N«terhalt«ngsblatt des Horwäris Nr. 106. Mittwoch, den 4. Juni ISIS itl Das entfesselte SchichCaU Roman von Edouard Rod . .. ich dacht- oft und ich weint«. Sie haben also Papiere vernichtet?" fragte der Prä- lident. Aber natürlich!" iIch notiere das!" rief Herr Rutor. O. Herr Präsident, es handelte sich um intime Briefe. die nur mich angingen." Das war gleichgültig. Der Zwischenfall fiel zu seinen Ungunsten aus. und der Wachtmeister ging, sich in den Hüften wiegend, wie ein Triumphator auf seinen Platz zurück. Der Gerichtsdiener rief jetzt Frau Donnaz auf und führte eine alte, ganz gebeugte Frau vor. Ihr durchfurchtes Antlitz, das unter einer schwarzen Tüllhaube hervorsah, glich zerknülltem Pergamentpapier, die Lippen schrumpften über den zahnlosen Kiefern zusammen. Auf dem vorgeschobenen Kinn waren einige weiße Haare. Sie war so erregt, daß sie nicht wußte, wohin sie zu gehen hatte. Ihr Führer stellte sie vor dem Gitter auf, an das sie sich mit ihren braunen Händen festklammerte. Sie war taub und verstand nicht gleich die Fragen des Präsidenten. Dieser mußte laut sprechen, und seine Stimme bekam dadurch einen rauhen, herben Ton. Luise Donnaz war Dienstmädchen bei der Mutter des Angeklagten gewesen. Als jene gestorben war, blieb sie im Hause und war dort die wichtigste Stütze bis zum Tode des Hauptmanns. Die Wirtschaft wurde aufgelöst. Luise nahm Dienst in einer fremden Familie an, und später, als Frau de Pellice starb, zog sie in das Haus des Generals und blieb beständig in La Combette. Rheumatismus machte sie ar- beitsunfähig, aber der General wollte sie trotzdem behalten: doch da er ihr eine kleine Pension bewilligte, zog sie es vor, das Heim mit ihrer Schwester, einer Händlerin in Moni- rouge, zu teilen. Der Untersuchungsrichter hatte sie vor- laden lassen, weil sie in beiden Häusern gedient hatte und vielleicht eine Auskunft geben konnte, die das Testanient er- klären würde. Er hatte nichts aus ihr herausholen können: der General war reich und gut... er hatte Herrn Lionel auf- wachsen sehen... sie hatte immer gedacht, daß er ihm sein Geld lassen würde... Trotz ihrer wertlosen Antworten ließ die Anklage sie in der Hoffnung vorladen, daß ihre Zunge vor dem Gerichtshof gelöst würde. Als sie ihren Schwur abgelegt hatte und ihre Hand schnell herabgleiten ließ, mußte der Präsident zweimal wiederholen: Machen Sie Ihre Aussage!" Sie betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen und hielt den Kopf halb zur Seite, um mit dem Ohr, mit dem sie besser hören konnte, zu lauschen. Da sie sagte, daß sie zu alt wäre, um sich an etwas zu erinnern, mußte man ihr die Antworten brockenweise herausziehen: sie hatteHerrn Lionel" seit Jahren nicht wiedergesehen... früher hatte er sie von Zeit zu Zeit im Laden von Montrouge besucht... dann hatte er sie vergessen: o. sie war ihm nicht böse, er hatte so viel zu tun... Der Präsident forschte weiter: er fühlte instinktiv, daß sie mehr wußte, als sie sagen wollte. Wie erfuhren Sie das Unglück?" fragte er.das Un- glück, den Tod des Generals?" Ich habe alles das gelesen... in der Zeitung." Was dachten Sie beim Lesen?" Sie schien nicht zu verstehen. Er wurde dringlicher. Sie haben sich doch dabei irgend etwas gedacht? Sie lasen doch den Bericht nicht wie alles andere, nicht wahr? Er hat Sie doch aufgeregt. Also versuchen Sie uns Ihre Eindrücke zu schildern!" Luise Donnaz begann zu erzählen, langsam, nach Worten suchend, und je weiter sie sprach, um so besser ging es: Meine Schwester brachte mir die Zeitung... weil die Zeitungen, ich... ich lese keine!... Sie sagte mir: Höre. Dein General, Du weißt nicht... Nein, habe ich ihr gesagt. ich weiß nicht. Nun hat sie mir gesagt, es ist ihm ein Un- glück