Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 245.
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Albertine.
Mittwoch, den 18. Dezember.
Kambrus gerboten.Z
Sie konnte nicht begreifen, warum Albertine so traurig war. Sie sollte doch wohl nich? Nein, dann wär fie anders gewesen.
Wär sie so gewesen wie Oline, dann hätt sie schon gewußt, was es war, aber mit Line fonnte doch nich am Ende twas los fein- freilich, sie stellt sich ja grad so an wie Oline, als was Kleines kommen sollt.
Albertine lag da in tiefem Schlaf: das dunkle Haar fiel ach allen Richtungen hin über das Kopfkissen, und die bleiche Wange war halb drin begraben. a, es war wohl nachgerade an der Zeit, sie zu wecken.
Mutter Kristiansen ging durch die Stube bis an das Bett und streckte die Hand aus nach der nackten, runden, weißen Schulter, über der einzelne dunkelbraune Haarfransen ausgebreitet lagen wie feine Spigen, aber sie hielt inne und blieb eine Weile über sie gebeugt stehen. Sie war offenbar diese Nacht wieder wach gewesen und hatte geweint, so sah
es aus.
Sie beugte sich tiefer über sie heraub und betrachtete sie genau. Die Augenlider und ihre Umgebung, die Schläfen und die Züge um die Mundwinkel; und hob vorsichtig das grobe Hemd in die Höhe und besah die eine Brust, die da lag und sich ruhig und rund hob und senkte.
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Nein, da war nichts zu sehen, da schien keine Gefahr zu fein- wer sollte wohl auch auf so etwas verfallen mit Tine? Aber vielleicht war sie erst vor kurzem eingeschlafen dann mußte sie sie wohl lieber noch ein wenig schlafen lassen. Wieder ging fie vorsichtig durch die Stube bis an das Fenster, trocknete die Fensterscheibe ab, die sich wieder betaut hatte, und sah sich nach allen Seiten um.
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Ja, es würde sich schon aufklären das war sicher und gewiß aber wie stand es denn mit ihrem Kaffeekessel? Sie machte sich am Ofen zu schaffen.
Albertine war schließlich erwacht, hatte einen Unterrod und eine Taille übergezogen, und nun saßen sie, jede mit ihrer Kaffeekumme am Tisch, drei bis vier Stücke braunen Buder neben sich.
Der Kaffeeteffel stand auf einem Stück Brennholz da, so Saß er sich vornüber neigte und der blaue Dampf aus der Tülle aufstieg.
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Heut mußt Du wirklich mitkommen, Albertine, nich jeden Tag ist der 17. Mai bloß einmal im Jahr," sagte Mutter Kristiansen und steckte ein Stück braunen Zucker in ihren zahnlosen Mund und sog daran und nahm einen großen Schlud Kaffee aus der Schale, die sie auf vier Fingern balancierte, sog dann wieder an dem Zucker und nahm einen neuen Schluck Staffee.
Nein ich mag nich."
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Du wirst Dich schon amüsieren, wenn Du man erst rauskommst, das sollst Du sehen und es is doch amüsant, die ganze Geschichte zu sehen."
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Albertine sah Mutter Kristiansen an.
Was war nur auf einmal in die Alte gefahren, fie, die seit Zahren nicht weiter zur Tür hinausgewesen war als zu Kaufmann Jakobsen und ab und zu mal zu Oline, und in den paar lezten Tagen hatte sie mehr geredet als sonst in vielen Monaten, und sie hatte ganz aufgehört zu weinen.
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Kannst
1912
,, Na ja, das wird auch wohl das beste sein, ja. Willsa Du aber nich noch' nen Schluck Staffee haben? Denn muß ich mich nu wohl fein machen, ich soll ja auf meine alten Tage noch zum Festzug am 17. Mai!".
Mutter Kristiansen stand in vollem Puk da. Ueber dem Kopf hatte sie ein graues Tuch. Das dünne, graue Haar war in dem breiten Scheitel mit Wasser nach den Seiten wat in glatt herabgekämmt. Sie hatte ihren alten Rock an und die neue Kleidertaille, die Albertine genäht hatte, und darüber den alten französischen Schal mit roten Blumen auf weißem Grund und mit grünen Fransen. Sie hatte ihn ganz aus dem innersten der untersten Kommodenschublade hervorgeholt, wo er zierlich zusammengefaltet in Papier gepadt gelegen hatte, seit sie Oline zu dem Polizeiassistenten auf die Polizeistation begleitet hatte.
