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Deva Nam muß mich für sehr schwer halten. Er bindet mich| spruch in fich zu der dauernden Beweg ing, deren Wefen abgespiegelt feft wie einen gefährlichen Gefangenen. Ich schlüpfe mit den werden soll. Unbedingt haftet ihr etwas Mechanisches an, und dies Beinen in die Seilösen und greife feft um die vordere Stange des Seilwagens.
„ Nein, Sahib, noch nicht," antwortete Deva Ram Was fehlt noch?"
" Das Geschirr hält schon, damit hat es feine Gefahr. Aber wer nicht daran gewöhnt ist, den Fluß unter sich zu sehen, der tann schwindlig werden, die Besinnung verlieren, mit den Händen loslassen, rücklings hinunterschlagen, aus den Schlingen herausgleiten und mit dem Kopfe voran in den Langtschen- kamba hinabstürzen."
Ich werde nicht schwindlig."
" Der Sicherheit halber winden wir Ihnen doch noch lieber zweimal ein Seil um den Leib und um die übrigen Stride. So, nun ist es gut! Jett fönnen Sie die Hände loslassen, Sahib, ohne zu fallen."
Los!" rief ich mit lauterer Stimme als das vorige Mal. Deva Ram gibt sein Zeichen, der Seilwagen beginnt zu gleiten; ich schwebe über den Rand hinaus und sehe nun unter mir in der Tiefe die grauweißen Wellen des Flusses dahinvollen. Eine Ewigkeit vergeht. Weshalb komme ich denn nicht schon drüben an? Es sind ja nur 35 Meter. Droben auf den Höhen ist mein altes Tibet . Drunten in den Ebenen ist Indien . Meine Karawane ist auseinandergerissen. Ich selbst schwebe zwischen dem Himmel und dem mörderischen Satledsch. Ich habe diesen Fluß erforscht und seine ursprüngliche Quelle gefunden. Die Entdeckung kostete gewiß ein Opfer! Nie hatte ich vor dem gewaltigen, majestätischen Flusse solchen Respekt gehabt wie in diesem Augenblick, und auf einmal hatte ich Verständnis für die Tschortenpyramiden und Steinmale der Tibeter an Ufern und Brücken, jene Rufe um Hilfe gegen unbezwingliche Naturkräfte und jene bersteinerten Gebete zu unerbittlichen Göttern. Mein Blick fällt auf den weißen, im Abgrunde drunten siedenden Riesenkessel. Wie groß artig, wie hinreißend schön! Die Sprache befibt keine Worte da für, fein Meister kann dieses Bild malen, die schwindelerregende Vogelperspektive läßt sich nicht auf der Leinwand wiedergeben. Nur nach einem Modelle fönnte man sich einen Begriff davon machen. Hört nur das konzentrierte Dröhnen dieses Wasserdonners, das sich mit jedem Augenblick erneuert. Es füllt die enge Steinrinne an, und ich schwebe inmitten eines Chaos von Schallwellen, die einander von allen Seiten her freuzen.
Ich schaukle bei jedem Ruck, den das Ziehen der Leute verursacht, hin und her. Holla! Nur noch zwei Meter bis an den Rand des Steindammes. Herrliches Land! Hat das Kabel so lange gehalten, so wird es nicht gerade jezt mit verhängnisvollem Krachen reißen. Zieht! Nur noch ein Meter. Mit einem behaglichen Gefühle des Geborgenseins gleite ich über dem Steindamm weiter und bin im Handumdrehen aller Bande und Fesseln ledig! Die beiden Europäer heißen mit in deutscher Sprache herzlich willkommen und gratulieren mir, daß ich die kurze Himmelsreise ohne weitere Abenteuer überstanden habe. Sie sind Herrenhuter Missionare und heißen Marg und Schnabel. Innerhalb einer Minute sind wir schon so gut miteinander bekannt wie Jugendfreunde.
Ueber Literaturgeschichten.
