Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 149.

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Ein Mann.

Sonnabend, den 2. August.

Bon Camille Lemonnier .

1913

funden wurde. Der Wald nahm von diesem im Walde be. gonnenen Leben Befiz; der Wald mit seinem Sonnenscheine, mit seinem Regen und Schnee spülte die Schmach des Ver­brechens hinweg und wiegte das Kind der Schande in Der Alte war ein dürrer, gebeugter Kleiner Mann. Ein Schlummer gleich einem Königskinde. Das Mädchen wuchs Arthieb hatte ihm seine linke Hand weggerissen, und der in Unkenntnis seiner Herkunft auf, von Dunkelheit umhüllt, Arm endete in einem Stummel, den er fast wie eine Hand wie die unzähligen Nattern, Eidechsen und Käfer, zwischen zu gebrauchen verstand. Sein Gesicht hatte sich dem ständigen denen es sich bewegte. Die Duc hatte ihr niemals etwas ge­Aufenhalte im Forste so wohl angepaßt, daß es allmählich die fagt, ja, sie hatte fast selbst vergessen, daß fie nicht ihr eigenes spiße Form einer Wolfsschnauze, die ein Paar zwinkernde Kind war. Das Kind nannte die Alten mit seiner schrillen graue Aeuglein unter einem Gestrüppe von rötlichen Brauen Stimme Ma" und" Pa", und ihre Elternschaft war etwas erhellten, angenommen hatte. Seine spißigen, wie die eines Unzerstörbares geworden, wie in Stein gehauen. Ihnen war Fauns abstehenden Ohren waren mit Borstenbüscheln be- übrigens nie in den Sinn gekommen, dem Kinde einen wachsen. Er hatte die Eigenheit, sich taub zu stellen, und dies Namen zu geben. Was sollte ihm auch ein Namen in der ermöglichte ihm, auf unbequeme Fragen keine Antwort zu Wildnis? Führten etwa die vieltausend im Walde hausen­geben oder die Wutausbrüche seiner Xantippe zu ignorieren, den Lebewesen einen eigenen Namen? Genug, daß fie Der Mann in dieser Ehe war die Frau. Sie fällte die existierten: ganz schlichtweg nennt man das Leben"! So Bäume mit einem kräftigen Siebe ihrer Art, ohne jemals gehorchten die Ducs, ohne sich dessen bewußt zu sein, dem In­zu ermüden. Mit nackten Armen schwang sie das schwere stinkte der primitivsten Wesen, für die der Begriff des Lebens Beil im taktmäßigen Rhythmus, der ihren kugelförmigen alles andere in der Welt umfaßt. Von dem ersten Momente Bizeps in regelmäßiger Folge auf- und niederrollen ließ. an, da sie ihre Geschlecht erkannt, hatten sie sie die Kleine" Von frühem Morgen bis in die finstere Nacht war sie bei genannt, und diesen Namen, der keiner war, hatte sie für dieser harten Arbeit tätig, die ihnen das tägliche Brot immer behalten. verschaffte.

Der Mann führte die Scheite auf Schiebkarren fort, flocht die Reisigzweige in Bündel und band die dürren Ruten zu Besen. Also war das Ehepaar Duc.

Ihre Hütte bewohnten sie seit nahezu vierzig Jahren, jeden Winter die schadhaften Stellen mit etwas Lehmerde ausbessernd, die Löcher, die Wind und Wetter ins Dach ge­rissen, mit Stroh verstopfend, und immer wieder neue Fliden auf ihr altes, baufälliges Nest wie auf einen morschen Strumpf segend.

Etwas gab's, das die Alten nimmer verwinden konnten: das war ihre Kinderlosigkeit. Sie gab dem Manne die Schuld; er hingegen murrte gegen den unfruchtbaren Schoß seiner Frau. Aber allmählich war sein Schelten in ihren ewigen Bänkereien erstickt, und schließlich glaubte er selbst daran, alle Schuld sei auf seiner Seite. Sie aber ließ von den Forderungen ihres unbefriedigten Weibtums nicht ab, und durch diese ständige Quälerei war das fleine, fümmer­liche Männchen derart von Kräften gekommen, daß es im Haushalte nur mehr die Verrichtungen einer Frau besorgen fonnte.

Mit einem Male hatte die törichte Raserei der Frau ein Ende gefunden. Eines Morgens, als sie in den Wald gegangen war, hatte sie unter einem Baume ein kleines, von Rälte blaugefrorenes, halbtotes Kind in einem blutigen Laken aufgefunden. Eine Mutter mußte hier von der Ge­burt überrascht worden sein. Die Blutspuren liefen bis zu einem Fußpfade und hörten dann plößlich auf. Nachdem die Rabenmutter ihr Kind zur Welt gebracht, war sie schnöde ge­flohen.

Den halbverwilderten Leuten kam dieses Findelfind wie ein Geschenk des Himmels. Sie nahmen es auf, trugen es in ihre Hütte und zogen es mit Biegenmilch auf.

