Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 124.

Sonnabend, den 28. Juni.

29] Das entfeffelte Schickfal.

Roman von Edouard Nod.

Herr Languard protestierte. Er plaidierte nur in Zivil­prozessen, aber er meinte, daß ein juridischer Irrium sehr selten, fast unmöglich sei.

Wie es fast unmöglich ist, daß man lebendig begräbt," warf Pépinet dazwischen. Jedoch.

Frau de Lusenen schnitt ihm das Wort ab und rief sehr Taut:

Wollen Sie gleich still sein? Bei Tisch erörtert man solche Dinge nicht."

Und sie fam auf Dedipus zurück. Ein Punkt hatte sie in diesem Meisterwerk immer beunruhigt. Wie konnte Dedi pus so schreckliche Gewissensbisse empfinden, sich verurteilen und sich selbst mit einer solchen Wildheit richten, wenn sein eigener Wille ihn nicht zu diesen fürchterlichen Greueln ge­leitet hatte und er sogar die Fallen vermeiden wollte, die ihm Das Schicksal gestellt hatte. Und die gute Dame war entzückt über dies, wie sie glaubte, ganz neue Thema. Sie sette eine triumphierende Miene auf und steckte die Brillantnadel in ihrer Frisur noch mehr in die Höhe.

Das ist ein Rätsel, das die Sphing aufzugeben vergessen hat," brummte Pépinet.

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Aber Badile hatte schnell eine Erklärung zur Hand. Wenn die Griechen auch subtiler wie wir waren, so hatten sie doch nicht einen so komplizierten Geist. Ein Mörder ist ein Mörder. Ein Blutschänder ist ein Blutschänder, und die Absicht ändert nichts dabei. Dedipus hatte seinen Bater getötet und seine Mutter geheiratet, darum entlud sich der Born des Himmels über sein Volk. Als die Wahrheit ihm flar wurde, ergriff ihn Entfeßen, und er dachte nicht eine Minute daran, sich mit Unverantwortlichkeit" zu entschul­digen, wie wir heute sagen würden. Die Tatsache war da, was brauchte man noch mehr? Die Entschuldigung der Ab­ficht ist eine Vertiefung, die das Christentum eingeführt hat." ,, Eine Komplikation," verbesserte Pépinet.

Eine Nuance ist doch darin," bemerkte Breil und er­hob den Finger bis zu seinem Auge, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hätte Dedipus wissentlich diese Ver­brechen auf sich geladen, so hätte er nur Entsetzen eingeffößt, und Sophokles   hätte ihn nicht als Held seiner Tragödie wäh­len können. Er ist kein Zump, er ist ein Unglücklicher. Niemand denkt daran, ihn zu bestrafen. Man beklagt ihn, und er wird sein eigener Henker."

Sie beklagen ihn wirklich und verlassen ihn trosdem," sagte Frau Languard. Außer Antigone  , deren Gebärde jo herzzerreißend ist."

Nun," meinte Lavenne, fragten wir uns etwa während der schrecklichen Szene, in der das alte Dienstmädchen ihr Ge­heimnis preisgab, ob Lermantes verbrecherische Absichten hatte oder nicht? Keinen Augenblick! Das Mitleid ließ uns erschau­ern, aber lediglich weil wir Furcht vor der tragischen, unbe­fannten Größe des Lebens hatten Ich glaube, ich würde ihn sogar beklagt haben, wenn ich ihn für schuldig gehalten hätte."

Frau Breils Gesicht nahm einen strengen Ausdrud an: sie verurteilte diese nachsichtige und übertriebene Vorliebe fir das Sentimentale der Skeptiker und bewahrte ihr Mitleid nur denen, die unverdientes Unglück verfolgte.

Wir wollen annehmen," sagte jetzt Breil, daß Lerman­tes keine mörderische Absicht hatte und der Zufall seine Kugel führte: er ist ein Mann mit leichten Lebensanschauungen, mittelmäßiger Moral; wie ich zugeben will, nicht schlechter und nicht besser als viele andere, aber im ganzen verdorben ge­nug, um zu allem fähig zu sein. Wenigstens hatte ich den Eindruck nach den Ausführungen des Prozesses. Ist's richtig,

Labenne?"

Ungefähr."

,, Also wenn er nicht schuldig ist, so könnte er doch schuldig sein. Wäre er in seinem Privat- und Geschäftsleben unbe­scholten gewesen, hätte man ihn nie verdächtigt."

