fühlt er sich von ihr insultiert und nimmt sie Ell grippe. So z. B. Madame Müll6r. „Frau Major von Müller?" Brand mußte sich fest an- klammern an die Lehnen seines Fauteuils, um nicht in die Höhe zu fahren:„Dieser... Herr wird doch nicht wagen" ... Er hielt inne, vollbrachte ein Meisterstück der Selbst- beherrschung und fragte gelassen und kühl:»Sie kommt zu Ihnen? Wann? Wie oft?" Nun, früher, als sie ihrer Sache noch nicht ganz sicher war, kam sie allwöchentlich. Sie hatte die Bestellungen selbst abgeliefert und das Urteil und die Ratschläge der Meisterin erbeten. Derer bedurfte sie jetzt nicht mehr und fand sich nur noch an jedem Letzten des Monats zur Abrechnung bei der Prinzipalin ein; zwischen elf und zwölf, die Stunde, in der der Chef im Bureau festgehalten ist. Höchst seltsam, aber— sie hat für ihn etwas Abstoßendes:„Was für eine steifleinene Person hast Du da aufgegabelt?" fragte er schon mehrmals. Die Majorin scheint bemerkt zu haben, daß sie ihm mißfällt, sie vermeidet, ihm zu begegnen, betritt die Ateliers nicht mehr, fondern kommt über die Steintreppe direkt in den Privat- salon Amalies. „So— weil sie ihm mißfällt? Das ist nierkwürdig, Sie muß sich sehr geändert haben, wenn sie irgend jemand mißfallen kann." „Mir nicht, o mir nicht," versicherte Amalie,„für mich hat sie etwas sehr Anziehendes, einen außerordentlichen dianna. Und ihre Kinder sind entzückend, besonders der kleine Junge. Ich lasse ihn immer rufen, wenn er die Ar- betten feiner Mutter abliefern und Material zu neuen Ar- beiten holen kommt. Er hat so tonckant« Augen. Um diesen Schatz beneide ich Madame Miillsr. O, wenn der Himmel mir Kinderchen mit so toxicdavten Augen schenken wollte!" Brand wartete ihr mit einer guten Lehre auf:„Den besten Trost für den Mangel an eigenen Kindern findet man in der Liebe zu denen der anderen. Schließen sie fremde Kinder ans Herz, Madame. Was mich betrifft, ich beab- sichtige, mich der Kinder meines verstorbenen Freundes an- zunehmen. Zu dem Ende will ich sie aufsuchen, muh dem- nach wissen, wo sie wohnen, und bitte Sie, mir ihre Adresse mitzuteilen." Die war: VII. Bezirk, Berggasse Nr. 19, erster Stock, Tür 6�. Aber hingehen? Amalie widerriet es ihm. Sie hatte schon mehrmals bemerkt, wie vorsichtig Frau von Müller jedem Zusammentreffen mit Bekannten aus früheren besseren Tagen auswich. Sehr begreiflich das, wenn man soviel Charakter hat, soviel Stolz. Weder die Neugier noch das Mitleid sollen Einblick nehmen in ihre traurigen Verhältnisse. „Etwas gebessert haben sie sich übrigens schon. Madame Müll6r verrichtet nicht mehr alle Hausarbeiten selbst, ihre Zeit ist kostbar geworden, ihre kunstreichen Hände brauchen »chchonnng: sie hat eine Magd aufgenommen." „Etwas gebessert haben sich die Verhältnisse der Frau Major, sagen Sie, Madame. Das ist zu wenig," versetzte Brand,„sie müssen gut werden. Wir wollen dafür sorgen, wir zwei. Sie haben mir Ihr Vertrauen geschenkt, Sie werden das meine nicht täuschen. Ich rechne auf Ihren Takt, Ihre Feinfühligkeit." „Feinfühligkeit? das ist Delikatesse? O, Sie können auf die meine zählen." Dietrich nahm ein Kuvert aus seiner Tasche und legte es auf das Tischchen, auf dem heute eine blaue Matteische Elektrizität stand.