Blog Cachaprès, der die Gewohnheit hatte, allen Leuten Tiernamen zu geben, nannte fie Gadelette").

Flink, Gadelette," rief er, wenn er fam ,,, komm, reit' auf meinen Knien!" und gewandt, wie ein Bicklein, sprang fie auf seine Knie. Sie hegte für ihn eine halb wilde, halb zärtliche Sympathie. Sie riß ihn an den Haaren, schlug ihn mit den Fäusten, biß ihn in den Hals wie ein junger, über­mütiger Hund. Oder sie klammerte sich an seine Beine und trachtete ihn umzuwerfen, oder kniff ihn mit ihren Finger­chen wie mit einer scharfen Range in die Waden. Er wehrte fie lachend ab und hob sie mit einem Griffe an seinen Mund, trop all ihres Sträubens.

8.

Wenn Cachaprès Geld brauchte, so gab's ein sehr ein­faches Mittel für ihn: einen Streifzug durch den Wald. Der Nachmittag endete mit einem Waffenstillstand in der Natur. Der Himmel, durch den Wolkenbruch geläutert, über­goß die Bäume mit einem zarten Blau, das sich am Rande des Horizontes goldig färbte. Weiße Dämpfe wallten von dem durchnäßten Boden empor.

Er wandte sich einem Gestrüpp zu. Ein schmaler, fast unsichtbarer Durchgang führte zu einer Wildnis von Dornen­hecken. Er bückte sich und schlüpfte unter den verschlungenen Zweigen durch; hier und da rikte ihn ein Dorn. Geräuschlos, wie ein flüchtiges Häschen, gelangte er an das Versteck, wo seine Büchse in einem festen Futterale aus geteertem Leder ruhte. Behutsam zog er sie hervor und verließ den Schlupf­winkel auf einem schmalen Pfad, den man nicht anders als auf allen Bieren friechend verfolgen konnte. Im Freien an­gelangt, lauschte er angestrengt, den Kopf dem Winde ent­gegenstreckend. Nichts regte sich. Da öffnete er feinen Gürtel, schob die Flinte in seine Hose und verlor sich in den Wald.

Er nahm die Gestalt eines lendenlahmen Greises an. Es ward wirklich wie ihr eigenes Rind. Sie hätten es Auf einen Stab geftüßt, den er sich abgeschnitten, schleppte nicht inniger lieben können, wenn es aus ihrem Blute hervor- er das eine Bein, an dem die Büchse ruhte, schwerfällig nach. gegangen wäre, und wie ein Teil ihrer selbst war es mit Verschwunden waren seine breiten Schultern, seine hohe Ge­ihrem Leben verwachsen. Es hatte von ihnen all ihre nstalt zusammengeschrumpft. Wenn er so mit vornüber­stinkte, ihre Herbigkeit, ihren Haß gegen alles, was nicht dem Walde angehörte, übernommen.

Eine Sorge hatte ihnen anfangs den Schlaf geraubt: wie, wenn sich die Mutter des Kindes doch melden und ihr Rind zurückverlangen würde? Das hätte zu bösen Verwice­lungen geführt. Niemals hätte sich die Duc dazu verstanden, das Kind wieder zurückzuerstatten; lieber hätte sie es mit ihrem schweren Holzschuh erschlagen. Denn daß fie es nicht mit ihrer eigenen Milch gesäugt, lag bloß an der Unmög­lichkeit, es zu tun, und sie war zur wahrhaften Mutter des Kindes geworden, das seine leibliche Mutter im Stiche ge­Tassen hatte. Glücklicherweise erwies sich ihre Furcht, als grundlos. Keine Sterbensseele verlangte nach dieser in einem Winkel des Waldes abgestoßenen Frucht der Liebe. Sie durfte unbehindert ihr Leben weiterführen, ein paar Schritte von dem Baume entfernt, darunter fie zum ersten Male aufge­

gebeugtem Kopfe und verbogenem Rückgrat dahinwanderte, fonnten die Gendarmen unmöglich Argwohn fassen; fast un­bemerkt schlüpfte die unansehnliche Gestalt durch den Forst. der selbst wenn man ihr Beachtung schenkte, meinte man einen armen Häusler, der heimwärts wanderte, vor sich zu haben. Das war eine von Cachaprès tausenderlei Listen, mit denen er sich durch die Dämmerung stabl; scheinbar nur mühselig vorwärts humpelnd, schritt er in Wirklichkeit mächtig aus. Seine Flinte nahm er auf alle Fälle mit: wie leicht konnte ihm ein Bild zwischen die Beine laufen. Und überdies war immer die Möglichkeit einer Begegnung mit jemand, der die Wilderer nicht sehr liebte, vorhanden. Das wäre dann eine Großwildjagd; es hieß, gegen alles ge­wappnet sein! Seit einiger Zeit war er übrigens vorsichtiger *) Gadelette= kleine Ziege.