Eduard war gekommen und stand mit der Flagge in der Hand da, ungeduldig, hinauszugelangen.
„ Das ist doch ein ordentliches Unionszeichen," fagte er. Wir Seeleute wollen nichts von all den Narrenstreichen wissen." Albertine stand im Unterrock da, mit bloßen Armen und ungekämmtem Haar und zupfte an Mutter Kristiansens Buz herum. Ja, dann gib nur acht auf das Haus, Tine, und setz das Essen auf."
Das will ich tun! Denn Adieu!"
Sie stand am Fenster und sab über die Halbgardine binweg, als sie im Sonnenschein vorüberkamen. Mutter Kristiansen lächelte und nickte ihr zu, und Nein! Eduard nickte und schwenkte mit der Flagge. Sie klopfte an das Fenster.
" Ja, wenn Ihr einen Augenblick warten wollt, dann komm ich mit. Ich kann sehr gut in der Taille gehen, das macht nichts. Es ist ja alles schnuppe. Aber kommt herein und wartet so lange. Einen Hut hab ich ja dann sehe ich doch nicht ganz aus wie eine Fabrikarbeiterin."
Eine halbe Stunde später gingen sie zusammen hinaus. In der Brostraße wimmelte es von Leuten, die nach der Stadt zu strömten.
Woll'n wir nich mal zu Oline hineingehen?" fragte Mutter Kristiansen.
Ja, geht Ihr meinetwegen hin, aber dann komme ich nicht mit!"
Die Sonne schien. Die gelben Straßenbahnen rummelten die Brostraße hinauf und hinab, mit kleinen bunten Flaggen vorn und hinten am Verdeck befestigt. Alle Wagen, die zur Stadt fuhren, waren voll von geputzten Menschen.
Auch die Leute auf der Straße waren gepußt, die Männer in schwarzen Röcken, und die Frauen mit braungelben französischen Schals, die kleinen Mädchen mit weißen Strümp fen und frisch gebügelten Höschen, und die Jungen mit Flaggen.
Eine Menge kleiner Mädchen trugen ebenfalls Flaggen, und alle gingen sie auf die Große Straße zu. Aus allen den kleinen Nebengassen und aus den Torwegen kamen sie in die Brostraße hinein, und lebende kleine Flaggen hüpften hierhin und dorthin, in den verschiedensten Altern, große und kleine, wie Flaggen, die jetzt noch Kinder waren, aber auch einstmals erwachsen sein würden.
Sie gingen über die Brücke.
Auf dem kleinen Markt saßen die Kuchenfrauen in einer Reihe, mit Flaggen auf ihren Küchentischen und hatten auc Flaggen zu verkaufen, und waren umringt von fleinen Jungen mit kleinen Flaggen und verdienten viel Geld, wäh rend die Eltern warteten.
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Vor ihnen, am Ende der Straße, lag das Buchthaus, und da wimmelte es von Menschen und Flaggen. Auf einmal kam eine lange Reihe von Flaggen hintereinander. Das ist eine Schule," sagte Eduard.
Nein, ich hab ja auch gar nichts anzuziehen. Hätt ich ausgehen wollen, dann hätt ich ja meinen Mantel fertignähen müssen, aber so nein, ich bleib zu Hause und näh." Sieh doch bloß, wie schön das Wetter wird. Du nich ohne Mantel gehen, es wird heute ganz warm!" Du bist nicht flug, Alte; meinst Du, daß es angeht, im Frühling ohne was an zu gehen, als wenn es mitten im Sommer wär? Im Frühling muß man was anhaben, oder man muß es wenigstens überm Arm tragen. Es is ordinär, ohne alles zu gehen, selbst mitten im Sommer; Du wirst nie eine feine Dame so gehen sehen. Aber es wird wohl das beste sein, wenn ich die Flagge an die Stange festnähe, ehe Die violette Fahne mit der goldenen Figur und den gol Eduard kommt, denn sonst wird er ganz gewiß ungeduldig." denen Buchstaben flatterte vor ihnen über die Straße, und
Ja, es war eine große Schule, eine lange, lange Nethe von Flaggen und ganz vorne eine Fahne.
Mutter Kristiansen, Tine und Eduard bogen um die Ede und gingen nach dem Ackermarkt hinüber.