Nnlerhalwngsblatt des vorwärts Nr. 235 Mittwoch i)en 4. Dezember� 1912 KnaQMud vcrvsl-n.) 2] Hlbertine, Roman von Christian Krohg  . Von der Straße drang ein Geräusch herauf. Sie hob die Halbgardine in die Höhe und sah hinaus. An dem hohen, grauen Bretterzaun mit dem Fabrikschornstein dahinter, der sich von der schwarzen Luft abhob, kam ein Schlitten mit schmutzigem Schnee und zerschlagenen Eisstücken entlang- gehumpelt. Der Mann ging daneben die Schneeschaufel war oben in den Schnee hineingesteckt. Sie ließ die Gardine wieder fallen. Nu is die Uhr zwei," sagte Mutter Christiansen, als schwatze sie mit dem Ofen. Hast Du sie bei Olsens schlagen hören?" Ja sie schlug zwei Schläge." Na, denn war es nun ja auch zu spät zum Ausgehen. Ehe sie den Regenmantel von Oline geholt und da hinein- gekommen war, hatte die Musik ja längst zu spielen auf- gehört. Ja, nicht, daß sie den Regenmantel hatte leihen wollen, nein, um nichts in der Welt wollte sie was von Oline leihen, aber doch, zu spät wäre es nun ja gewesen jetzt kam die Musik durch die Karl-Johann-Straße, jetzt zog sie beim Grand vorbei, jetzt erhob der Tambourmajor den Stock mit dem großen, silbernen Knopf. Sicher tat er das gerade jetzt, in diesem Augenblick und dann fingen sie an, und dann spielten sie bis sie an den Studentenhain ge- kommen waren, und da hörten sie wieder auf. Nein, sie vergaß ja ganz zu nähen.-- Acht Tage waren vergangen. Keine Veränderung, der Himmel über dem Bretterzaun gegenüber war noch ebenso schwarz, sie saß noch immer da die zehn Kronen hatte sie nicht bekommen, und nein um keinen Preis der Welt wollte sie Oline um etwas bitten. Sie nähte es waren einige Taschentücher, die sie auf der Maschine säumte. Das Winterlicht fiel herein, gleich hart, gleich spärlich. In der Ofenecke hustete Eduard, und die Alte kochte ihr Essen. Du, Eduard!" >5a. Ach. sieh doch mal nach, ob heute Musik im Studenten- Hain ist." Ja, ich will gleich nachsehen. Hier steht es: Programm sür das Musikkorps der zweiten Brigade am 4. April: fran- zösische Lustspielouvertüre, Walzer, Brautchor aus Lohengrin  , ha Eeine du Bai" Der Kadettenmarsch also nicht?" Nein." Sie hatte mit dem Nähen innegehalten und sich in den Shchl zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Sie war noch bleicher geworden in diesen acht Tagen. --- Es war Frühling und herrliches Wetter und vor ihr lag die Karl-Johann-Straße. Am Studentenhain unter den lichtgrünen Bäumen hörte sie die Musik, die den Ka- dettenmarsch spielte oben am Ende des Schloßhügels lag das Schloß groß und weiß, und die langen Reihen der Fenster und der Balkon davor glitzerten in der Sonne, und von der Flaggenstange flatterte der Wimpel herab, denn der König war zu Besuch in der Stadt und kam gerade den Schloßhügel hinabgefahren, und da standen die lichtgrllnen Bäume zu beiden Seiten. In der Straße gingen viele Leute auf und nieder fast ausschließlich feine Leute es war ein Alltag. Sie selbst ging langsam die Straße hinauf, sie trug einen braunen Damenhut mit Perlenbesatz und einen roten Sonnenschirm von den modernen, und an ihrem Arm hing eine Notenmappe, auf der mit vergoldeten Buch- staben Musik stand denn sie war eine feine Dame. Die öffnete die Augen. Da hingen der Kronprinz und Viktoria, da stand die Alte im Dunkeln, und Eduard saß da und räusperte sich. Huh ihr graute so vor sich selber. Die Maschine fing<m zu gehen, und sie beugte sich darüber. Eine feine Dame! Ja, ich danke! Sie und eine feine Dame! eine feine Dame, die ihre Kleider nach dem Leih- Haus gebracht hatte und nun schon seit einem Monat zu Hause sitzen mußte, weil sie die lumpigen zehn Kronen, um sie wieder einzulösen, nicht aufbringen konnte. Nach der Karl-Johann- Straße, nein, dahin kam sie wohl nie wieder, weder als feine Dame nodr als