Labenne, der sah, worauf der andere hinauswollte, rief:

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Unbescholten, wer ist denn unbescholten? Sind Sie es, bin ich es? Wir leben alle ungefähr auf dieselbe Art, weder sehr gut, noch sehr schlecht, mit guten Absichten, Schwächen, Kompromiffen...

,, Man lebt wie man fann," betonte Badile.

,, Mein Gott, ja. Seßen Sie den Fall, daß man einen von uns nimmt und ihn eines Verbrechens anklagt und ihm sagt: Sie haben ein lasterhaftes Leben geführt, Sie haben Mätressen gehabt, zu viel Geld für sie ausgegeben, Sie haben im Rennen gewettet und Baccarat gespielt!" Frau Breil protestierte:

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konnte

Mein Mann spielt niemals!"

-

vereinen Sie alle Sünden, die ein Unglücklicher begehen Schön, ich nehme ihn von dieser Hypothese aus. Also selbstverständlich ist es nicht unser Freund Breil lich haben Sie diesen alten Herrn ermordet oder dieses Fräu und man sagt ihm: Sie haben dies und das getan, folg­lein bestohlen. Was zum Teufel wollen Sie, daß er ant­

-

wortet?"

,, Donnerwetter!" rief Badile, da würden wir alle drauf­

gehen!"

"

Er warf einen Seitenblick nach seiner Frau, die sich nicht bewegte. Sie kannte die Geschichten" ihres Gatten, aber sie tat, als ob sie nichts wüßte. aber Ihr Lermantes überschreitet die Grenzen." Niemand ist vollkommen, das ist richtig," sagte Breil,

Finden Sie?" meinte Frau de Luseney. Lavenne fuhr, ohne auf die Unterbrechung zu achten, fort: fals." Wir nehmen also an, daß Lermantes unschuldig ist, Jezt beginnt die Nolle des Schicksals, des düstern Schick­nicht wahr? Wenn er schuldig ist, hört sein Fall auf, in­tereffant zu sein. Es ist das Schicksal, wenn ein solcher Un­fall einem Mann passiert, dessen durchlöcherter und verbeulter Banzer ein schlechter Schutz ist. Umstände und Zufall be­stimmen das Schidial. Eine heimliche Verschwörung unserer Taten mit allerlei vagen Möglichkeiten das ist das Schicksal."

-

Frau Breil, sehr ernst mit verlorenem Blick. Wenn es nicht vielleicht die Gerechtigkeit ist," sprach

Badile, der den ausgezeichneten Trüffeln mit Genuß zu­sprach, schnellte empor:

Sie sind schrecklich," rief er. Sie haben die Seele eines Folterknechtes. Hier handelt es sich nur um einen Unfall, und die Gerechtigkeit verlangt, daß der Urheber wie ein Verbrecher bestraft wird! Um welche Gerechtigkeit handelt es sich denn, um Himmels willen!"

Frau Breil, die vielleicht nicht ganz genau wußte, was fie gemeint hatte, jah ihren Mann hilfeflehend an. Dieser sprang auch ein:

Nacht um die gewöhnliche Gerechtigkeit, wie sie in den Baragraphen des Strafgesetzbuches gebildet wird, aber um die geheimnisvolle göttliche Gerechtigkeit, deren Methode wir nicht kennen, deren Beschlüsse uns stußig machen."

Setzen Sie das bitte auseinander," sagte Frau de Lu­seney und hielt mit einer Bewegung die Widersprüche fest, die man auf allen Gefichtern las.

Diese Gerechtigkeit, welche die Alten Nemises nannten, ist nicht eine abstrakte Vorstellung wie die unsere, sondern eine Art von natürlicher, unberechenbarer, grausamer, bru­taler Straft. Im langsamen Schritt, mit verbundenen Augen, schreitet sie durch die Welt."

Ich dachte immer, daß es unsere Themis   ist, die eine Binde trägt," brummte Badile.

Gleichviel!" rief Breil, durch seine Gefühle fortgerissen. Rings um sie her häufen sich die Verbrechen und Frevel, sie geht ihren Weg, ohne etwas zu sehen. Da eines Tages ganz plößlich fällt ihre Binde und sie schlägt blind darauf los."

Wohin sie trifft!" unterbrach von neuem Badile  . Ihre Gerechtigkeit ist fürchterlich, lieber Freund. Sie trifft die, welche in den Bereich ihres Schwertes kommen, und die weniger Schuldigen am härtesten..."

Vielleicht treffen ihre Schläge nicht die Schuldigsten, aber ganz unverdient sind sie nie. Wir begreifen es nicht aber heilsamer Schrecken pact uns Sat sie sich gezeigt und uns so an ihre Eristenz gemahnt, legt sie die Binde wieder