Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 161.
21]
Mittwoch, den 20. August.
Trotz des dicken Mauerwerks schlug an ihr Ohr ein gedämpftes, kontinuierliches Geräusch, das von den Kühen, die im Stalle duftende Kräuter zermalmten, herrühren mochte. Diese tierische Stillvergnügtheit erfüllte sie mit Neid; sie sehnte sich danach, wie jene auf der Streu in einem Stalle zu ruhen. Das Vieh, das machte sich wenigstens keine Sorgen! Plötzlich erscholl aus dem Zimmer des Bächters ein Husten; da zuckte sie zusammen. Wie, wenn er sie beobachtete? Sie 30g sich tiefer in den Schatten zurüd.
Eine Hand berührte die ihre. Vor ihr stand Cachaprès. ,, Romm", sagte er.
Auf seinem Gesichte leuchtete eine heimliche Freude. Sie schüttelte verneinend den Kopf und ließ sich dennoch fortführen. Er hatte seinen Arm um ihre Mitte gelegt und hob sie halb auf vom Boden. So gelangten sie durch den Obstgarten.
Er trug sie wie eine Beute, wie einen kostbaren Schatz. Von einer unendlichen Mattigkeit übermannt, ließ sie sich willenlos mitschleppen, bis sie den Wald erreichten. Da sträubte sie sich plötzlich:
Gib mich frei!"
Als er seinen Arm zurückgezogen, warf sie sich mit einem Ausbruch von Tränen zu Boden. Jammernd schlug sie mit der Stirn auf die Erde und klagte:
Ich bin verloren! Wer gibt mir meine Ehre wieder?" Er zuckte die Achseln; für solche zarteren Gefühle besaß er wenig Verständnis. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, suchte er nach begütigenden Worten. Endlich beugte er sich zu ihr hinab:
"
Bin ich nicht bei Dir?"
Boll grimmiger Verachtung entgegnete fie: Du?"
Und maß ihn mit ihren Blicken vom Kopf bis zu den Füßen. Er antwortete ein wenig gekränkt:
Ja, ich. Bin ich Dir vielleicht nicht eben so gut wie ein anderer?"
Da vermochte sie nicht länger an sich zu halten. Seine Schuld sei's, daß ihr eine derartige Schmach widerfahre. Nun fei sie weniger als nichts; sie sei gezwungen, im Walde zu nächtigen. Die Dirnen wenigstens haben ihre Betten. Und durch dieses Wort auf andere Gedanken gebracht, warf fie ihm vor, daß er sie nicht anders als alle gemeinen Mädchen behandelt habe, deren Umgang er gewohnt gewesen sei. Er scheine einen schandvollen Verkehr zu pflegen. Das ließe sich leicht ersehen; er hätte sie sonst mehr geachtet. Da hatte er bloß eine einzige, furchtbare Antwort für fie:
Du hättest Dir's ja nicht gefallen lassen müssen!" Diese eisige Nobeit wirkte vernichtend auf sie. Jetzt beleidigte er sie, späterhin würde er sie wahrscheinlich auch prigeln?
Da übermannte ihn ein grimmiger Zorn, und er warf sich neben sie ins Gras:
-
1913
verstehen kann. Ich bin nie in einer Schule gewesen. Die Leute im Walde, die wachsen auf wie die Tiere. Nicht wahr, Germaine, Du hast's nicht so gemeint, wie Du es gesagt hast?"
In seiner Aufregung verwirrte er sich immer mehr in seinen Worten, die unter den wütenden Küssen, mit denen er ihren Leib bedeckte, erstarben. Als Germaine ihn so zerknirscht zu ihren Füßen sah, fühlte sie sich voll hochmütigen Stolzes als die Stärkere.
Sie ließ sich von seinen zitternden Händen zu ihm ziehen. Sein von Weichheit überströmendes Antlig lächelte ihr zu:
Jetzt schlag' mich, wenn Du willst. Ich würd' mich nicht einmal wehren. Ich hab' gar keine Kraft mehr in mir. Ich bin schwach wie ein Kind, das gerade auf die Welt gefommen ist."
ich
Halb neugierig, halb entzückt, forschte sie:
Du willst mir wohl etwas weismachen, gelt?" „ Aber nein! wahrhaftig nicht! Ich bin kein Komödiant, kann mich nicht verstellen."
