Anlerhaltungsblatt des Horwärts Nr. 151. Mittwoch, den 6. August 1913 uz Sin l�lann. Von Camille Lemonnier . 9. Zur vereinbarten Zeit steckte die Alte ihre mageren Beine aus dem Bette, zog einen Rock an, knöpfte eine wollene Jacke über ihr grobes Hemd und schlüpfte mit ihren bloßen Füßen in ein Paar mächtige Nagelschuhe. Dann ging sie in den Schuppen und zog einen Schiebkarren heraus. Der junge Tag lugte durch die Bäume. „Ausstehen, Burschl" rief sie. Er rührte sich nicht. Er schlief der Länge nach auf dem Stroh ausgestreckt, seine Brust hob und senkte sich in regel- mäßigen, tiefen Atemzügen. Sie rüttelte ihn mit ihrer eiser- nen Faust. „Ach," seufzte er, sich ermunternd. Er sah sie im Türrahmen stehen, vom dämmernden Tage mit weißlichem Schimmer Übergossen. Er rieb sich die Augen, gähnte, rekelte und dehnte sich. „Mutter, ich glaub', daß Gadelette nicht überflüssig wär'." In der dürren Blätterspreu raschelte es. das Laub stob nach allen Richtungen, und im Nu stand die Kleine aufrecht vor ihnen. Strohhalme hingen ihr im braunen Haar, das kraus und ruppig wie Heidekraut war. Ein zerlumptes Nock- chen reichte ihr bis an die Knie und bauschte sich über dem flachen, mageren Leib. Ihre Brust war nicht gewölbter als die eines Knaben, und auf ihren kerzcngraden. wadenlosen Beinen starrte eine Schmuhkruste. Sie wickelte sich in die Reste einer alten Jacke, steckte den Kopf durchs Leitseil und begann den Karren vor sich hcrzuschiebcn, während ihre nackten Beine in die taufeuchten Gräser traten. „Ich werd' jetzt verschwinden," sagte Cachaprds.„Beim Eichenrondell treffen wir wieder zusammen, wer früher kommt, wartet auf den andern. Ich Hab' meine guten Gründe dafür." Graue Morgenschwaden wallten um die Büsche, krochen den Boden entlang, den sie mit fahler Blässe wie Reif bedeck- ten. Ein Restchen Dunkelheit hing noch über den Tiefen des Waldes. Dann aber bahnte sich das Licht wie mit der Art seinen Weg durch die dunkelnden Stämme. Und mit einem Male hob sich aus dem goldüberflutcten, wogenden Blätter- meer das wilde Kreischen unzähliger Vogelstimmen. Cachaprds gelangte noch vor der Sonne zur Lichtung. Gen Osten zitterte der klare Aether wie ein in Liebcsahnung erschauernder Leib. Ueber dem Gehölze wogte ein goldener See. Weiße Lichterkringel kräuselten sich wie Heller Dünen- fand, von dem die Flut gewichen, über dem westlichen Hori- zonte, der in der zunehmenden Pracht des werdenden Tages wie ein Spielball der Unendlichkeit im Weltenraume zu trei- den schien. Eachaprös stieß einen Freudenruf aus. Er hatte auf dem mit Tauperlen übersäten Grase die verzerrte Gestalt des Rehbockes entdeckt, der von der Schlinge erwürgt worden war. Die großen Augen guollen aus dem schlotternden Kopf, ein zäher Schaum troff aus den Nüstern. Zwischen den klaffenden Lippen hing die bleiche Zunge her- vor, die das Tier im Todesröcheln herausgestreckt hatte. Er lud den Bock auf seine Schultern. Dann rannte er mit gekrümmtem Nacken, von Baum zu Baum Deckung suchend, davon. Beim Eichenrondell erwartete ihn bereits die Alte. „Flink, alte Häsin!" rief ihr der Bursche zu.„die Sonne kommt schon!" Ein greller Lichtglanz zuckte durch die Luft: es war der erste Sonnenstrahl, der sich in den Forst stahl. Mit flinken, wohlabgemessenen Bewegungen half er der Alten Reisig- zweiglein sammeln und mit Stricken zusammenbinden. Als sie eine ansehnliche Ladung hatten, bettete er das Reh auf die erste Schichte. Den Leib des Tieres hatte er halbkreisförmig zusammengebogen, die Läufe gefaltet und den Kopf aufs Blatt gedrückt. Eine zweite Reisigschichte deckte das Wild, und dann häufte er noch Aeste darüber, mit seinem ganzen Körpergewichte auf den Karren drückend.