Hlnterhaltungsblatl des Horwärt Nr. 208. Freitag, den 24. Oktober. s 1913 k>elge ßendels Luftrchlöffer. Ein Chikago-Roman von Henning Berger. Helge fühlte, wie feine alte Doppelpersönlichkeit am Kampf teilnahm. Dies zweiteilige Gefühl wirkte fast zu gleicher Zeit: als der Polizeikordon mit phänomenaler Ge wandheit anfuhr, war er ganz auf feiten der Ordnungs- gewalt; sah sich selbst blitzschnell, wie der Polizeileutuant, die schwachen Stellen zum Angriff herausfinden und Person- lich mit überwältigender Brutalität alle Hindernisse nieder- hauen. In zehn Minuten der Platz geräumt! fuhr es durch sein Hirn. Aber ebenso rasch schlug seine Sympathie um. Als er den hutlosen Anführer der unglücklichen, aus gehungerten Arbeitslosen erblickte, die unter dem geivalt samen Angriff der Polizeimacht jegliche Fassung verloren hatten und, ohne sich zu verteidigen, mit geduckten Köpfen die tödlichen Schläge entgegennahmen, da ward er bleich vor ohn­mächtigem Mitleid. In dieser Sekunde höhte er das ganze Land und seine Regierung, seine Bevölkerung, seine In- stitutionen, und er hätte am liebsten an der Spitze von Hunderttausenden von Empörern seine Millionen gestürmt. Der alte Mann war auf den umgewälzten Kabelwagen ge- sprungen wie auf eine Barrikade: die linke Hand gegen das Herz gedrückt, wo die Medaillen hingen, hob er in einer ein- fachen, tragischen Gebärde die geballte rechte Hand zitternd und anklagend gen Himmel. Ein irländischer Koloß mit glühendem Kupfergesicht und eng auf den kurzgeschorenen Schädel gespanntem Helm sprang hinter ihn hinauf, hob den schweren Polizeistock und spaltete mit einem entsetzlichen Schlag dem Volksphantasten buchstäblich die Hirnschale. Das Blut spritzte hoch auf und das flatternde Weiße Haar ward dunkel: der Alte fiel vornüber, erst auf die Knie, wie ein Schlachttier unter dem Keulenschlag draußen in Stockyards, und dann auf die Seite. Helge wartete fast darauf, daß der Körper an den Füßen durch Ketten emporgezogen und der Schutzmann ihm die Kehle aufschlitzen würde, als Letztes der Schlachthandlung so genau glich die Szene den großen Schlachthausszenen. Dazu wirkte noch der Wagen wie ein Schafott, und in der klaren, kalten, scharfen Luft, in der der leiseste Windhauch wie Messer schnitt, leuchtete das Blut rot wie Wein. Ein Geheul stieg rund um die Straßenkreuzung auf. Dann ward es still. Jetzt krachte ein Schuß, und die Mauern dröhnten das Echo zurück. Im Handumdrehen waren die Polizeiwaffen aus den hinteren Taschen gezogen, und nun knallte ein mörderisches Feuer aus den Läufen der Colt- revower. Flieht! Wie ein Orkan fegte die Masse alles mit stch. In dieser gewaltigen Woge, die alles niederriß, Trottoireinfriedigungen, Stapel von Frachtgütern und Waren, Geländer. Laternen- pfähle und Telegraphenpfosten, sah man schwarze Neger- gesichter mit Augen, deren Weiß vor Schreck doppelt so groß wurde, chinesische Holzgesichter noch hölzerner vor Angst als sonst, Polacken und Italiener, Juden, Grubenarbeiter von Michigan  , Holzfäller von Minnesota  , Eisenbahnarbeiter aus Kansas  , Farmer, die ihren Bodenanteil verloren hatten, Cow- boys, Mestizen, Mexikaner, genarrte Goldsucher von Klondyke und ein Heer von notleidenden Arbeitern aus der Stadt selbst. Das Getrampel auf dem