Körpern der Wachen. Generale, Soldaten, Kämpfer, der Troschkenpferde und zufällig Vorübergehender. Die Gedanken des Psychologen gerieten auf Irrwege und wurden immer weniger verständig und immer ungewöhnlicher. Sie entstanden, wuchsen und erlangten die beharrliche Kraft irrsinniger Wünsche. Etwas kaum Wahrnehmbares, etwas so Dünnes wie ein Haar, ein reines Nichts, trennte ihn davon, gewisse Einfälle, wie sie im Fieber entstehen, sofort auszuführen. Eine fremde Macht schob ihn, erhob seine Hand und befahl ihm, diesen schrecklichen Gegenstand zu berühren. Es schien, als kicherte jemand, der unsichtbar im Zimmer sich befand, darüber höh- nisch. Durch seinen Kops zogen durchaus ernsthafte und be- gründete Gedanken, voll von einer unerhörten Weisheit, die ihn blendete und zu dem Bekenntnis zwang: das ist die Wahr- heit, das ist endlich die letzte Wahrheit!—' Und diese Wahr- hcit war nichts anderes als dies: die Bon be zu ergreifen und mit Gewalt zu Boden zu schleudern. Dies mußte man tun, ohne zu zögern. Als er die Bombe in den Händen hielt, schien sie ihm sehr schwer. Dies wunderte ihn. Als er sie in den Händen wog. kullerte es drinnen so unheilverkündend, daß der Arzt, von kaltem Schweiß Übergossen, unbeweglich mit versagenden: Atem stehen blieb. In diesem Augenblick war er wieder der nüchterne, klare, bewußte Mensch, und begriff, daß er vor einer Sekunde noch «irrsinnig war. Das erste Anzeichen der Ernüchterung war der Schrecken, die unerbittliche, niederdrückende, wirkliche Angst. Die Hände zitterten, flogen, die Haare sträubten sich auf seinem Kopse. Mit einer ungeheuren Anstrengung, als würde er die schwerste Last überwinden, stellte er das Etui aus den Schreibtisch zurück— heftiger, als er wollte. Ströme kalten Schweißes übergössen ihn. Er warf sich auf den Diwan. Lange Zeit war nichts um ihn herum. Weder vor ihm, noch hinter ihm geschah etwas, noch konnte etwas geschehen. Die Zeit hörte auf zu strömen und d.e Welt zu sein. Er fühlte sich selbst nicht mehr. Es war wundervoll und schreck- lich zugleich. Doch er schlief nicht— er lauschte wachsam. Es war die Wachsamkeit einer toten Sache. Es schien ihm, als sei er ein Stein, ein Gerät, ein kosmisches Stäub- chen. Es konnten Jahrhunderte und Jahrtausende an ihm vorbeiziehen. Seine Geduld langweilte ihn nicht. tLortseyung folgt.). Sibmscbe Hypen. 2. Der wandernde Ansiedler. Hier ist hauptsächlich vom politischen Deportierten im Norden de? Gouvernements JrkutSk die Rede, einer Gegend, in die gemeine Verbrecher nur ausnahmsweise geschickt werden. Und als„ständig wandernd" kann man ihn mit vollem Rechte bezeichnen, denn die moderne sibirische Deportation ist— ein krasser Widerspruch zum Worte Ansiedelung. Ansiedler— in dauernd flüssigem Zustande. Nicht nur der Drang nach absoluter Freiheit, zurück in menschen- würdige Lebensbedingungen und in die Reihe» der Genossen, nein. oft ist eS einfach der Hunger, der dem Ansiedler den Wanderstab in die Hand drückt. Ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, bloß in, grauen Chalat und der entsetzlichen Wäsche darunter wird der An- siedler in den Sommermonaten nach jahrelanger Haft in die halb- wilden Gegenden Sibiriens hinausgeworstn. Wenn er noch dort in Rußland ein„zu Hause" hat, Verwandte oder Be- kannte, die gewillt und imstande sind ihn zu unterstützen, so werden doch Monate vergehen, ehe er Geld und Kleidung erhält. Und was bis dahin anfangen? Abwechselnd alle 2— 3 Jahre werden Sie verschiedenen Gegenden OstsibirienS sür die Deportation bestimmt. Konimt nun der Neuling in eine Gegend. wo schon(oder noch) Genossen sind, so ist er sürS erste natürlich nicht ganz hilflos, aber lange kann er den Genossen nicht zur Last fallen, denn die sind ja selbst meist halb hungrig. Die bei weitem meisten können begreiflicher Weise auf keine regelmäßige Unter- stützung von Hause rechnen und die Berdienstfrage steht daher in ihrer ganzen Strenge vor ihnen. Was für Verdienst gibt es nun in dieser ungastlichen Gegend für den mittellos Dastehenden. Vor allem um den Hunger zu stillen, kann er im Flusse Fische angeln, im Walde Beeren suchen und wenn ihm jemand eine Flinte leiht") auf die Jagd gehen. Woher aber Kleidung und Wohnung bezahlen? Wohl würde *) Der ostsibirische Bauer geht unbewaffnet keine 103 Schritte von seiner Behausung weg. Selbst auf der Wiese und dem Acker hat er sein Gewehr aus der Schulter geladen. in den ersten zwei Wintermonaten die Eichhörnchenjagd einen guten Verdienst abgeben, die hier zu Millionen geschossen werden, aber dazu ist schon ein gutes Gewehr, warme Kleidung und ein Hund notwendig, ferner Proviant für die ganze Jagdzeit, denn man muß die ganze Jagdperiode im Walde verbringen, hundert Kilometer weit von jeder menschliche» Wohnung. Auch machen die Bauern in der letzten Zeit schon Schwierigkeiten, und es ist schon vorgekommen. daß Ansiedler, die in den Wald nach Eichhörnchen gingen, nicht wieder zunickkehrten. Tagelöhnerarbeit? Während des kurzen sibirischen SommerS brauchen die Bauern allerdings zuweilen Tagelöhner für die Feld- arbeiten und zahlen dann eine Mark") täglich mit Köstigung, aber ohne schützende Kleidung gegen die MosguitoS ist diese Arbeit außer- ordentlich schwer. Viele sind schon nach einem Arbeitstage krank, da Arbeitsgelegenheit selten und durch lange Haft entkräftete Stadt- kinder überhaupt wenig tauglich dazu sind. Am besten stehen selbstverständlich noch die Handwerker, besonders Schmiede, Schlosser, Tischler, zuweilen auch Schuster, die wenn auch kümmerlich genug sich noch durchschlagen können. Die übrigen aber müssen hungern und für sie beginnt vor allem die erste Periode deS „flüssigen Zustandes". Die sibirischen Dörfer find, wie auch sonst wo, nicht alle gleich. Im lln, kreise von 200— 300 Kilometern gibt es immer ein größeres Dorf, wo ein reich gewordener Bauer oder Kaufmann eine Gerberei oder Teersiederei hält, wo Beamte» wohnen, eine Postanstalt ist usw. So einem größeren Dorfe strömen nun die arbeitslosen Ansiedler aus dem ganzen Umkreise zu. werden sofort von der Polizei ab- gefangen und per Schub zurücktransportiert, um schon am anderen Tage, wieder durch den Wald auf den, Rückwege zu sein. Das dauert so 2—3 Monate, bis die Polizei ihrer fruchtlosen Bemühungen satt wird und die Sache gehen läßt, wie sie eben geht. Nun zeigt sich aber die entgegengesetzte Seite der Medaille. Das gelobre Land erweist sich auch bald als überfüllt."") Nun erst beginnt die zweite Welle, die Flucht ins Weite. Es koinmt verhältnismäßig selten vor, daß der Ansiedler""") so- fort nach seiner Befreiung schon aus der Verbannung flieht. Selbst sür diejenigen, die nach