irgend etwas anderes, und die Musik hatte sie auch wohl zum letztenmal gehört, als sie vor einem Monat da gewesen war vor einem Monat ja, einen ganzen Monat hatte sie hier drinnen gesessen und bloß ge- näht und genäht und beständig an dasselbe gedacht, woran sie doch nicht denken wollte. Ach nein, es hatte wohl keine Gefahr, daß sie ihrer Alten zu viel Kummer bereiten würde, indem sie sich beständig in der Karl-Johann-Straße herum- trieb und auf schlechte Wege geriet, so wie Oline, wenn auch alle Leute das von ihr glaubten bloß weil sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Ach nein, es wäre auch nicht angegangen, daß die Alte noch mehr Kummer erleben sollte es was ja schon schlimm genug mit Eduard, der brustkrank geworden war wenn dies auch noch hinzukam, dann würde es ganz gewiß zuviel des Guten. Sie auf schlechten Wegen? Nein, ich danke! Aber es war so angenehm darüber nachzudenken, wie es wohl sein mochte mit den schlechten Wegen ja, sie wußte freilich, wie das alles war, denn Jossa hatte eS ihr ja erzählt, und Jossa, die genierte sich nicht, und sie hatte lange geglaubt, daß es bloß Lügen waren, denn es war ja viel zu abscheulich und häßlich. Jetzt wußte sie aber, daß es wahr war. aber sie ver- stand es darum doch nicht, und sie verstand nicht, daß sie nicht lieber viele Male sterben wollte, ehe sie so was tat und für Geld obendrein und für so wenig zwei Kronen, sagte Jossa und Jossa wußte ja alles, aber es konnte ja doch nicht wahr sein, und so eine war Oline gewesen Oline> ihre leibliche Schwester! Ja, so eine war sie gewesen es half nichts, es zu leugnen sie war eine von den Allerschlimmsten gewesen sie hatte sogar in der Mittelgasse gewohnt. Wenn sie doch bloß das nicht getan hätte wenn sie doch nur in der Wall- gasse geblieben wäre, wenn sie die Sache doch bloß priva- tim betrieben hätte, so wie zu Anfang das war ja auch schon schlimm genug gewesen aber die Schande hätten sie denn d�ch nicht erlebt, daß sie wirklich da gewesen war, gemein war es ja auch, aber doch nicht so gemein und dann hätte Madam Olsen es Mutter doch nicht ins Gesicht schleudern können, jedesmal, wenn sie sich erzürnten und weiter was hätte Madam Olsen wohl nicht zu sagen gewagt, denn Emilie. ihre Tochter, hatte sich ja auch ein eigenes Zimmer in der Stadt gemietet. Hu, war es nicht wie ein Verhängnis, daß sie alle den Weg gehen mußten. Anständig und unschuldig wuchsen sie heran Oline war ja so nett und ordentlich und sittsam gewesen wie nur eine und dann Sie wechselte die Spule. Ja, Oline, die die Fleißigste und Aufgeweckteste in der ganzen Schule gewesen war, und die Beste in der Kon- firmandenstunde, sie war dazu gekommen, obwohl sie es sich wohl nie hätte träumen lassen. Ja, sie war dazu gekommen, nach und nach hatte sie den Weg gehen müssen, den sie gar nicht gehen wollte und schließlich hatte sie in der Mittel- gasse geendet nein, nein, nein, das war nicht wahr das durfte nicht wahr sein es war nicht möglich. Sie konnte es kaum glauben. Albertine richtete sich auf. Ja es war wahr es war wahr, es war das einzige» dessen sie sicher war, alles andere war Lüge und Lügen- gespinst es war eine Lüge, daß Oline jemals ein unschuldi- ges junges Mädchen gewesen war und die Oline gewesen war, die sie lieb gehabt hatte. Ein öffentliches Frauenzimmer war sie gewesen, und das war das einzige, was von dem Ganzen zurückblieb, und sie konnte es nicht wieder aus ihrem Kopf herausbringen, sie mußte beständig daran denken und darüber nachgrübeln. Sie konnte den Gedanken nicht los werden ja, wenn sie nur hinauskommen könnte, dann würde sie schon auf andere Ge- danken kommen. Aber mit dem gestrickten Tuch konnte sie doch nicht gehen und den Regenmantel nein, das ging nicht an! Sie war aber kurz davor, verrückt davon zu werden.