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ist der Grund der beweglichen Klage, die von den Künstlern immer wieder erhoben wird über die Stegiftraturen und Schubfächer", und die Etiketten, die ihnen der eifrige Historifer aufklebe für ſein System. Es tommt nun alles darauf an, eine Methode zu wählen, die möglichst wenig mechanisch ist. Als Meyers Literatura geschichte bor zehn Jahren erschien, erregte sie zunächst durch ihre sonderbare Einteilung Verwunderung. Meher hatte sein Jahrhundert in zehn zehn mathematisch gleiche Teile zerlegt und schrieb die Geschichte nach Dezennien. Es ist aber klar, daß gerade dieses Verfahren alle Nachteile des Mechanischen besonders start ausgeprägt zeigen mußte. Meyer fand also leb haften Widerspruch, und obwohl er sich mit großer Beredsamkeit vera teidigte, gab er schließlich nach und näherte in den späteren Auss gaben sein Wert der üblichen Kapiteleinteilung an. Aber auch dies geschah äußerlich, also wiederum- mechanisch: zu einer vollkommenen Ümarbeitung fonnte sich Meyer offenbar doch nicht verstehen, und so ist denn die alte Dezennienverfassung deutlich noch durch die Lücken der neuen Konstitution spürbar, wie altes Sparrenwerk durch einen neuen Anstrich. Immer noch werden Dichter häufig neben einander gestellt, bloß weil sie das gleiche Geburtsjahr gemeinsam haben. Der Uebergang wird dann ganz äußerlich und mechanisch vollzogen, etwa:„ Nur ein Jahr trennt von dem größten Lyrifer nach Goethe zwei Dichter" worauf sich dann an Heine unmittelbar anreihen der patriotische Märker Chr. Fr. Scherenberg und der oppositionelle Spielmann Hoffmann von Fallersleben . Und in ähnlicher Weise geht es, hurra, hurra, hopp, hopp, hopp, über alle Gegensäge hinweg, von dem schweizer Boltsschriftsteller Jer. Gotthelf zu dem preußischen General und romantischen Politiker Radowitz( beide aus dem Jahr 1797), von der Droste zu Heine( 1797), von dem Realismus der Ebner- Eschenbach zur Künstlerromantit Paul Henies( beide 1830). und auch sonst ist Meyer, weil er, aus der Enge und Einseitigkeit feines Systems heraus, nicht organisch gliedern tann, gezwungen, die wunderlichsten Notbrücken zu schlagen; so etwa um von Grill parzer und seinen Altersdramen zu Rückert zu gelangen; oder wenn er von Moltke ( 1800) über den frommen Lyrifer Spitta und den groben Humoristen Bog. Golz aus dem Vorhof unferes Jahrzehnts in sein Innenstad", nämlich Grabbe( alle drei 1801) eintritt. Aehn lich reiht er mit rein äußerlichem Wiß an den schwäbischen Novel liften und Romantiker Hauff den jungdeutschen Weltwanderer Bückler , an den freundlichen Humoristen Trojan Th. Storm , als einen " ganz anderen Virtuosen der Stimmung"( unbestreitbar 1). kommt er dann dazu, ganz im Gegeniaz zu seiner annalistischen Methode und doch in Konsequenz daraus, den jungen romantisch gefärbten Georg Hermann vor den alten Naturalisten Kretzer zu stellen, die Erbin der älteren Künstlerromantik Jsolde Kurz und den " Heimatkünstler" Hermann Hesse an die tapfere Realistin Clara Biebig anzuschließen, und die historischen Romane der HandelMazzetti, deren Wesen durchaus mit den Strömungen der letzten Jahre verbunden ist, vor den Naturalismus zu stellen- bloß, weil er gerade ein paar andere Romanschriftstellerinnen unter der Feder hatte. Meyer bildet dann Kapitel, die so allgemein sind, daß ihnen beinahe jede spezifische Charafteristik abgeht:„ Kampf zwischen Pessimismus und Lebensfreude"," fremde Vorbilder und deutsche Pfadsucher", Freude an der Fülle des Daseins". Diese Kapitel wie etwa auch " Der neue Roman" find mit den von allen Seiten her zusammengerafften Tatsachen angefüllt wie ein gepfropfter Rucksack, bei dem es ja auch mehr auf die Vollzähligkeit des Mitgenommenen als auf Ordnung und Uebersicht ankommt. So findet man mit großem Era staunen neben Frenzel und Mauthner, Herm. Grimm und Hillebrand im Kapitel„ Wissenschaft und Kritik" auch Spielhagen und Fitger ; und Fr. Halm hätte sich gewiß mit allen Kräften zur Wehr gefegt, in ein Kapitel„ Sturm und Drang " eingereiht zu werden. Das schmeckt wie Most und Limonade in einem Glase!
