Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 244.
11]
Albertine.
Dienstag, den 17. Dezember.
( Nachdruck berboten.)
Sie fühlte etwas wie einen Stich in der Brust, ja, es war ja sehr leicht möglich; am Ende hatte er sie angesteckt, oder auch, es lag in der Familie- dann wollte sie sie alle auslachen, den Polizeiinspektor und Olsa und den Schutzmann mit dem roten Schnurrbart, die konnten ihr denn nichts mehr anhaben, und auch Oline nicht mit ihrem dummen, verheißungsvollen Lächeln.
Oline hu! Nu fang ich wieder mit diesen dummen, effigen Gedanken an- ja, Gott sei Dank, die bin ich denn auch los- wenn ich nu hingeh und sterbe!
-
-
Ja, ist es nicht wie ein Stich! Dann wird Mutter weinen, na, das tut sie ja auch ohnedem, aber dann wird es erst recht arg, und dann schmücken sie mich und kleiden mich in Weiß mit einem Myrtenfranz und mit aufgelöstem Haar.- Ich glaube, ich werde gut aussehen Weiß steht mir so gut ich will ihr sagen, wie sie mich puzen soll und dann kommen sie in die Leichenkammer im Krankenhaus, wo ich liege, und sehen mich an, und Olsa folgt auch und denkt an all das Häßliche, was sie gesagt hat, wenn sie mich da so liegen sieht, und Valeria hört es von Jossa auf der Straße, und Jossa erzählt, daß ich so schön als Leiche ausgesehen habe. Du kannst mir glauben, sie war entzückend," sagte sie, ach ja, ach ja" und dann schalt sie Valeria aus, weil die bon mir gesagt hat, ich wär' im Krankenhaus
Sie seufzte tief auf.
Mutter Kristiansen sah sich um.
-
-
,, Nu haben wir bald den 17. Mai- bloß noch acht Tage!" " So?"
" Dann gehn wir doch woll hin und sehn uns den Bug an?"
Nein; es is' so gräßlich mit dem Gedränge!"
" Gedränge? Ne, das is' doch gerade amüsant! Natür
lich gehn wir hin," sagte Eduard. Hier steht alles über den Fahnenzug. Soll ich es mal vorlesen?"
,, Nein, wir wollen es nicht hören," sagte Albertine. Die Maschine schnurrte wieder, es ging mit Unterbrechungen, der Faden riß beständig, die Maschine mußte alle Augenblicke umgestellt werden.
Eine Fliege summte im Sonnenschein gegen die Fensterscheibe. Mutter Kristiansen sah ihr nach.
Eduard bekam einen heftigen Hustenanfall und spie aus. Die Schatten auf der Halbgardine fielen noch schräger nach der anderen Seite, und der Sonnenschein drang tiefer in das Zimmer hinein.
Drinnen bei Olsens hinter dem blauen Paneel schlug die Uhr Eins, es flang so heiser.
Sezt mußt Du wohl gehen, Eduard, Du weißt, der Doktor
"
Ja, nun will ich gehen,-ich will bloß noch das von dem Fürsten von Bulgarien lesen, gegen den sie so underschämt gewesen sind."
Und dann ging er.
Mutter Kristiansen nahm den Scheuerlappen, bückte sich, nahm die Röcke zwischen die Beine und wischte auf.
" Heut' is' tein Blut da in," sagte sie. Nu will ich rüber gehen und Olsa sagen, daß ich von morgen an im Brauhaus Mittag kochen muß, denn nu wird es hier zu warm, da is' ja kein Sinn und Verstand in. Sie schimpft natürlich, aber das hilft nicht'."
1912
Albertine hatte lange da gesessen und geweint und nu saß sie da und weinte wieder.
Mutter Kristiansen hatte unzählige Male gefragt, aber fie bekam nichts zu wissen.
Sie wußte ja selber nicht, warum sie weinte, aber sie weinte, und die Augen waren rot und geschwollen, und das Geficht war bleich und blank von Tränen, die ihre Spuren auf den weißen Wangen hinterlassen hatten.
Endlich war es gekommen, sie hatte das Weinen seis mehreren Tagen in sich aufsteigen fühlen, aber sie wollte nicht, denn dann würde die Alte sie nur die Kreuz und die Quer ausfragen, warum sie weinte, und dann hatte die Alte angefangen, mit zu weinen, so wie sie es ja übrigens immer tat.
