380

-

Mit jähen Schritten näherte er sich der Tribüne. Herkulisch gebaut, breitschultrig, den gewaltigen Kopf unter einer Ueberfülle des mit Sorgfalt gepflegten Haares, rief Mirabeau   sofort den Eindruck der Straft hervor. Sein von Pocennarben besätes Geficht war häßlich, aber er zeichnete sich darin aus, diese durch das Spiel des Ausdrucks umgewandelte Häßlichkeit in eine Macht zu verwandeln.

Kleines Feuilleton.

Bolksbildung.

Arbeiterlektüre. Die Hamburger Nachr." eifern über Arbeiterlektüre". Sie vermelden, daß nach der Zusammenstellung der Siemenswerke in Berlin  , die seit 1909 eine Werkbücherei" für ihre Beamten und Arbeiter unterhalten, der verheiratete Arbeiter außer den Werken, die er aus den Gebieten der Technik, Kultur­gefchichte, Kriegsgeschichte, Naturwissenschaft für sich selbst entleiht, für die weiblichen Angehörigen seiner Familie fast ausschließlich Bücher von Marlitt, Heimburg   und Eschstruth und die modernen Emanzipationsromane von Böhlau, Boy- Ed, Dunder, Tovoto, also literarisch fast wertlose Sachen, bestelle. Das Gleiche tue die unver­heiratete Arbeiterin, während die ältere Arbeiterin, die verheiratete und verwitwete, daneben doch Werke über Gartenbau, Gesundheits­pflege und Reisen wünsche. Der unverheiratete Arbeiter bevorzuge meisten Romane mit einer feguellen Note. Den Verfasser kenne er nicht und er sei ihm auch gleichgültig; Titel wie" Drei Nüsse", Blinde Liebe" usw. usw. seien ihm maßgebend, oder er lese auch wohl die gesamten Werte Zolas der Reihe nach durch, andererseits nehme er aber auch technische, naturgeschichtliche, friegsgeschichtliche Werke und Humoresten.

Die Fechtkunst der Tribüne lag ihm weniger als Barnave, der ihm sowohl durch die Leichtigkeit der Improvisationen in den all­gemeinen Ideen, wie durch seine dialektischen Fähigkeiten überlegen Seine Arbeitsmethode und die Menge der Fragen, womit er sich befaßte, schloffen lange Ueberlegungen und tiefere Kenntnis der Details des Gegenstandes aus. War eine sofortige Widerlegung vonnöten, geschah es ihm wohl, überrumpelt zu werden. Ich sehe wohl," sagte er zu Dumont, um eine Sache aus dem Stegreif zu be­Handeln, muß man damit beginnen, fie gut zu fennen". Er fannte fie nicht immer. Abbé Maurh, der diese Schwäche ertappt hatte, führte ihn mehrere Male mit aufreizender Bosheit aufs Gis. Darum verabscheute ihn Mirabeau  , wogegen er die strenge Rechtlich­feit von Cazalès achtete. Aber man mußte sich hüten, den Tribunen allzufehr herauszufordern, denn eine furchtbare Replif konnte die fchwächlichen Gründe ersetzen. Er erfaßte in der Diskussion mit außerordentlicher Schlagfertigkeit den schwachen Punkt der ihm ent­gegengesetzten Argumentation und durchschaute nicht minder Schnell und flar die Stimmung der Versammlung. Die Aus dieser Zusammenstellung sollte, meinen wir, zunächst ge­Macht des Redners verband sich in ihm mit der Geschicklichkeit schlossen werden, daß die Leiter der Siemensschen Werkbücherei nicht des Taktikers. Er wußte an der richtigen Stelle nachzugeben oder viel wissen können von der längst geklärten Frage, wie man Bücher die Debatte mit einem gutgewählten Wort, mit einem gutgeführten ausleiht. Man verabfolgt sie nicht automatisch, mechanisch, sondern Streich zu beenden und dem Gegner den Gnadenstoß zu geben. hat die Aufgabe, die Leser nach Art und Wunsch zu beraten und zu Seine Entrüftung hatte Wucht, aber er hatte auch Geist und zwar guten Büchern hinzuleiten. Weiterhin aber bezeugt die Zusammen= bom allerbesten, in jeglichem Genre. Indes war sein Rednergenie ftellung des Hamburger Kapitalistenblattes die Vernachlässigung doch mehr aus Kraft, denn aus Feinheit und mehr aus Leidenschaft, des Volkes durch die Volksschule. Will das Volk die Schäden seiner denn aus Geist geschaffen. In seinem Wesen heftig, vermochte er Schulerziehung tilgen, muß es sich selber helfen, und das Hilfs= fich indes nicht immer der Deklamation zu entziehen. Mirabeau   hatte mittel ist die Organisation. Die älteren Männer, die bereits von feine schöpferische Phantasie. Dagegen besaß er das, was man der Organisation, der gewerkschaftlichen sowohl wie der politischen, historische Einbildungskraft nennen könnte. Er glänzt darin, ergriffen find, haben ein Verständnis dafür, was ihnen fehlt, und Begebenheiten der Vergangenheit wiederzuerwecken und, indent er suchen sich mit heißem Wissensdurst autodidaktisch weiterzubilden. sie voll zuckenden Lebens in die Debatte wirft, diese aufzuhellen, zur Familienmütter aber, die nur Hausfrauen sind, und die jüngeren Diesen Wunsch hat auch die ältere Arbeiterin. Die sogenannten Leidenschaft aufzupeitschen oder ihrem Ende zuzujagen. rückständig, schritten nicht mit dem aufgeklärten Familienvater Töchter, die von der Organisation noch nicht erfaßt wurden, blieben Scharen zur Einsicht kommen. Proletarische Frauenbewegung und boran. Aber auch diese Frauen werden in immer größeren proletarische Bildungsbestrebungen werden vielleicht schneller Wandel schaffen, als es den Hamburger Nachrichten" lieb sein mag.

