linken Laufes wechselte, als der General sich entfernte. Nicht Wahr, das versicherten Sie?" »Ja, Herr Präsident!" „Der Angeklagte besteht darauf, daß er diesen Tausch später, als er„Hallo" rufen hörte, vornahm. Lermantes?" „Weshalb sollte ich denn lügen? Ich habe gesagt, daß ich mich manchmal damit amüsierte, nach kbeinem Wild scharf zu schießen. An jenem Tage bewahrte ich mir zwei Ladungen für den Damhirsch auf. Ich hatte keinen Grund, diese Vorsichtsmaßregel vorher zu treffen." „Jedoch, die Aussage des Zeugen, der in dieser Am aelegenheit kein Interesse hat, ist sehr klar. Sind Sic sicher, Herr d'Entraquc, daß Sie Ihr Gedächtnis nicht täuscht?" „Vollkommen sicher!" Der Präsident wendet sich Lermantes zu, der auf den Plick antwortete. „Ich kann nichts anderes sagen, als was lvahr ist!" „Man muß zwischen den beiden Aussagen wählen, und das ist nicht meine Sache. Wollen die Herren Geschworenen sich jetzt vorstellen, was vorgeht. Das gehetzte Rudel flieht, und die Kuh verschwindet mit den Spießern in östlicher Richtung. Ter Hirsch kommt von Westen guer durch das Gebüsch. Herr d'Entraque versehlMhn. Im Augenblick, wo er vor der Flinte des Herrn d'Entraaue vorbeistürzt, hört dieser ein verdächtiges Geräusch und schießt aus Vor» ficht nicht. Haben Sie das Geräusch nicht gehört, Lcr- mantes?" „Nein? Und ich glaube—" er hielt eine Sekunde inne, als ob er die Worte zurückdrängen müsse, die ihm wider Willen auf die Lippen kamen—„daß Herr d'Entraque auch nichts gehört hat." Br�vine wendete sich seinem Mandanten zu. Er sah um dessen Mund ein stolzes, verzweifeltes Lächeln. Und er hat die Empfindung, daß Lermantes seinen Gegner durch ein Wort vernichten kann, das er nicht sagen will, ein Wort, von dem sein Ankläger weiß, daß er es nicht aussprechen wird. Aber Herr Moticrs de Fraisse setzte das Verhör schon fort: „Warum glauben Sie das? Wollen Sie es nicht sagen? Sie haben unrecht! In Ihrem Interesse müssen Sie sick klarer ausdrücken. In Ihrem Interesse! Welche Gründe würde Herr d'Entraque haben, zu sagen, daß er ein ver- dächtiges Geräusch gehört hat. wenn er es nicht wahr- genommen hätte? Will er Ihnen denn schaden, oder wollen Sie ihn in Verdacht bringen?" Lermantes schwieg: Tie Verschwiegenheit schließt unsere Geheimnisse in unsere Seelen, wie ein Sicherheitsschloß, zu dem nur wir allein den Schlüssel haben. Wer wenn man das so bewegliche Gesicht plötzlich tvie erstarrt sah, die gesenkten Augenlider über den beredsamen Augen, den Mund noch zitternd von dem. was er hätte sagen können, konnte man die gewaltige Anstrengung ermessen, die er machte, um sich selber zu vernichten. Denn sein Unter- gang war ihm durch das Schweigen sicherer, als durch ein unkluges Wort. Wer würde glauben, daß ein Angeklagter Worte, die ihn hätten retten können, nicht aussprechen werde? Seine Andeutung war nur eine Ausslucht gewesen. Er sagte nichts, weil er nichts zu sagen lmtte. (Fortsetzung folgt.) Das Sterben der Hrmen. Von Charles Louis Philippe . Mau kann eigentlich nicht sagen, daß die Sache einen günstigen Anfang nahm, weil es sich um eine Krankheit handelte; doch wer hätte an der Art ihres ersten Auftretens vorherzusehen vermocht, daß sie so enden würde? Mittags, als er zum Frühstücken heimkam, machte Vater Turpin ein« merkwürdige Entdeckung: Mutter Turpin saß aus einem Stuhle. Er fragte sie sosort: „Bist Du denn krank, Alte?" Offengestanden— sie wußte von nichts. Doch vor einer Stunde etwa, gerade als sie mit dem Fegen des Hauses fertig geworden war, hatte sie gemerkt, daß sie gar keine Lust mehr zur Arbeit hatte. Sic hatte zwar noch die Kartoffeln aufs Feuer gesetzt. Aber dann war sie in einen Stuhl gesunken und fand nicht die Energie, sich wieder zu erheben. Sie aß nicht viel. Um ein Uhr, nach Beendigung seines Mahles, klappte Vater Turpin sein Messer zusammen, steckte cS in die Tasche und ging zur Arbeit auf sein Feld. Als er abends wiederkam, lag seine Frau zu Bett. Sie hatte ein Weilchen auf ihrem Stuhl ausruhen wollen; aber, als es gerade vier schlug, schien es ihr, daß sie in ihrem Bette doch noch besser auf» gehoben sei. Dieser Gedanke wollte ihr nicht aus dein Kopfe, Doch er stimmte sie verdrießlich. — Wie wirst du mit dem Essen fertig werden?! Di« Frauen deichen immer, sie feien unentbehrlich. Wie hatte er's denn vor zwölf Jahren gemacht, als sie auf acht Tage nach Moulins gegangen, damals als ihre Tochter niedergekommen war! Etwas später, als Vater Turpin sich zu Bett legen wollte, wurde seine Frau plötzlich anspruchsvoll. Sic sagte: „Wenn es Dir