halte, wurde er zornig und packte sie hart heim Arm. Als er ihren verzerrten Ausdruck sah. mußte er an den Mann mit den wunderlichen Augen denke», der ihn in seiner Kindheit gelehrt hatte, mit den bloßer Händen zu hüten, und � er schämte sich. Er nahm die Kleirijen bei der Hand und ging mit ihnen im Garten umher und erzählte ihnen von den Bäumen und den Büschen, die lebendig waren, ebenso wie sie selbst, und dachte nur daran, es den Kiirdern so recht gemütlich zu machen. Die Zweige, das seien die Arme und Beine, und da könnten sie sich selbst Wohl borstellen, wie entsetzlich es sei, sie abzureißen. Schwester war ganz bleich und sagte nichts, aber Svend Trost, der sich endlich entschlossen hatte, den Mund aufzumachen, und eine förmliche Plaudertasche ge- worden war, schwatzte mit und streckte den Bauch vor wie ein Trommelschläger. Er war ein kleiner kräftiger Bursche, und Ellens Augen verfolgten ihn mit Stolz durch den ganzen Garten...... Es machte einen merkwürdigen Eindruck auf die beiden Kinder, zu wissen, daß alles lebendig war.� Sie bewegten sich immer Hand in Hand umher und hielten sich vorsichtig in den Steigen. Rings umher brach die Erde auf, und sonderbare Wesen brachen daraus hervor, die Bohne?.chatten einen Kübel iihcr dem Kopf, um ihn zu beschützen, und oer Salat schob die gefalteten Hände vor sich in die Höhe, als wolle er um gutes Wetter bitten. Jeden Morgen, wenn sie ihre Runde durch den Garten machten, waren neue Wesen aufgetaucht.„Schi , schi," rief Svend Trost mit einer Stimme, die noch vom Speichel verschleiert war, und stieß mit dem rundlichen Bauch nach den Beeten: zu zeigen wagte er nicht. Sie standen in gebührender Entfernung und unterhielten einander von den neuen Merkwürdigkeiten, vornübergebeugt und die Hände auf dem Rücken versteckt, als seien sie bange, daß das Neue sie in die Finger beißen würde. Es geschah wohl, daß Svend Trosts rundliches Patschhändchen sich auf eigene Faust aufmachte und zupacken wollte, aber er zog sie erschreckt zurück, als habe er sich verbrannt und sagte:„Au!" Und dann stürzten die beiden Kinder in wilder Hrst dem Hause zu. (Fortsetzung folgt.) 51 Tagebuch eines entlassenen Sträflings. Bon Hans von Glümer, Am Wedding . Berlin N., 2. Januar 1909. Vorgestern, am Silvestertage, verließ ich Nordhausen . Mit einer großen Flasche Schnaps und großen Hoffnungen. Nordhäuscr und die norddeutsche vierte Wagcnklasse passen zusammen. Berlin ist schön, betrunken gesehen. Das ist mein Eindruck bis jetzt. Der Bruder holte mich vom Bahnhof Fricdrichftratze. Er ist Berliner aus Neigung, Haiidlungsreiscndcr und Erstgeborener. Das gibt seiner Art eine kühle, anständige Prägung. Die Schwägerin war hübscher als Braut. Sie hat slawisches Blut und sagt, das sei Rasse. Der Ehe sind zwei Mädchen entsprossen, eins vorher, eins nachher. Ella ist acht und fast kein Kind mehr. Käte zählt vier und weiß leider schon, daß sie schön, klug und adelig ist. Die Schwester der Schwägerin, neunzehnjährig, Schürzennäherin, neueste Mode tra- gend und die Nase etwas nach oben gestülpt, mit rötlichen Zähnen, viel mütterlicher als ihre Schwester, sehr anständig und trotzdem neunzehnjährig. Der Bruder der Schwägerinnen, ein frischer Bursch von achtzehn Jahren, Buchbinder, war auch schon auf der Walze, hat das Hungern gelernt und die