Niemals hat er sich dieser Wedergabe mit mehr Kraft und Glück bedient als in der Debatte, die der unvorhergesehene Antrag des Dom Gerle   hervorgerufen hatte. In einem unflugen Einfall hatte der jatobinische Starthäuser die Erklärung der katholischen Religion zur Nationalreligion gefordert. Der heftigen Leidenschaften, die dadurch entfesselt wurden, fonnte eine Erklärung La Rochefoucaulds nicht Herr werden, worin dieser die Versammlung einlud, unbeschadet ihrer Anhänglichkeit an den katholischen Kult, den sie in die erste Reihe der öffentlichen Aufgaben gestellt hatte, den Antrag nicht in Beratung zu ziehen. Die Verwirrung und der Tumult waren außerordentlich. Plötzlich machte Mirabeau   ihnen ein Ende. Ein Deputierter berief sich auf das Versprechen, das Ludwig XIV  . vor Cambrai   gegeben hatte, in dieser Stadt niemals mehr den pro­testantischen Stult zu dulden und forderte seine Ausführung. Da erhob sich Mirabeau  , um gegen diesen despotischen Aft, der den Bertretern eines freien Bolles nicht zum Muster dienen könne" zu protestieren. Und mit wundervollem Schwung fuhr er fort: Da man in der Angelegenheit, die uns beschäftigt, zu geschichtlichen Bitaten greift, will ich ein einziges hier vorbringen. Denfen Sie darai, meine Herren, daß ich von diesem Ort, von der Tribüne, wo ich rede, das Balastfenster erblide, to gebäffige Partei gänger, die mit den heiligsten Interessen der Religion weltliche Interessen verknüpften, von der Hand eines schwachen französischen  Königs den unheilvollen Büchsenschuß abfeuern ließen, der das Signal zum Gemezzel ber Bartholomäusnacht gab!" Verblüfft und gleichsam niedergeschmettert, verharrten die Zuhörer in einem tiefen Schweigen der Sammlung, dann brach der Beifall aus, und die Zurufe schwangen fich zu Mirabeau   empor, der noch bebend da­stand. Es war einer seiner größten Triumphe.