passiert... Ach. du lieber Gott, sagte ich, ivas für ein Unglück? Da hat sie mir von der Jagd vorgelesen, von der Kugel, alles das. Und sie sagte: Nun was sagst du dazu? 1... Aber ich, ich konnte nichts sagen, weil Herrn Lionel... der den General liebte.. ,Ulnd so ist's gewesen!.. Ist das alles?" Ich sagte zuletzt: Herr Lionel wird sich niemal» darüber trösten können!", Sie zögerte wie vor einem unangenehmen Geständnis. Und meine Schwester sagte mir: Das ist noch nicht alles. Und... Deine Pension?..." Das Publikum lachte. Herr Motiers de Fraisse gebot Ruhe. Man muß die Situation verstehen. Diese brave Frau lebt von der Pension. Daß sie an ihr tägliches Brot dÄhte, ist ganz natürlich. Aber dann. Frau Donnaz, als Sie von dem Verdacht hörten, der auf Lermanets ruhte?" Da sagte ich: Dieses Mal irren sie sich sicher... Herr Lionel soll ein Mörder sein... ach nein, ganz gewiß nicht, der... der so nett war, als er klein war..." Sie wissen nichts von dem Verbrechen, das ist selbswer- ständlich. Aber vielleicht wissen Sie Dinge, die uns bei un« seren Untersuchungen helfen können, Dinge aus der Ver- gangenheit.... Erinnern Sie sich!... Haben Sie eine Ahnung, ob Lermantes irgendwelchen Grund hatte, einen Groll gegen den General zu hegen?" Das sicherlich nicht, Herr Präsident!... Herr Lionel liebte den General wie... wie... na. von ganzer Seele, ja! Groll, er Groll gegen den General?... Ach nein!" Wissen Sie, daß einige Zeit das Gerücht verbreitet war, daß der Angeklagte Beziehungen zu einer Person hatte, die dem General nahestand?" Das weiß ich nicht!" Sie brauchen das nicht zu wissen. Es handelt sich um alte Geschichten vor Ihrem Dienst bei dem General. Danach soll sich der General fiir den Angeklagten interessiert haben, weniger ans persönlicher Zuneigung als durch den Einfluß seiner Frau:... verstehen Sie?" Luise Donnaz schüttelte langsam den Kopf und bewegte die Lippen. Das mißtrauische Erstaunen, das ihr Gesicht zuerst ausdrückte, verwandelte sich nach und nach, je besser sie verstand, in wahrhafte Betroffenheit. Sie erhob die Hände. faltete sie ans der Brust und stotterte: Wie man das sagen kann... ach, das geht doch nicht ... das ist doch noch weniger möglich!" Weniger möglich... als was?" Als den General getötet zu haben." Machen Sie sich klar, was Sie sagen: Sie ineinen, das ist noch weniger möglich, daß Lermantes der Liebhaber voll Frau de Pellice war, als der Mörder des Generals? Warum?" Darum!" Darum ist keine Antwort. Erklären Sie!" Die alte Frau sah verzweifelt umher, und plötzlich be- gann sie sehr schnell zu sprechen und wiederholte sich. Weil ich genau weiß, wie der General Herrn Lionel liebte!... Ich weiß es... Seit Herr Lionel in der Wiege lag, Sie begreifen. Herr Präsident, ich habe den General imnier da gesehen, also ich weiß, wie er Herrn Lionel liebte ... er ließ ihn auf den Knien reiten, und Herr Lionel lächelte ihn an!... Während seine Frau... seine Frau... also wenn man diese Sackten sagt, sind sie nicht wahr!" Frau de Pellice hatte keine Kinder. War sie vielleicht eifersüchtig auf diese Zuneigung?" Das sage ich nicht! Nein, das sage ich nicht! Aber schließlich... wirklich, ich weiß es nicht... und dann ist e» schon zu lange her." Sie schien außerordentlich erregt zu sein. Herr Motier» de Fraisse hatte den Eindruck, als ob er sich einer wichtigen Entdeckung nähere. Aber da er diese Wendung de» Ver» hörs nicht vorausgesehen hatte, ging er nicht mit seiner ge- wöhnlichen Genauigkeit vor und fragte fast zufällig: Kannte der General die Familie Lermantes schon, al» Sie dort in den Dienst zogen?" Natürlich kannte er sie!" Waren sie sehr befreundet?" 0 ja!... Der General war damals erst OberH.«« er kam fast täglich zu uns!"