„Erweisen Sie eine Wohltat, Madame, unter deni Scheine eines entrichteten Honorars. Wenn Sie sagen,„ich habe alle Hüte, die Sie mir neulich geschickt haben, als Pariser Modelle verkauft und beteilige Sie mit fünfzig Prozent am Reingewinne", das müßte doch eine hübsche Slimnie ausmachen. Nicht?" Am6lie zog die Augenbrauen in die Höhe.„O, Monsieur, soviel wie allgemein angenommen wird, kommt bei unserem Geschäfte nicht heraus. Doch will ich Mittel finden, Madame Müll6r glauben zu machen, daß wir eben jetzt, die Saison ist ja sehr günstig, ungewöhnlich hohe Preise für unsere Arbeiten fordern konnten." „Tun Sie das, Madame," sprach Brand mit großer Wärme.„Geben Sie mir meine Seelenruhe wieder;' der Ge- danke an die Kinder meines verstorbenen Kameraden läßt mich nicht schlafen." lLortsetzung folgt.) Romeo und Julia auf dem Dorfe , Seldwyler Geschichte von Gottfried Keller . 5s Nachdruck verboten. Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti ging es in- zwischen auch immer schlimmer, und es war ihm höchst langweilig dabei, so daß er, anstatt ans seinem vernachlässigten Felde zn arbeiten, ebenfalls auf das Fischen verfiel und tagelang im Wasser herumflotschte. Vrenchen durfte nicht von seiner Seite und mußte ihm Eimer und Gerät nachtragen durch nasse Wiescngründe, durch Bäche und Wassertümpel aller Art, bei Regen und Sonnenschein, indessen sie das Notwendigste zu Hause liegen lassen mußte. Denn es war sonst keine Seele mehr da und würde auch keine gebraucht. da Marti das meiste Land schon verloren hatte und nur noch wenige Aecker besaß, die er mit seiner Tochter liederlich genug oder gar nicht bebaute. So kam es, daß, als er eines Abends einen ziemlich tiefen und reißenden Bach entlang ging, in welchem die Forellen fleißig sprangen, da der Himmel voll Gewitterwolken hing, er unverhofft auf seinen Feind Manz traf, der an dem anderen Ufer daherkam. Sobald er ihn sah, stieg ein schrecklicher Groll und Hohn in ihm auf; sie waren seit Jahren nicht so nahe gewesen, ausgenommen vor den Gerichtsschrankcn, wo sie nicht schelten durften, und Marti rief jetzt voll Grimm:„Was tust Du hier, Du Hund? Kannst Du nicht in Deinem Lotterneste bleiben, Du Seldwyler Lumpenhund?" „Wirst nächstens wohl auch ankommen, Du Schelm!" rief Manz.„Fische fängst Du ja auch schon und wirst deshalb nicht Viel mehr zu versäumen haben I" „schweig. Du Galgenhund!" schrie Marti, da hier die Wellen des Baches stärker rauschten,«Du hast mich inS Unglück gebracht!" — Und da jetzt auch die Weiden am Bache gewaltig zu rauschen an» singen im aufgehenden Wetterwind, so mußte Manz noch lauter schreien:„Wenn dem nur so wäre, so wollte ich mich fteuen. Du elender Tropf!"—„O Du Hund!" schrie Marti herüber, und Manz hinüber:„O Du Kalb, wie dumm tust Du!" Und jener sprang wie ein Tiger den Bach entlang und suchte herüber zu kommen. Der Grund, warum er der Wütendere war, lag in seiner Meinung, daß Manz als Wirt wenigstens genug zu essen und zu trinken hätte und gewissermaßen ein kurzweiliges Leben führe, während es unge- rechterweise ihm so langweilig wäre auf seinem zertrümmerten Hofe. Manz schritt indessen �uich grimmig genug an der anderen Seite hin; hinter ihm sein Sohn, welcher, statt auf den bösen streit zu hören, neugierig und verwundert nach Vrenchen hinübcrsah, ivelche hinter