Sibirien mit dem festen Entschlüsse konimeir, so bald als möglich in die Außenwelt zurückzukehren, ist eS nach langen Jahren Gefängnishaft zu verlockend, ein paar Monate aus- zuruhen, freie Luft zu atmeii, in Feld und Wald herunizustrcisen und nicht gleicki wieder neue Verhaktung und lange Jahre Gefängnis zu riskieren. Außerdem ist ja zur Flucht nach Rußland oder ins Ausland mit allen Vorsichtsmaßregeln und einigermaßen gesichertem Erfolge eine Summe von 200—250 M. nur genügend I Wie wenige können über eine solche verfügen? Wird man aber jenseit-Z der sibirischen Grenze, sei es im europäischen Rußland oder im russischen Zcntralasicn abgefaugen, so hat man aufs neue drei Jahre Zwangsarbeiten. Die meisten Ansiedler fliehen daher nicht ganz fort vuS Sibirien, wenn der erste Freudentaumel der Freiheit vorbei ist und der Hunger unerträglich wird, sondern bloß nach den sibirischen Städten oder den Goldgruben im Walde, oder in die Berge. Der Aufenthalt ist dort wie dort verboten, vielen gelingt es aber, monatelang mit falschem Passe unbehelligt dort zu verbringen und sogar erträglich zu verdienen. Früher oder später aber tritt die Verhaftung doch ein, und gewöhnlich, noch ehe die zu einer anständig garantierten Flucht aus Sibirien notwendige Summe zusammengespart ist, und dann beginnt das alte Lied: Zwei bis drei Monate dauert die Feststellung der Persönlichkeit, ebensoviel wird als Strafe für Verlassenen des Wohnungsortes diktiert und dann geht eS per Schub mit der Lcna-Partei lvicder nach dem angewiesenen Dorfe zurück, um bald wieder zu fliehen. Da im Winter der Transport nach den Deportationsgcgenden eingestellt ist, sind die im Herbst Verhafteten gut daran, denn sie haben zum Frühling ihre Strafe schon abgesesien, wer aber im Frühling verhaftet ist oder im Sommer. der nruß bis zum nächsten Frühling im Gefängnis von Jrkutsk oder Alepandrowsk sitzen. ES gibt unter den Ansiedlern solche, die die Hin- und Rückreise schon unzählige Male gemacht haben, aber die Hoffnung, die zur endgültigen Flucht notwendige Summe zusammen- zuscharren und, wie schon gesagt, der Hunger, treiben sie imnicr wieder aus die Walze. Mancher Fluchtversuch endigt aber auch tragischer im finsteren sibirischen Walde. Im verflossenen Sommer beschloß z. B. Genosie Stankewitsch sein Glück zu versuchen und wählte sich zu Reisegenossen zwei Brüder Grabowski. gemeine Verbrecher, die schon als Namenlose zum x-te» Male nach Sibirien gekommen waren, zu Reisegefährten in der Annahme, ihre Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse würden ihm zu statten kommen. Unweit des AngaraswomeS im grausig schweigenden sibirischen Walde, der schon viel Blut gesehen hat. haben sie ihn umgebracht, beraubt und sind selbst spurlos ver- ") Im Winter beträgt der Lohn beim Dreschen und Holzhacken« 20—30 Pfennige. "") Im Dorfe NN., im Kreise Kirensk , Gouvernement Jrkutsk. hatten z. B. im September letzten Jahres 12 Mann ständigen Per« dienst und litten wenigstens keine Not, 2t arbeiteten als Tagelöhner unregelmäßig und verdienten 20—25 M. monatlich und 17 waren gänzlich arbeitslos. "**) Der osfizielle Titel lautet wie kür gemeine, so auch für politische Verbrecher:„Ein aller zivilen Rechte beraubter Ver- bannungS-Ansiedler".
Ausgabe
30 (4.1.1913) 3
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