NnlerhalwngsSlatt des Horwärts Nr. 218� Dienstag den 8. November 1912 c?ta«dru« verdorea� Vit Oberwälder. Von Alfred Bock  . 2. Unweit der alten Fachwerkkirche erhob sich das neue Schulhaus, ein nüchterner Bau, der erst vor einigen Wochen feiner Bestimmung übergeben worden war. Die Einweihungs- feier bedeutete das Ende jahrelanger erbitterter Kämpfe, denn die Großen wie die Kleinen hatten den Neubau für ihr Gebiet in Anspruch genommen. Die Sache gelangte unerwartet zum Abschluß, als der Jöckelsheinrich, der in kinderloser Ehe lebte, Grund und Boden unentgeltlich zur Verfügung stellte. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich außer dem Vorplatz der saalartige Unterrichtsraum, im oberen Stock die Wohnung des Lehrers. Ob der Baracke, in der er gehaust, hatten die Schulmeister des Kreises ihren Kollegen WeilandtHans von der Luft" getauft. Das war nun mit einem Male anders geworden. Vier schöne Zimmer von mittlerer Größe boten dem jungen Lehrer ein. wie er meinte, fürstliches Quartier. Daß die Aus- stattung gar dürftig war, focht ihn weiter nicht an. Weilandt entstammte einer alten Lehrerfamilie. Noch sein Großvater war neben dem Schulamt verpflichtet, die Glocken zu läuten, das Taufbecken zu trogen und den Leichen- bitter zu spielen. In seinem Nachlaß befanden sich Aufzeich- nungen, die der Enkel als Vermächtnis bewahrte. Eine Stelle darin lautete:Ich habe mich in meinem langen, mit Mühsal beladenen Leben über jeden Sonnenblick gefreut. Gemüts- freudigkeit ist die Quelle meines Wohlbefindens. Vom ersten Tage an, da ich in mein Lehramt trat, habe ich mir vorgestellt, daß Fröhlichkeit der Grundton ist, auf den die Seele des Kindes gestimmt sein soll. Dem Bildner der Jugend, der sie nicht kennt und nährt, fehlt das Beste zu seinem Berufe." Ein gut Teil von der Gemütsfreudigkeit des Großvaters lebte in dem früh verwaisten Enkel wieder auf. Der war von einem Verwandten für das Seminar in Friedberg   herangebildet worden. Obwohl er sich keineswegs durch besondere Kennt- nisse auszeichnete, hoben ihn doch feine Schlagfertigkeit und eine eigene Art, Menschen und Dinge zu betrachten, über den Durchschnitt der Zöglinge hinaus. Er wohnte bei einem Kaufmann, der nach des Tages Last und Hast öfter das Be- dllrfnis fühlte, einer guten Flasche den Hals zu brechen, und in dem jungen Seminaristen einen verständnisvollen Genosten entdeckte. Mit einem nicht gerade glänzenden Abgangs- zeugnis verließ Weilandt die Anstalt, um seine Lehrbesähi- gung zuerst an einer Privatschule in Mainz   zu erweisen. Dort geriet er in den Strudel rheinischen Lebens, wobei er seine guten Grundsätze manchmal in die Ferien schickte. Just, da die Wogen am höchsten gingen, ward ihm die frei ge- wordene Lehrerstelle in dem entlegenen oberhessischen Dörf­chen übertragen. Die Berufung goß Wasser in seinen Wein, doch sah er sie als einen Wink des Schicksals an. In aller Stille packte er seine Siebensachen und schied von dem über- mütigen, goldenen Mainz  . Die herbe Schönheit des Vogels- bergs war ihm bis dahin fremd gewesen. Im Dunkel der unvermeßlichen Wälder, auf den weiten, einsamen Höhen- flächen lernte er sich auf sich selbst besinnen. Das Nächste. Wichtigste schien ihm, daß er das Vertrauen seiner Umgebung gewann. DaS Selbstgefällige, Ueberhebliche, wozu er von Natur geneigt war, wollte er mannhaft unterdrücken. Un- geschminkt ferne Meinung zu sagen, für seine Ueberzeugung einzutreten, würde er sich nicht verwehren lassen. Seine» Schülern und Schülerinnen gegenüber nahm er sich vor. nicht den Zuchtmeister herauszukehren, sondern einen Weg zu suchen, daß sie ihren Freund und Führer in ihm erkannten. Ihm lag ob, die Kinder für die Aufgaben in Staat und Ge- meinde vorzubereiten. Dabei konnte er der Mithilfe der Eltern nicht entraten. So war er von vornherein darauf hin- gewiesen, sich zu den einzelnen Familien in ein freundliches Verhältnis zu setzen. In der gesegneten Wetterau aufgc- wachsen, war er mit den ländlichen Dingen wohl vertraut. Klaren Blicks erkannte er, wieviel Veraltetes, Unzeitgemäßes hier im Gebirg zu bekämpfen, wieviel zu tun und zu bessern sei. Drei Jahre