Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 96.

1]

Eter

Mittwoch, den 21. Mai.

1918

einem Schleier verdeckt, sie trug ein schwarzes Tüllkleid und

Das entfesselte Schickfal. einen schwarzen Hut. Aber trotz ihrer einfachen Toilette

Roman von Edouard Rod  .

1. Rapitel.

Der verschwommene blaugraue Ton der nackten Wände, die gelben, grob übermalten Bulte und Bänke, das grelle Tageslicht, das seitlich durch die vergitterten Fenster und oben herab von der Decke durch matte runde Glasscheiben fiel, machten den Schwurgerichtssal zu Versailles   zu einem jener nüchternen Räume, in denen Amtshandlungen vorge nommen sein wollen. Weder Bau noch Einrichtung ver­mochten den Blick zu fesseln; überall dieselbe Kahlheit.

fiel sie auf.

Herr d'Entraque saß auf der Zeugenbank. Trotzdem er mindestens zwanzig Jahre älter war als seine Frau, machte hatte offene Büge, eine große Nase, die kurzgeschorenen Haare er in dem grauen Gehrock einen jugendlichen Eindruck. Er waren graumeliert, der fast weiße Schnurrbart in die Höhe gestrichen. Es war die solide Erscheinung eines Sportmannes mit stolzer, abweisender Miene. Neben ihm saßen die beiden Neffen des Getöteten, die Brüder Chambave. Ihre Blicke überflogen den Saal, und von Zeit zu Zeit neigten sie sich zu ' Entraque, um ihn nach Namen aus dem Publikum zu Es war an einem Frühlingstage, furze Zeit vor Eröff: Blides umherstarrte, trennte sie von Horace Charreire, einem fragen. Eine alte Frau mit schwarzer Haube, die verstörten nung der Sizung. Eine gewaltige Menge füllte den Saal sehr bedeutenden Schriftsteller, der schon seit seiner Kindheit und nahm durch ihr Lärmen jeden Stempel von Feierlichkeit. mit Lermantes befreundet war. Er war heute hierher geeilt, Gerichtsboten, Kanzlisten, Rechtsanwälte im Talar eilten im um ihn durch sein Vertrauen und sein Ansehen eine Stüze Prätorium hin und her. Selbst diese Bevorzugten waren Heute schon frühzeitig gekommen, sie wußten, daß ihnen in einem so Aufsehen erregenden Fall, wie der Prozeß Ler- fett, den Sachverständigen, Aerzten, Jagdauffehern, Buch­Die folgenden Bänke waren von den anderen Zeugen be­mantes, die reservierten Plätze streitig gemacht zu werden haltern  , Polizeibeamten und Dienstboten: die gewöhnliche pflegten, und deshalb versuchten sie, so gut es ging, fich unter- Mischung, wie man sie bei größeren Stataſtropphen bei­zubringen. Auch die Tribüne, die sonst für die Angehörigen fammen sieht. der Justizbeamten bestimmt war, hatten sie für sich genommen. So saßen sie nebeneinander dicht gedrängt auf den niedrigen öffnet; der Hereintretende erregte allgemeine Aufmerksamt­Jetzt wurde auf der einen Seite des Saales die Tür ge­Bänken und wischten sich bei der Treibhaustemperatur im feit. Es war Montjorat, der berühmte Interpret der Rollen Saale   immer wieder den Schweiß von der Stirn. des bekannten Dramatikers Lavenne. Im Theaterschritt ging

au sein.

bei Deinen Premieren, Lavenne." ,, Was, es ist kein Plaz mehr zu haben?.... Ganz wie

Als die Türen geöffnet wurden, stürzte die Menge, die auf der Straße geharrt hatte, in die für das Publikum be- er auf den berühmten Dichter zu, störte zwanzig Personen, um bis dorthin zu gelangen, und rief laut:" stimmten Logen, um sich lärmend Size zu sichern. Minuten- um bis dorthin zu gelangen, und rief laut: lang dauerte das Getöse an: Schimpfen und Spöttereien, schwirrende Unterhaltung erregter, sich ereifernder Stimmen, berhaltenes Lachen, das dann wie eine Salve hervorsprudelte, Papierknittern und Scharren ungeduldiger Füße: das wilde Durcheinander in einem Theater, wenn die drei Schläge des Regisseurs sich ohne Grund verzögern. Tout Paris   und tout Versailles   hatten sich hier zusammengefunden, aber in felt­famer Auswahl; die verschiedensten Elemente waren, durch die eigentümlichsten Regungen veranlaßt, hergeströmt; die Neu­gier, Gerichtsverhandlungen beizuwohnen, ist geradezu eine Leidenschaft geworden.

