HlnterHattungsblatt des HorwSrts Nr. 209 Sonnabend den 26. Oktober. 191? (Nachdruck verlolea.1 48] pelle der Gröberer. Von M. AndersenNexö. Uebersetzt von Mathilde Mann . Pelle hatte ja immer ein dunkles Gefühl mit sich herum- getragen, daß er auserwählt war: schon während er noch ein Kind war, ließ ihn das Gefühl einer harten Welt unverzagt entgegensehen und füllte seine nackten Glieder mit Spann- kraft. Nackend und arm kam er in die Welt hinein, scheinbar ohne eine Wiegengabe irgendwelcher Art, und doch kam er als lichte Verheißung zu dem alternden, von Arbeit gekrümm- ten Vater Lasse. Es strahlte Licht von ihm aus, eine wie geringe und gewöhnliche Tatsache es auch war: der liebe Gott habe ihm den Funken gegeben, sagte der Alte immer. Wie ein kleines Wunder des Himmels hatte der Alte immer zu ihm aufgesehen, der kleine Pelle staunte ja ein wenig darüber, fühlte sich aber heimisch in der Freude des Vaters. Er selbst kannte damals ganz andere Wunder, zum Beispiel die Kälber des Marktplatzes mit den zwei Köpfen und das Lamm mit den acht Beinen. Er stellte seine eigenen Ansprüche an den wunderbaren Reichtum des Lebens und geriet nicht in Ver- wunderung über einen ganz gewöhnlichen kleinen Burschen mit Schlappohren, wie man ihn jeden Tag treffen konnte. Aber nun war er nahe daran, Vater Lasse Recht zu geben. Die größten Wunder lagen ja in ihm selber, in ihm, Pelle, der hundert Millionen andern Arbeitern glich, und noch nie mehr besessen hatte als das tägliche Brot. Der Mensch, das war doch das wunderlichste von allem. War er nicht selbst— in all seiner täglichen Selbstverständlichkeit— als leuchtender Funke der mächtigen Esse des Gottesgedankens entsprungen? Bis an die äußerste Grenze des Raumes hinaus konnte er seinen fragenden Gedanken senden und zurück zu der ersten Morgenröte der Zeiten! Und diese alles umspannende Fähigkeit schien aus nichts hervorgegangen zu fein, so wie Gott selbst! Ein Wunder war ja schon allein das, daß er, der Streitrufer ins Gefängnis mußte, um das große Ziel der Dinge zu begreifen!— Es mußten weitreichende Pläne in ihm niedergelegt sein, da er sich selbst einsperrte. Wenn er über die Erhebung hinaussah, fühlte er sich einem Weltgedanken gegenüber, mit unendlich weiter Aussicht. Durch Jahrtausende hindurch hatte das Volk, ohne es zu ahnen, sich darauf vorbereitet, in eine neue Welt einzuziehen: der Wanderung der Massen ließ sich wohl kein Eiuhalt tun, ehe sie ans Ziel gelangt waren. Ein Gesetz, das sie nicht ein-. mal selbst kannten, und in das sie nicht einzugreifen ver- mochten, führte sie den rechten Weg: und Pelle war nicht bange. Hinter seiner nie schlummernden Arbeit an dem großen Problem der Zeit stand die Erkenntnis, daß er zu denen gehörte, auf die die Nation die Verantwortung für die Zukunft legte: aber über das Ziel war er sich niemals im Zweifel. Und auch nicht über die Mittel! Die Weitsehenden hatten sich während der großen Aussperrung davor gegraut, wie es möglich sein würde, alle diese Massen ins Feuer zu führen. Und dann hatte sich das Ganze natürlich aus sich selbst entrollt, von einer scheinbar winzig kleinen Ursache zu einem unerbittlich geführten Kampf über die ganze Linie. Einen so großen Anspruch wie der, mit dem er und die Seinen kamen, hatte die Welt auch noch nie gesehen! Es handelte sich um nichts geringeres als um den Sieg der Güte! Er bediente sich nicht gern großer Worte, aber aus dem Grunde feiner Seele war er davon überzeugt, daß alles Böse seinen Ursprung in Not und Elend hatte. Mißtrauen und Eigen- nutz kamen von Mißbrauch� das war der Schutz der Menschen gegen die Ausnutzung! Und das Ausbeuten war eine Folge der unsicheren Zustände, der Erinnerung an Not oder der un- bewußten Furcht davor! Die meisten Verbrechen ließen sich leicht auf die traurigen Zustände zurückführen, und selbst da, wo die Verbindung nicht sichtbar war, hatte er die feste Ueber- zeugung. daß sie trotzdem existierte. Seiner Erfahrung nach waren alle Menschen im Grunde gut: das Böse in ihnen ließ sich immer auf etwas Bestimmtes zurückführen, während die