lang hintereinander besuchte er in der Pro- vinzialhauptstadt Kurse, die die Lehrer zum Studium der Landwirtschaft anregen sollten. Als einer der ersten unter seinen Kollegen erwirkte er von seiner vorgesetzten Behörde die Erlaubnis, die Landwirtschaft in den Unterricht der Fort- bildungsschule einzubeziehen. Sein Lehrplan umfaßte die Fach- und Naturwissenschaften, deren Kenntnis zur Führung eines geordneten bäuerlichen Betriebs erforderlich war. Voller Eifer ging er ans Werk. Stand die Ernte auch noch in weitem Feld, hatte er doch die Genugtuung, seine Aussaat keimen zu sehen. Was seinem Vorgänger nicht gelungen war, durfte er sich zum Verdienst anrechnen: er begann unter den schwer zugänglichen, steifköpfigen Oberwäldern festen Fuß zu fassen. Freilich war seiner Volkstümlichkeit die Grenze ge- zogen. Denn als er mit aller Vorsicht versuchte, dem ge- hässigen Treiben der Parteien entgegenzuwirken, stieß er auf entschiedenen Widerstand, ja er steckte noch Grobheiten ein. Dessenungeachtet lebte der Glaube in ihm, der Tag müsse kommen, wo sie hüben und drüben Hand anlegten, die Brücke über den Bach zu schlagen. Die Matternslene, die den Lehrer zu beköstigen hatte, brachte das erste Frühstück. Das war so reichlich, daß Weilandt meinte, ihrer drei hätten daran genug. Gut gefrühstückt spürt man den ganzen Tag," sagte die Lene, eine dickbackige Vierzigerin,'s is merkwürdig, Herr Lehrer, waS Sie für ein schlechter Esser fern.:e können Sie dann nur bestehn? Wann Sie emal geHeirat' sein, hat Ihnen Ihre Frau leicht kochen. Etz der Herr Lehrer Hinkler   selig, der war anders darin. Dem tat's schmecken, daß man das Messer am Leib gewetzen könnt. Und ließ kein Bröckelchen umkommen. Wann's aber abends jtartoffclklöß' gab, macht er seine Späß und sagt:Frau Mattcrn, der Tod guckt über die Uebertur!" No, so ein Stücker fufzehn tat er bei sich packen." Weilandt lachte. Am End' ist er daran gestorben." O nee," sprach die Lene, so recht in ihrem Element. Wie ich ihm das letztemal das Essen bracht', sagt er:'s riecht gar gut, Frau Mattern, aber's geht nix mehr an mich." 's gab sellemal Kohlraben und Solpertnöchelcher.'s war schab defür. He wollt' partu nir. Etz am Zwiewanst is he net zugrund' gegangen. Der böse Husten bat ihn belangt." Sie nahm ihren Korb und watschelte hinaus. Der Lehrer Hinkler selig hatte einen Stein bei ihr im Brett gehabt. Aber auch sein Nachfolger brauchte sich nicht über sie zu be- schweren. Sie tischte ihm gewaltige Portionen auf. Und für geringes Entgelt. Seide konnte sie nicht dabei spinnen. Weilandt trat ans offne Fenster. Sein Blick glitt über das farbenbunte Gelände. Die Arnika blühte, der Steinbruch und das Benediktcnkraut. Ueber Nacht, dünkte ibn, war das Blumenwunder erstanden. Mit weitgeöffneten Nüstern sog er den Würzduft ein. Nirgends hatte er sich der Natur so nahe gefühlt, nirgends war ihm die Pracht des Frühlings so in die Seele gedrungen wie hier im hohen Vogelsberg. Und erst gestern hatte ihm ein Freund aus der Wetterau ge- schrieben:Wie mag's Dir in Deinem Sibirien   zumute sein? Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, daß die Schlehen und Holzäpfel bei Euch geraten." Derlei Spitz- und Witzreden über den Vogelsberg   waren im Schwange. Wenn er die Wahrheit bekannte: er trug kein Verlangen nach dem Land, wo Milch und Honig floß. Dies Sibirien   hatte sein Herz gewonnen. Drunten fuhr der Völbelsheinrich mit seinem Gespann vorbei. Der hatte kein Auge für die Herrlichkeit, die vor ibm gebreitet lag. Einer wie alle. Die Bauern schauten die Natur nur darauf an, was sie ihnen gab oder verweigerte. Gedanken, die über das unmittelbar Wirkende, Praktische hinausgingen, kannten sie nicht. Daher auch ihre mehr oder minder versteckte Feindseligkeil gegen die Schule. Lesen, Schreiben und Rechnen, das ließen sie noch gelten. Alles andere war ihnen Alfanzerei. Daß Kinder den Unterricht ver- säumten, weil sie von ihren Eltern gezwungen wurden, da- heim in der Wirtschast zu schaffen, war gang und gäbe. Er- stattete er Anzeige, hetzte er das ganze Dorf auf sich. Selten, daß gütliche Worte halfen. Meist hieß es den Aerger hin-