Mittagspause hinüber helfen soll— am Abend aber den Befreiungstrunk hinunterspült, womit er den Ekel und die Ver- zweiflung nach dem Tagewerk, nach den 10 Stunden, die ihm seine Seele vergiftet haben, loswird. Mehr als das, was der Arbeiter nach den Arbeitsstunden mit seiner Zeit beginnt, interessiert es mich, zu erfahren: wie geht es ihm während dieser Stunden seiner Fron? und die Sorge um das Seelenheil des Arbeiters während dieser Stunden ist, scheints mir, ein weit wichtigeres Problem als alle BajeballteamS,
Ausgabe
29 (7.8.1912) 151
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