Gleichviel; sie grollte ihm noch wegen seiner früheren Worte; und als er tat, als fönne er sich nicht mehr erinnern, wiederholte sie ihm alles nochmals. Er aber schlang seine Arme um sie, und sie wie toll küssend, wollte er den ganzen Vorfall nur als Scherz hinstellen. Und sie fühlte unter seinen sinnbetörenden Küssen ihren ganzen Groll dahinschwinden. Die nächtliche Stille überwältigte sie, und ein wenig Grauen mengte sich zu der Süße ihrer Gedanken. Nie zuvor hatte sie sich inmitten der erhabenen Schauer der Mitternacht befunden; eine ganz neue Saite ihrer Seele begann in ihr in bisher nie gekannten Tönen zu schwingen. Die Schauer, die um das Dickicht woben, erstarben wie der Kuß falter Lippen auf ihrer Haut. Die Lüfte trugen ihr das Raunen zu, das durchs Gehölze glitt, und mählich wurden ihr die Glieder schwer vor Schlummermüdigkeit.
Sie hatte sich an seine Brust geschmiegt, seine Arme umfingen sie heiß. So blieben sie lang in stumme Seligkeit versunken.
Endlich schlossen sich ihre auf dem braunen Männerantlik ruhenden Augen in der bläulich dunkelnden Nacht. Sie schlief.
Bis zum dämmernden Morgen dienten ihr die Arme des Geliebten als Bfühl. Sie waren gar weich und warm, weit besser als Leinen und Federkissen, und er wachte über ihr, kaum zu atmen wagend. Ihr Leib, der sich in seinen Körper grub, ward ihm zur unermeßlichen Wolluft, von der er unt nichts in der Welt etwas missen mochte. Und traumverloren beobachtete er das Gewoge ihres weißen Busens, von etwas unsagbar Wonnigem, Süßem und Starkem bis ins Innerste seines Wesens erschüttert, wie er dergleichen noch nie empfunden hatte.
Ein wenig vor Tagesanbruch regte sie sich und schlug langsam die Augen auf. Da gewahrte sie ihn wie im Traum vor sich, mit einem frohen Lächeln auf den Lippen.
Es währte ein paar Augenblicke, ehe fie fich besann. Der Anblick der noch halb von Nacht umhüllten Gebüsche füllte ihre Augen mit Staunen. Auch war ihr nicht ganz
Hör' mal, Germaine, Du wirst Deinem Vater sagen..." flar, wie es fam, daß sie an einem so seltsamen Orte auf den Sie unterbrach ihn heftig:
Wir werden uns nie mehr sehen. Es ist aus!" Ah! Was sagte sie da? Einen Augenblick blieb er ganz starr. Dieses entschlossene Wort hatte ihn wie ein Arthieb auf den Schädel betäubt. Endlich erhob er sich und stellte sich breitspurig vor ihr auf.
Den Hals weit vorgestreckt, einen bösen Glanz in den Augen, seine frampfhaft geballten Fäuste auf die Brust gepreßt, begann er:
Ich soll Dich nicht mehr sehen? Und das bist wirklich Du, Germaine, die so etwas sagt? Du! Wenn das wahr wäre, weißt, was ich dann täte? Ich würd' Dich bei der Gurgel packen, so, siehst Du.
"
Er konnte nicht weiterreden. Sie hatte aufgeschrien. Da breitete er schluchzend die Arme aus, plöblich haltlos und schivach geworden.
,, Wahrscheinlich hab' ich Dich falsch verstanden. Hörst Du, Germaine, Du darfst nicht Dinge sagen, die ich nicht
Knien eines Mannes erwachte. Als ihr dann langsam die Erinnerung zurückkehrte, barg sie, von Scham überwältigt, ihr Haupt in den Händen. Und mählich stieg der Morgen empor, entlockte den Vogelfehlen ein Lied.
Sie näherten sich dem Pachthobe.
Germaine hörte das Tor in den Angeln knarren. Im ungewissen Zwielichte sah sie eine menschliche Gestalt in der Nähe der Ställe auftauchen. Sie erkannte die Stallmagd. Nun kam's zu einem überzärtlichen Abschied. Während sie sich, hinter jedem Baume Deckung suchend, durch den Obstgarten stahl, folgte er ihr mit den Blicken und sandte ihr mit den Lippen hörbare Küsse nach. Sie trat ins Haus.
Da Germainens Stube etwas abseits von den anderen lag, vermochte sie dieselbe unbemerkt zu erreichen. Sie kleidete sich aus und schmiegte sich in die Kissen. Ein stummes Staunen war, in ihr über. die im Freien verbrachte Nacht und außerdem ein Gefühl namenlosen Efels. Diefes Nachtlager unterm freien Himmel erniedrigte sie in ihren Augen