Güte oft trotz allem vorhanden war. Sie würde völlig siegen, wenn die Zustände für alle gesichert wurden. Selbst die Ver- brechen> die auf Abnormität zurückzuführen waren, würden, dessen war er sicher, von selbst fortfallen, wenn es in der menschlichen Gesellschaft keine verborgene Erinnerung an das Elend mehr gab. Es lag wie ein lichter Glaube in ihm, daß er und die Seinen die Erde erneuern sollten: das Volk sollte sie zu einem Wradies für die Vielen machen, wie es sie bereits zu einem Paradies für einige Wenige gemacht hatte. Es gehörte ein großer und langmütiger Sinn dazu, aber sein Heer war ja gründlich erprobt! Sie, die durch undenkbare Zeiten geduldig den Druck des Daseins für andere getragen hatten, mußten dazu geeignet sein, die Führung in die neue Zeit hinein zu übernehmen. Pelle war auf seiner Morgenwanderung ganz bis auf den Strandweg hinabgelangt: es war zu spät zum Umkehren, und er hatte einen Heißhunger. Er kaufte sich ein Paar warme Semmeln bei einem Bäcker und verzehrte sie auf dem Wege ins Geschäft. � � * Gegen Mittag war Brun im Betrieb, um einige Schrift- stücke zu unterschreiben, und die Bücher mit Pelle durchzusehen. Sie saßen oben im Kontor hinter dem Laden. Pelle las vor und kam mit seinen Bemerkungen, der Alte hörte mit halbem Ohr zu und nickte nur: er sehnte sich nach Hause zurück. „Kannst Du es nicht möglichst schnell abmachen," sagte er,„ich fühle mich nicht ganz wohl." Der scharfe Frühlingswind war nicht gut für ihn, es wurde ihm schwer zu atmen. Der Arzt hatte zu einem mehrmonatigen Aufenthalt an der Riviera geraten, bis der Frühling vorüber war. Er hatte nicht recht Mut, sich allein auf die Reise zu begeben. Die Ladenglocke läutete, und Pelle ging hinunter, um den Kunden zu bedienen. Ein junger, sonnengebräunter Mann stand vor dem Ladentisch und lachte. „Kennst Du mich nicht?" sagte er und hielt Pelle die Hand hin. Es war Karl, der Jüngste von den drei Waisen aus der Arche. „Freilich kenne ich Dich!" rief Pelle erfreut.„Ich habe Dich in der Adelsstraße aufgesucht, dort sagte man mir. Du hättest ein eigenes Geschäft. Das war schon lange her! Jetzt war Karl Anker Leiter eines großen Konsunivereins auf Fünen . Er war herüber- gekommen, um einen Posten Schuhzeug für das Geschäft bei Pelle zu bestellen.„Es ist nur ein Versuch," sagte er.„Wenn die Sache einschlägt, will ich Dich mit dem Genossenschasts- verband in Verbindung bringen: das ist ein Kunde, der was absetzt, das kannst Du mir glauben!" Pelle niußte sich beeilen, die Bestellung anzunehmen, Karl wollte wieder mit dem Zug zurück. „Es ist eine Schande, daß Du keine Zeit hast, mit hinüber- zukommen und Dir den Betrieb anzusehen," sagte Pelle. „Entsinnst Du Dich noch des kleinen Paul aus der Arche? Des Jungen von der Fabrikarbeiterin, den sie an den Ofen festband, wenn sie auf Arbeit ging? Er ist ein famosev Bursche geworden, er ist meine rechte Hand in der Fabrik. Es würde ihm Freude machen, Dich zu begrüßen." Als Pelle die Tür hinter Karl geschlossen hatte, und wieder zu dem Alten in das Kontor hinaufgehen wollte, er» blickte er eine kleine, ein wenig verwachsene Frau mit einem Kinde: sie gingen oben vor den Werkstattfenstern auf und nieder und guckten verstohlen hinab. Sie wichen scheu den Leuten aus und machten einen erbärmlich eingeschüchterten Eindruck. Pelle rief sie in den Laden hinein. „Wollt Ihr mit Peter Drejer sprechen?" fragte er. Die Frau nickte. Sie hatte ein feines Gesicht mit großen, traurigen Augen.„Wenn wir nicht stören," sagte sie. Pelle rief Peter Drejer und ging ins Kontor hinauf; der alte Brun saß da und war eingeschlafen. Er hörte sie da unten fliistern. Peter Drejer war heftig, die Frau und das Kind weinten, er konnte das an dem Ton ihres Flüsterns hören. Das Ganze währte nur einen Augen- blick, dann ließ Peter sie hinaus. Pelle eilte in den Laden hinunter... „Wenn es sich um Geld handelt, so weißt Du ja, daß Du cS mir zu sagen brauchst," sagte er hastig
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29 (26.10.1912) 209
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