Saales gelenkt: die Advokatin Frau Aurora Windelmatten Aber schon war das Interesse nach der anderen Seite des trat herein. Mit der griechischen Frisur unter dem Amts­barett sah sie reizend aus. Ihre Kollegen rückten eilig zu­fammen, um ihr Platz zu schaffen. Die Damen im Zuschauer­raum reckten sich die Hälse nach ihr aus, man diskutierte laut und leise über sie, als plößlich vollständige Stille eintrat: die Geschworenen traten ein und setzten sich auf ihre Plätze. Einige waren Versailler, die meisten gehörten anderen Auf der anderen Seite des Saales, hinter der Zuschauer- Gemeinden an. Mit Ausnahme von zweien erfüllten sie heute bank, saßen, eng aneinandergeschmiegt in starrer Unbeweglich- zum ersten Male ihr Amt. Sie faßten es mit großem Ernst keit die drei Kinder des Angeklagten Lionel Lermantes. Die auf, sie waren zugleich geehrt und beunruhigt über die Macht, Herzensangst der letzten Monate hatte in die jungen Gefichter mit der sie belehnt worden waren. Wenn sich auch ihr An­Falten gegraben, die Sorge hatte sie blaß gemacht, Zweifel sehen in ihren eigenen Augen vergrößert hatte, erfüllte sie und Schande ihnen einen gedemütigten Ausdrud verliehen. doch heimliche Furcht, und dieses Gefühl verlieh ihren ganz Baul, der Jüngste, versuchte den Kopf hochzutragen; die verschiedenen Gesichtern einen allgemeinen Charakter; sie beiden anderen waren nur bemüht, ihren Schmerz zu ver- Alichen Soldaten, welche dieselbe Uniform angelegt haben. bergen. Renée drückte manchmal die Hand ihres Bruders Sie waren tatsächlich nicht mehr Privatleute, Raufleute, Roland, als ob sie ihn um Kraft bitten wollte. Der erhob Gutsbesiker, Beamte oder Offiziere: nur einfache Menschen, feine zu Boden gewandten Blicke zu ihr und ein rührender die sich vorbereiteten, ein furchtbares Amit auszuüben. Ver­Ausdruck von Bärtlichkeit und Milde lag in ihnen. Ihr schiedene Empfindungen, gleich notwendig zur Ausübung Onkel, Herr Marner, hat die Kinder von den Zuschauern ge- ihrer Pflichten, bewegten sie: Scharfblick und Blindheit, trennt. Er hatte sein möglichstes getan, um die Kinder von Sorglosigkeit und Routine, Genauigkeit und Leichtfertigkeit, dieser Gerichtsverhandlung fernzuhalten. Er hatte alles vorge- Vorurteil und Geistesfreiheit.

,, Nein, nein, wir verlassen ihn nicht. Wir werden ihm Mut machen."

bracht, Schicklichkeitsgründe, Renées zarte Gesundheit und Das Los hatte den Maler Mortara zum Obmann ge­als Hauptsache, daß ihre Gegenwart dem Vater die ihm so wählt. Er hatte den ersten Platz neben dem Gerichtshof. Seine. nötige Kraft nehmen könnte. Aber alle drei hatten ge- stattliche Gestalt war gerade aufgerichtet. Den feinen Kopf antwortet: umrahmte frühzeitig ergrautes Haar und ein dünner, blonder Backenbart. Er war ein starker, gerader Charakter und gewöhnt, mehr die Dinge als die Menschen zu beobachten. Nun wollte er feinen klaren Blick auf dieses ihm fremde Ge­biet richten. Seine im Sehen geübten Augen suchten schon im Saale   nach geeigneten Gesichtern, die ihm einen ersten Ein­druck liefern könnten, und sie hefteten sich auf Renée und ihre beiden Brüder. Er erriet durch ihre schmerzliche Haltung, war sie waren. Er beobachtete sie einen Augenblick, dann neigte er sich seinem Nachbar zu und murmelte:

So hatte er sich Sarin ergeben, die Kinder zu begleiten. Vollkommen kahl, mit stark gerötetem Gesicht, brummiger Miene, den Kopf tief zwischen den Schultern, konnte er nur schlecht seine üble Laune verstecken. Er fühlte, wie er von jedermann angesehen wurde und daß man jezt im Publikum fragte:

,, Das ist der Schwager von Lermantes... der Mann seiner Schwester...?"

Nein, der Mann der Schwester der Frau... Bureau­chef im Ministerium des Innern."

,, Die Kinder sind da... das wahre Golgatha für sie." Der Angeredete antwortete:

Sie hätten lieber zu Hause bleiben sollen."

Zweifellos war es Bufall, daß die Frau des Haupt- Es war der Apotheker Condemine, der Erfinder der belastungszeugen, Frau d'Entraque, hinter ihm Plaß geföniglichen blutreinigenden Billen", die ihm durch Hilfe ge­nommen hatte. Das schöne, ernste Gesicht wurde halb von waltiger Reklame ein Vermögen geschaffen hatten. Er war