"

Einige Tage später machte ihn Röderer, der ihn dazu beglück­wünschte, darauf aufmerksam, daß er übertrieben habe, da der Louvre von der Tribüne nicht zu sehen sei. Mirabeau   erwiderte: Sie haben recht, in der Tat. In jenem Augenblick der Inspiration aber habe ich das, was ich sagte, auch gesehen". Nichts enthüllt die Un­mittelbarkeit und Kraft seines Rednergenies besser als diese Ant wort.

langt, so macht sich, wie die Zola- Literatur beweist, der Drang nach Was die unverheirateten, also die jugendlichen Arbeiter an­guter Lektüre sehr lebendig geltend. Wenn die Leser dieser Alters­schicht an den Autoren der Bücher wenig Interesse bekunden, so be­fagt das nicht viel. Anderswo stehts damit nicht besser. Ein kleines Erlebnis aus der Amelangschen Bibliothek in Berlin   mag reden. Trat dort kürzlich ein strammer Offiziersbursche ein und forderte wohlabgerichtet für seinen Gnädigen und seine Gnädige ohne jede, Angabe des Autors einen Kriminalroman und einen französischen  Roman!" und die Hamburger Nachrichten" mögen wohl bedenken, daß man Der Verfasser war gänzlich gleichgültige Nebensache, in Glashäusern nicht mit Steinen werfen soll.

mal den Freitagsbesen walten zu lassen. In ihren Regalen scheint Im übrigen sei der Siemensschen Werkbücherei empfohlen, ein­mancherlei sich breit zu machen, was schleunigst hinausgefegt werden follte.

Physiologisches.

man

Welche Wärmegrade berträgt der menschliche Körper? Wenn wir in unserem gemäßigten Klima an heißen Tagen unter der Hiße stöhnen, so gibt es auf der Erde doch Gegenden, deren Höchsttemperaturen fast die doppelte Anzahl Grade erreichen. So hat man im Innern Australiens   häufig eine Durch schnittstemperatur von 46 Grad Celsius im Schatten und 60 Grad in der Sonne, ja festgestellt. hat auch 55 und 67 Grad Bei der den Fahrt durch das Rote Meer und Persischen Golf zeigt in Thermometer der Dampfer, trok heißen Jahreszeiten das zwischen 50 und 60 Grad. Ein Forscher hat neuerdings auf dem froß der ständigen Ventilation Er liebte leidenschaftlich das Leben, deren Freuden er alle bis eine Temperatur von 55 Grad festgestellt. Bei solchen Temperaturen Himalaja   im Monat Dezember um 9 Uhr früh in 3300 Meter Höhe zur Neige genossen hatte, aber er hatte auch, weniger aus Stolz scheint der menschliche Körper bereits schwer zu leiden, aber die als aus seelischer Vornehmheit, den Kultus seines Ruhmes, den Grenze, die er ertragen kann, ist damit lange nicht erreicht. Die er der Zukunft anheim: gab. Er erwartete feine Rechtfertigung beiden englischen   Forscher Bleyden und Chautch ließen sich, um diese von der Zeit, diesem unbestechlichen Richter, der allen Ge- Höchstgrenze festzustellen, in einen Ofen einschließen, dessen Wärme rechtigkeit erweist" und von der Unparteilichkeit der Geschichte. allmählich gesteigert wurde, und so vermochten sie eine Temperatur Die Standale seiner Jugend und die Verfehlungen seines reifen auszuhalten, die noch etwas über dem Siedepunkt des Wassers, also Alters hatten es ihm versagt, das volle Maß seiner Persönlichkeit 100 Grad, lag. Diese Widerstandsfähigkeit des Körpers ist durch die zu geben. Er litt unter dieser Unmöglichkeit wie unter einer dem ungeheure Transpiration zu erklären, die durch diese außerordent­nationalen Interesse zugefügten Schädigung. Ach hätte ich doch." lichen Temperaturen hervorgerufen wird; das Wasser, das auf der fagte er Cabanis, in die Revolution einen Nuf wie Malesherbes Oberfläche der Haut perlt, verwandelt sich augenblicklich in Dampf, mitgebracht! Welche Geschicke hätte ich meinem Lande gefichert, der einen merklichen Teil der Wärme absorbiert, die den Körper un welchen Ruhm an meinen Namen geknüpft!" Diese Borgefühle mittelbar umgibt. haben ihn nicht betrogen. Er hat einen großen Namen hinterlassen, behaupten, daß der menschliche Körper, wenn er nur gegen jede Man kann danach, so parador es flingen mag, den die Legende verklärt, aber sein Schicksal war fleiner als sein direkte Berührung mit der Wärmequelle geschützt ist, imstande ist, eine Genie. Temperatur zu ertragen, die fast ausreicht, ein- Kotelett zu braten... Berantw. Redakteur: Alfred Wietepp, Neukölln. Drud u. Verlag: Vorwärts Buchdruderei u.Verlagsanstalt Paul Singer& Co., Berlin   SW.

-

"