nichts ausmacht, lege Dich doch hinten ins Bett. Ich möchte lieber vorn bleiben, um leichter atmen zu können." Man hatte so seine Gewohnheiten. Ihm war, als müsse er da hinten im Bett ersticken. Immerhin— später war es ihm eine Beruhigung, ihr noch diese Freude gemacht zu haben. Am solgenden Morgen, beim Erwachen, erzählte sie, die sonst niemals träumte, daß sie einen merkwürdigen Traum gehabt habe: sie war ganz klein und ging in St. Gervais , ihrem Heimatsort, zur Schule. Unterwegs war sie einem alten Manne begegnet, mit einein großen Bart, der sie so stark geschlagen hatte, daß ihr noch jetzt die Rippen wehtaten. Dieser Traum war um so drolliger, als sie niemals während ihrer Kindheit einen Fuß in die Schule gesetzr hatte. Sie erhob sich vormittags, weil sie nach reiflichem Erwägen. zu der Ansicht kam, daß es ihr ein wenig besser ginge. Sie beschäftigte sich in ihrer Wirtschaft. Es kam jedoch ein Augenblick, wo sie bedauerte, das Bett verlassen zu haben. Sie stand noch aufrecht; plötzlich mußte sie sich fragen, ob sie nun vornüber oder rückwärts fallen würde. Sie lehnte sich gegen die Wand und stützte sich so gut wie möglich; doch bald mutzte sie sich von neuem fragen, ob sie nicht seitwärts niederfiele. Mit Hijfe eines Stuhles schleppte sie sich schließlich bis gegen zwei Uhr hin. Sie hatte das Frühstück nock� herrichten können. Ihr Alter hatte sogar mit gutem Appetit gegessen. In dieser Be-, ziehung hatte sie also keinen Verdruß. Völlig angekleidet warf sie sich aufs Bett. Bater Turpin bereute abends, nicht früher als gewöhnlich heim» gekommen zu sein. Als er die Tür öffnete, hörte er eine Stimme ihn rufen: „Kleiner Mann!" Wie merkwürdig war das! Sic hatte ihm„Nciner Manniii den beiden ersten Jahren ihrer Ehe genannt. Das lag lange zurück; fünfzig Jahre war es her. Dann hatte sie ihn Tnrpiik gerufen, und seit vielleicht zwanzig Jahren nannte sie ihn Vater Turpin. Er blickte ihr aufme'rksani ins Gesicht und begriff plötzlich, daß das, was da jetzt vorging, etwas Ungewöhnliches war. sie sah ja nicht gerade krank aus, nein, denn sie hatte gesunde Farben. Aber doch überraschte Vajer Turpin etwas iil ihrem Aussehen. Wie bei allen Frauen war gewöhnlich ihr Gesichtsausdruck ein bc- sorgtcr. Man fühlte, daß sie au ihre Wirtschast dachte, au die In- standhaltung des Hauses, an all die Schwierigkeiten, die es zu über- winden gilt, wenn man mit seinem Gclde auskommen und sich im Kreise der rechtschaffenen Leute halten möchte. Doch heute abend waren ihre Züge schlaff, und irgend etwas an ihr verriet. daß sie sich um die tausend Kleinigkeiten des täglichen Lebens gar nicht mehr kümmerte. Sie sagte: „Kleiner Mann, ich bin recht krank." Er kam nicht aus dem Staunen heraus. Fünfundsicbzig Jahre war er alt, und sie nannte ihn„kleiner Mann". War sie denn schwachsinnig geworden? Er antwortete ihr, was man in solchen Fällen zu sagen pflegt: „Du wirst Dich doch nicht gar ängstigen!" Und es machte ihn glücklich, daß ihm gleich daraus ein guter Einfall kam. Er meinte: „Erinnere Dich doch, wie es Dir in Deinen Wechseljahren ging. Fünf Tage lang mutztest Tu zu Bett liegen. Du warst damals viel kränker als heute." Doch sie kam nicht wieder hoch. Was Vater Turvin am meisten überraschte, war, daß sie gar nicht an Aufstehen dachte, als die Zeit kam, das Essen aufzutragen. Sie äußerte sogar etwas recht Unheimliches. Nach langem schweigen kam es heraus. Sie sagte: „Kleiner Manu, ich fühle, daß ich sterben muß." Er schalt sie aus.» „Na, hör mal, Alte, was redest Tu da für Unsinn!" Immerhin mußte sie recht krank sein. Sie sprach kein Wort. ohne Zweifel, weil sie über ihre Krankheit nachdachte. Man soll die Leute sich nicht solchen Betrachtungen hingeben lassen. Um sie zu zerstreuen, erzählte er: „Hör mal. Alte, weißt Du wohl, woran ich schon gedacht habe? Ich sage mir, daß es gestern und vorgestern geregnet hat. Die Erde ist naß. ES ist schon besser, nicht noch acht Tage mit dem Kartoffelpslanzen zu warten." Sic sah ihn an. Er merkte wohl, daß sie jedes Wort ver- standen hatte, aber sie antwortete ihm nicht. Was ging denn nur vor? Sic atmete mühsam. Zuerst glaubte er, daß sie tief Luft schöpfe, um ihm ausführlich erwidern zu können. Nein, das war's nickst. Er wartete un!> wartete, doch nicht ein Wort kam aus ihrem Munde. Er begann also zu schwatzen, um sie auf diese Weise zum Reden zu bringen. Er sagte: „Du antwortest ja gar nicht, Al�I"
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30 (17.6.1913) 115
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