ihrem Vater ging, vor Scham in die Erde sehend, daß ihr die braunen, krausen Haare ins Gesicht sielen. Sie trug einen Hölzer- nen Fischeimer in der einen Hand, in der anderen hatte sie Schuhe und Strümpfe getragen und ihr Kleid der Nässe wegen aufgeschürzt. Seit aber Sali auf der anderen Seite ging, hatte sie es schamhaft sinken lassen und war nun dreifach belästigt und gequält, da sie alle das Zeug tragen, den Rock zusammenhajten und des Streites wegen sich grämen mußte. Hätte sie aufgesehen und nach Sali geblickt, so würde sie entdeckt haben, daß er weder vornehm noch sehr stolz mehr aussah und selbst bekümmert genug war. Während Vrenchen so ganz beschämt und verwirrt aus die Erde sah und Sali nur diese in allem Elende schlanke und anmutige Gestalt im Auge hatte, die so verlegen und demütig dahinschritt, beachteten sie dabei nicht, wie ihre Väter still geworden, aber mit verstärkter Wut einem hölzernen Stege zueilten, der in kleiner Entfernung über den Bach führte und eben sichtbar wurde. Es fing an zu blitzen und erleuchtete seltsam die dunkle, melancholische Wassergegend, es donnerte auch in den grauschwarzen Wolken mit dumpfem Grolle, und schwere Regen- tropfen sielen, als die verwilderten Männer gleichzeitig auf die schmale, unter ihren Tritten schwankende Brücke stürzten, sich gegen» seitig packten und die Fäuste in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer bleichen, zitternden Gesichter schlugen. Es ist nichts An- mutiges und nichts weniger als artig, wenn sonst gesetzte Menschen noch in den Fall kommen, aus Uebermut, Unbedacht oder Notwehr unter allerhand Volk, das sie nicht näher berührt, Schläge auszu- teilen oder welche zu bekommen; allein dies ist eine harmlose Spielerei gegen das tiefe Elend, das zwei alte Menschen über- wältigt, die sich wohl kennen und seit lange kennen, wenn diese aus innerster Feindschaft und aus dem Gange einer ganzen Lebens- geschichte heraus sich mit nackten Händen anfassen und mit Fäusten schlagen. So taten jetzt diese beiden ergrauten Männer; vor vier- zig Jahren vielleicht hatten sie sich als Buben zuni letztenmal ge- rauft, dann aber vierzig lange Jahre mit keiner Hand mehr bc- rührt, ausgenommen in ihrer guten Zeit, wo sie sich etwa zum Gruße die Hände geschüttelt, und auch dies nur selten, bei ihrem trockenen und sicheren Wesen. Nachdem sie ein- oder zweimal ge- schlagen, hielten sie inne und rangen still zitternd miteinander, nur zuweilen aufstöhnend und elendiglich knirschend, und einer suchte deu anderen über das knackende Geländer ins Wasser zu werfen. Jetzt waren aber auch ihre Kinder nachgekommen und sahen den erbärm- lichen Austritt. Sali sprang mit einem Satze heran, um seinem Vater beizustehen und ihm zu helfen, dem gehaßten Feinde den Garaus zu machen, der ohnehin der Schwächere schien und eben zu unterliegen drohte. Aber auch Vrenchen sprang, alles wegwerfend, mit einem langen Aufschrei herzu und umklammerte ihren Vater, um ihn zu schützen, während sie ihn dadurch nur hinderte und be- schwcrte. Tränen strömten aus ihren Augen, und sie bat flehend den Sali an, der im Begriff war, ihren Vater ebenfalls zu fassen
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30 (30.9.1913) 190
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