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Das Bedürfnis, einen Ueberbick zu gewinnen über die Fülle von Erscheinungen, die in ihrer Gesamtheit die Literatur eines Volkes ausmachen, die sich beständig breiter dehnt wie ein Strom, je weiter er fließt, sich über Wert und Wesen des einzelnen wie über die Entwidelung des Ganzen orientieren zu lassen, ist längst nicht mehr ein Vorrecht der bürgerlichen intellektuellen Oberschichte. An Stelle der großen fostspieligen für sie bestimmten Werke find lange billigere Genug der Beweise, daß es an der Meyerfchen Literaturgeschichte und bequemere Handbücher für den bürgerlichen Hausgebrauch ge- an der Grundeigenschaft des großen Geschichtswerks durchaus getreten, und auch an tleinen Kompendien, die ihre Datenweisheit und bricht: seine Periode organisch aus ihren Voraussetzungen erwachsen raschgefügten Urteile in die weitesten Streife tragen, fehlt es nicht. zu lassen, denn auch seine mechanische Durchführung des schwierigen Eine Literaturgeschichte nach den Gesichtspunkten der materialistischen historischen Problems beruht ja im letzten Ende darauf, daß Geschichtsauffaffung gibt es dagegen noch nicht. Auch das Proletariat ihm die große Linie in einzelne Atome zerstäubt, daß er ist, wenn es fich Licht verschaffen will über das Werden der Werke feiner liberalen Weltanschauung gemäß nur das Individuum Gesamtheit. unferer Großen, nach denen es immer durftiger sich drängt, noch an sieht, nicht die Er erklärt es eingangs als bor allem die gewiefen auf die Erzeugnisse bürgerlich- profefforaler Gelehrsamkeit feine Aufgabe, Individuen als Träger und bürgerlich- journalistischer Routine. Und der Spekulationsgeist der Entwickelung darzustellen", und er gleich darauf der bürgerlichen Verleger macht sich bereits durch billige Volts- fagt:" Die ganze Nation ist die Schöpferin ihrer Dichter und ihrer ausgaben neuer oder schon bewährter Werke daran, dieses Verlangen Dichtung", so bleibt das eben eine schöne, aber ganz wirkungslose zum Vorteil seines Beutels zu befriedigen. Um so mehr ist es Stapitelschlußphrase. Man kann sich taum eine abstraktere Dar notwendig, daß wir uns flar werden über die Mängel und Grenzen stellung von Literatur denken, wirklich abgezogen von den Realitäten dieser Erzeugniffe. des geschichtlichen Lebens. Es wird einem vielleicht nirgends so Eine der erfolgreichsten unter den neueren deutschen Literatur empfindlich flar, wie hier, daß Gervinus und Hettner, die großen gefchichten, des Berliner Professors Rich. M. Meyer Deutsche historiker unseres Schrifttums, nie Schule gemacht haben. Literatur des 19. Jahrhunderts", ist seit ihrem ersten Meyer schildert eine Literatur, die weit über dem Boden schwebt, Erscheinen zur Jahrhundertwende in vier starken Auflagen verbreitet auf dem wir wandeln, und sich unablässig um sich selbst bewegt, worden. Nun wird sie in einer Volksausgabe auf den Markt ge- ein Kunstfeuerwerk. das farbenbunte Strahlen wechselnd herabsendet. bracht.( Mit Porträts. Berlin , bei Gg. Bondi, Preis 4,50 M.) Goethe war fein Patriot im gewöhnlichen Sinne des Wortes;„ daDas Grundproblem, über das sich der Professor einer Literatur- durch" werden die jüngeren Dichter angeregt auf Pfaden, die er geschichte zunächst ins flare fommen muß, ist die Einteilung seines verschmähte, zu neuen Taten poetischen Schaffens auszuziehen." Stoffes, die Periodifierung. Das ist ein notwendiges Uebel. Sie„ Es lag in der Stimmung der Zeit zu verzweifeln," findet Meyer, dient dazu, uns die Entwickelung zu verdeutlichen gerade dadurch, und hat hiermit den Urgrund der Melancholie Lenaus und seiner daß wir einzelne Punkte figieren. Aber das trägt schon einen Wider- Generation aufgedeckt! Eine neue Enuvi lelungsphase beginnt, weil