Albertine hatte den ganzen Tag geweint und gar nichts genäht, hatte Len ganzen Tag auf ihrem Stuhl am Fenster gesessen und geweint, und von Zeit zu Zeit hatte sie einmal aufgehört und ihre Augen getrocknet, und dann hatte sie wieder von vorne angefangen.
Hin und wieder hatte sie einmal die Halbgardine in die Söhe gehoben, um hinauszusehen, weit, weit hinaus, aber dann hatte der graue Bretterzaun mit dem Fabrikschornstein da gestanden, und dann hatte es angefangen, ihr vor den Augen zu flimmern und zu tanzen, so daß sie alles wie durch einen Nebel sah, und dann waren die Tränen wieder ge kommen.
Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und weinte, und in der Hand hielt sie das nasse Taschentuch, das zu einem Klumpen zusammengeballt war.
hustete.
Ne - was für schönes Wetter!" sagte Eduard und Mutter Kristiansen sah nach dem Fenster hin. Ja, was für schönes Wetter!"
„ Nu spielen Karl und die andern Jungens gewiß Ball unten beim Holzlager, glaubst Du nicht auch, Mutter → oder glaubst Du, daß sie auf der Straße spielen?"
weiß es
beim Solala nich, mein Jung', es kann ja ſein, daß sie Holzlager find."
Ja, da sind sie, wenn ich nach Hause geh', will ich mal dahingehen, vielleicht kann ich ein bißchen mitspielen."
-
„ Ne, mein Jung', das kannst Du nicht, Du mußb warten, bis Du wieder ein bißchen besser bist!"
,, Aber ich kann doch gut da stehen und den Ball werfen! Das erlaubt mir Karl gern."
,, Nein, Eduard,- der Doktor hat ja doch gesagt, daß Du nicht auf der Straße still stehen sollst."
,, Na, denn geh ich da bloß mal vorbei, denn ich glaub' ganz gewiß, daß sie da beim Holzlager spielen. Ja, ich will bloß vorbeigehen"
-
Er setzte schnell den Hut auf, das Anziehen des Mantels ging ein wenig langsamer dann ging er auf die Tür zu und sagte Adieu, und brauchte sehr lange, um zur Tür hinauszukommen, und sie hörten, wie er immer beide Füße auf jede Treppenstufe setzte. Sein Husten entfernte sich die Norderstraße hinab.
Mutter Kristiansen sah zu Albertine hinüber. Sie saß so bleich da und sah mit den rotgeweinten Augen vor sich hin.
,, Du, Tine-" " Ja!"
-
Willst Du Deinen Frühlingsmantel nich' zum 17. Mai fertig nähen? Wie wollt'st Du ihn doch noch machen? hellgrau, nicht?" ,, Nein, ich will mir gar keinen Frühlingsmantel nähen." Willst Du denn auch nich' mit uns ausgehen? Mit
Mutter Kristiansens weinerliche und Mutter Olsens mir und Eduard?" feifende Stimme drangen bald wechselweise durch die blaue Wand hindurch.
Albertine fing an, ein wenig zu nähen, hielt aber inne, denn die Maschine wollte nicht gehen. Sie nahm die Delfanne, blieb aber damit in der Hand sizen, sah unter der Halbgardine hindurch auf die Straße, ließ die Gardine wieder fallen und sah vor sich hin. Es fing an, ihr vor den Augen Bu flimmern.
Frühling.
Der nächste Tag war ein richtiger Frühlingstag.
„ Ne
-
-
,, Ne ich mach mir nichts aus all der Rennerei!" Natürlich mußt Du mitkommen!"
Eine halbe Stunde war vergangen. Mutter Kristiansen ging durch die Stube und stellte sich vor Albertine hin.
Ich will Dir was sagen, Line, ich will gern, daß Eduard rauskommt, wenn es sich machen läßt, denn ich hab' nu so meine eigenen Gedanken über diese Krankheit, und ich hab' auch nie geglaubt, daß es Schwindsucht is', und diese dummen Doktors, die haben auch nich' mehr Verstand davon als für die Katz'- aber ich denk' nu so: wenn der Jung'