-- Während all dieser Vorbereitungen eilte die Kleine ge- schäftig hin und her, nach unwillkommenen Gästen Ausschau haltend. Unaufhörlich konnte man das dürre Laub unter ihren eiligen Füßchen rascheln hören. „Flink! Flink!" trieb sie der Bursche an. Er schob den Karren durchs Gebüsch bis zu der Scho» nung, in der die junge Eiche stand. Dort machte er wieder halt. S)ann gebot er der Duc, grüne Reiser zusammenzu- tragen. „Und Du. Gadelette, gibt gut acht!" Er ging zu dem Versteck des Schmaltieres. Das Reh hatte sich in seiner Todesqual einen Ausdruck sanfter Traurig- keit bewahrt. In seinen weitaufgerissenen Lichtern schwamm unsägliches Grauen. Da es noch ein junges Tier war, genügte eine Blätter- läge, um es zu verbergen. Befriedigt klatschte der Bursch in die Hände und rief: „Vorwärts, alte Häsin! Zu Romiron, dem Bäcker, Du weißt ja!" Nachdem er noch den Namen der Straße hinzugefügt, erteilte er ihr einige Vorsichtsmaßregeln, den Karren nicht schaukeln, mit niemandem sprechen, und, wenn man sie fragte, antworten, daß sie Romiron Reisig zuführe. „Ach was!" versetzte die Alte,„meinst Du. daß ich mich von den Leuten erwischen lasse?" Ihre Muskeln straffend, brachte sie mit einem kraftvollen Stoß den Karren ins Rollen. Die Kleine hatte sich vorge- spannt und zog, einen Strick um den Leib, soviel sie nur konnte. 10. Er ließ ihnen einen Vorsprung. Der Karren rollte über einen ebenen Fußpfad, der zur gepflasterten Chaussee führte. Die Alte hatte die Schuh? abgestreift: es fiel ihr leichter, mit bloßen Füßen über das holprige Pflaster zu humpeln, und unter dem schweren Gewichte gebeugt, schritt sie rüstig ans. Der Weg vom Walde nach der Stadt dauerte zwei Stun- den. Die Chaussee zog sich anfangs an Büschen hin, die sich später lichteten. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich bebautes Ackerland; in den Feldern verstreut standen ein- zelne Häuser oder große Gehöfte, die sich schließlich zu einem Dorfe verdichteten. Noch lange, ehe man es erreichte, ge- wahrte man seine roten Dächer zwischen den Bäumen, die der Morgennebel in mattrosige, vergilbte Tinten tauchte. Ueber der Flur lastete schon eine schwere Schwüle. Cachapräs schlendert? von Wirtshaus zu Wirtshaus, einen Schoppen nach dem andern im Stehen hinuntergießend. Die Leute wollten von ihm wissen, was es Neues im Walde gäbe. Er zwinkerte mit seinen psiffigen Aeuglein. „Gelt, Ihr möchtet gerne'was erfahren? Aber nein! Der Wald, der ist meine Sackte! Da heißt's, daß die Wil - derer dem Walde schaden, daß es bald keine Rehe, kein? Ka- ninchcn oder Fasanen mehr geben wird. Ich kann Euch nur sagen, daß das alles erlogen ist. Die Förster erzählen's, um die Leute zum Narren zu halten.— Ich scher' mich den Teufel um die Gendarmen. Das sag' ich ihnen ins Gesicht. Sie sollen's nur'mal selber probieren: dann werden sie schon sehen, ob es im Wald wirklich kein Wild mehr gibt." Durch den Branntwein gesprächig gemacht, erzählte er, daß er in der Nacht zwei Rehe erlegt lmbe. Und daß diese sogar in die Stadt gewandert seien. Daraus mache er gar kein Hehl. Im Gegenteil, wenn jemand ein Fäßchen Bier einsetzen wolle, so wettete er, daß er es den Gendarmen selbst erzählen werde. Dabei schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch, ein wilder Trotz schürzte seine Lippen, und er sah stolz ob seiner freien Ungebundenheit auf die Bauern herab. Endlich ent- fernte er sich mit dem Versprechen, seine Zeche auf dem Rück- Wege zu zahlen Mittlerweile wanderten die Alte und Gadelette auf der sich schier endlos schlängelnden Chaussee. Die Kleine ächzt?: durch die Anstrengung des Karrcnziehens war die derbe Haut an ihren Händen aufgesprungen, das Seil röteten ein paar Blutstropfen. Tie Alte hatte noch immer ihren festen, regel» mäßigen Tritt, obwohl sich die Gurten ihr tief in den Nacken bohrten. Bisweilen kniff sie die Augen ein. von einem Schwindelanfalle gepackt: doch gleich einem Karrengaul wäre
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30 (6.8.1913) 151
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