Menschen von unten herauf gesehen. Er und die. Kinder wissen angeblich nichts„on mir. Kinder aber sind Hellseherisch. Der Silvester wurde ein Fest. Die erste lustige Nacht seit anderthalb Jahr. Eine Freundin der jungen Schwägerin Agnes, eine Siebzehnjährige aus der Nachbarschaft, schlank und geziert, kam zu Tisch, wo Fisch mit Fleischgabeln gegessen wurde und die Steif- heit erst aufhörte, als Bier und Eicrkognak die Geister zur freund- lichen Fülle trieb. Man küßte sich um zwölf und trat auf den Walkon, wo ein frischer Schncewind die Lungen löste zum Neujahrs - grüß, auf allen kreischenden und brüllenden Ballonen die Straße entlang. Die Familie ein Stockwerk tiefer, ein Kollege des Bru- dcrs aus der Papicrbranche, hatte eine Bowle gerichtet. Da saßen wir noch stundenlang bei vielen Spielen, deren Pfänder immer Küsse sind. Ich umlagerte die Lippen der jungen Mädchen. Die Geister in mir waren toll und voll. Die Männer erzählten Schweine- reien unid Frauen und Kinder hörten zu. Ich brachte die junge Nachbarin nach Hause, bis sie schwer atmend sagte: nun ist's genug! Mit Walter, dem jungen Schwager, lustwandelte ich um fünf in die Friedrichstadt , wo der Geist des neuen Jahres um Rinnstein und Laternenpfahl seiner Besoffenheit Luft machte. .Gestern waren wir in der Vers-'.chsbrauerei, einem langweiligen Bierlokal mit Militärmusik, lvo ich Kiel trinken mußte, UM tn Stimmung zu kommen. Mein Zylinderllapphut machte einen er» hebenden Eindruck auf die beiden jungen Mädchen. Auf dem Heim- weg lockte der Bruder uns zu musikalischen Zoten noch in eine arm- selige Vorstadtkneipe, seiner Frau zum Trotz, die mit Kätchen nach Hause rannte. Es gab dann eine Szene. 5. Januar. Wir wohnen im bürgerlichen Wedding , in einer neuen Straße mit hohen, hellen Häusern. Auf unserem Balkon im vierten Stock steht man wie auf einer Riesenmauer über dem Meer. Die Welt- stadt ist das Meer und brandet an dieser Mauer. Hinter dem Hause ist freies Bauland bis zum Virchowkrankenhause. Man kann hier nachts, vom Fenster der guten Stube, viel Himmel und Sterne sehen und jeden Traum ins Endlose gleiten lassen. Die gute Stube ist ein großer sauberer Raum mit vielen Büchern aus Claire von Glümers Nachlaß und einem neuen Schreibtisch, an dem ich nicht schreiben darf. Das Liegesofa ist meine Schlafstätte. Der Bruder ging vorgestern auf Tour und löste damit die Bettfrage. Nun, schlafen die Schwägerinnen mit den Kindern in den Ehebetten in der Wohnstube. Walter hat ein Feldbett auf dem Korridor. Tagsüber hause ich mit Schwägerin Anni allein. Sie ist inier- essant wie alle verlassenen Frauen. Ihr gelbes Gesicht hat keinen Hauch von Fraulichkeit. Sie hat Knochen und kein Herz. Sie ist gefallfreudig, vonstolz und schlampig. Bei den Vormittags- einkäufen schaut sie aus wie ein Weib aus stinkenden Gassen. Sie kennt die Kammergeheimnisse des ganzen Viertels, kann bis zum Mittagsschlage bei Nachbarinnen stehen und zwanzig Stunden arbeiten, ohne aufzusehen. Vor Weihnachten hat sie durch Heim- arbeit wöchentlich bis hundert Mark verdient. Sie kann nächtelang lesen, aber schaurig muß es sein. Sie ist schlau bis zur Raffiniert- heit, Erzählerin, keine Erzieherin, für sich anspruchslos, unsinnlich, aber gierig auf des Mannes Schwächen. 8. Januar. Mit sieben Mark bin ich hergekommen, mutz also auf Existenz schauen. Auch der Verwandtschaft und meiner Gefängnisdirektion zuliebe. Der Bruder hat gleich gesagt, daß sein Haus kein Asyl für Obdachlose ist. Aus dem Gefängnis bin ich nur auf Urlaub ent- lassen und erst in fünf Jahren ganz frei, wenn ich mir bis dahin „nichts zuschulden kommen lasse". Die Vogelfreiheit ist zu nutzen. Die obligaten fünfzig Mark monatlich müssen nach wie vor zur Sparkasse, hat der Bruder befohlen. Erster Versuch: Adressenschreiber. Beim Adressenberlag Robert Teßmer, Markgrafenstratze, persönlich Schriftprobe hinterlegt. Bis heute ohne Antwort. Bei Erfolg ist auf einen Taglohn von einer Mark fünfzig zu rechnen. Zweiter Versuch: Vorleser. Ich habe im„Lokalanzeigcr" inseriert: Schriftsteller sucht Konnexion als Vorleser. sub„Rezitator" Postamt 39. Die Annonce hat keine Anfrage gebracht. Dritter Versuch: Versicherungsagent. Die große Gesellschaft „Friedrich Wilhelm" schreibt heute, daß ich sie mit Papieren besuchen soll. Mein einziges Papier ist der Gefängnisentlassungsschein. Vierter Versuch: Schriftstellerei. � Wer zu schwach zum Kriechen ist, soll das Fliegen lernen. Erste größere Arbeit: Fünf Feuilletons über das moderne Gefängniswesen. Der Waldshuter „Albbote" vervielfältigt sie mir kostenlos: den ersten Auftatz als Muster und einen Prospekt, in dem ein gescheiterter Kolleg« sich als erbar- mungswürdig vorstellt. Da heißt es zum Schluß:„Auf ausdrück- lichen Wunsch, gestützt auf Redaktionsgeheimn's, nenne ich meinen Namen. Im übrigen ist der Unterzeichnete für die Artikel verant- wortlich und nimmt Bestellung und Geld entgegen." Schwager Walter soll unterzeichnen. Ich muß eine gute Stunde abpassen, meine schändliche Vergangenheit und sein Ehrenamt ihm vcrständ- lich zu machen. Das Angebot geht an zweihundert Zeitungen: zehn bis zwanzig Mark Honorar für fünf Aufsätze. Reagieren fünfund» Zwanzig Prozent, erlöse ich 50 X 1ö— 750 M. und bin Millionär. 30. Januar. Es reagiert niemand. Ein armer Teufel soll nicht mit fünf- undzwanzig Prozent Mitleid rechnen. Nicht mit fünf pro Mille. Auf zweihundert Angebote: nichts! Kein Brief, nicht eine einzige gedruckte Ablehnung. In der„Straßburger Post" erschien vor zwei Wochen ein wenige Tage vorher geschriebenes Stimmungsbild„Rodelsahrtcn im Schwarzwald . Von H. G. ", daS 24,50 M. Honorar einbrachte, darunter 3 M. Zweitdruckhonorar von der. Konstanzer Zeitung" und 10 M. vom„Donaueschinger Tageblatt", dessen Besitzer 7 M. mehr als gefordert, schickte und zu Berliner Berichten ermunterte. Eben kommt doch ein Auftrag: Der Schwarzwälder in Villingen nimmt die fünf Gefängnisfeuilletons für 10 M. Also fünf Ze:- tungssreundc bis jetzt. Nur solche, die mich kennen. „Weit über Berg und Tal reisen die Gedanken. Ich denke an das Land meiner Leiden. Leidvoll und sreudereich. Du liebes Land! Lieb und traut und schön, selbst dort, wo hohe scharsbewachte Mauern mein letztes Heim umschlossen." So steht in den„Rodel- fahrten". Die Stimmung ist nicht fabriziert. Der Süden scheint besser. Berlin ist eine Dirne, die in der ersten Nacht schon ganz zu Willen war und seitdem. nichts mehr bietet. Was ist hier? Anni lacht über meine Erfolge. Die beiden jungen Mädchen sind aus-
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29 (28.9.1912) 189
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