Asphalt schwoll an zu einem Tosen bloß einer Sekunde Atemzug, und über Blende! kam Plötz- lich ein Anfall von Raserei, der all den ihm innewohnenden gemischten und zusammengesetzten Empfindungen freien Lauf gab. Er packte den nächstbesten Mann auf der Treppe mit beiden Händen um den Hals, schüttelte ihn hin und her, daß er ganz blau wurde, schlug einem andern die geballte Faust mitten ins Gesicht, stieß mit den Füßen, puffte, biß, zerrte, drängte sich durch gleich einem Wurfgeschoß und war inner- halb einer Minute hinter dem Portal verschwunden. Er hörte den Lärm und das Geräusch zusammen mit dem Blut in seinen Ohren pochen, lief aber gedankenlos durch lange Korridore und wandte sich zuletzt nach links. Da sah er eine zweite Tür, die nach einem leeren Hinterhof zu offen stand. Er rannte hinaus und fiel über ein paar blecherne Mülleimer. Er blieb sitzen. Es tanzte noch inner- und außerhalb seines Kopfes. Bald wurde er ruhiger. Es war schneidend kalt in der schwarzen Winkelgasse. Wieviel Uhr mochte es sein? Er zog seine billige Elgin heraus. Haid zchu. In einer Viertelstunde fing die Börse wieder an. Wo bin ich? dachte er verwundert. Bendel stand auf und schob sich den Kragen zurecht. Au einem Wirtshausschild erkannte er Washington Street. Menschen strömten vorüber: aber ohne Hast. Es war unverkennbar: Kampf und Verfolgung, Sprengung, Auslösung und Abschluß hatten sich nordwärts, dem Fluß zu, gezogen. Er ging auf die Mündung der Hintergasse zu. Da gehen sie nun, dachte er, ganz ruhig und gcschäfts- andächtig, alle die, die Arbeit haben. Weniger erregt, als wenn sie einem Stierkamps oder einem Ringkampf, ja, einem Hahnenkampf oder einem Kampf zwischen einer Schlange und einem Mungo beigewohnt hätten. All dies hier war wohl im höchsten Fall so interessant, wie wenn trainierte Terrier sich darum raufen, welcher am schnellsten und besten die ein- gefangenen Ratten in den großen Käfigen der Wettbaracken im Westen zu Tode beißt. Helge ging plötzlich langsamer. Ein paar Schritte vor der sonnendurchtränkten Straße stand iin Schatten des Gäßchens eine zitternde Lumpengestalt. Der Mann stützte sich mit einer Hand gegen die Mauer, während er mit einem schmutzigen, schneedurchnäßten Tuch in der anderen eine Munde an der Stirn abwischte. Seltsame Zuckungen zogen seinen Körper gleichsam galvanisch zusammen: er hustete, und was er ausspuckte, war blutig. Bendel wollte in einem Bogen an dem Armen vorüber- gehen. Aber dieser wandte sich beim Knirschen der Schritte erschrocken um. Es war ei» mageres Antlitz, ringsum von einem un- ebenmäßigen, lichtbraunen Bart eingerahmt, einem Bart, der niemals rasiert oder gestutz twurde. Ein Paar blaue Augen, verzweifelt, wie halhgebrochen, mit demselben Schicksals- ausdruck des Gezeichneten wie bei einem todkranken Tier, bo- gegneten denen Bendels. Er blieb stehen und suchte in seiner Erinnerung nach einem Antlitz zu Hunderten zogen sie vorüber an dem langen Einwandererschalter der Zwischen« decksabteilung. Aber nein, nein noch weiter zurück vielleicht unter den Schivedcn in der Kolonie drüben auf der Nordseite, im ersten Jahr? Nein auch da nicht. Die Fa- briken, in denen er das erste Jahr Arbeit gesucht hatte? Nein, noch weiter zurück. Und dann wie ein Blitz: Herrgott das ist ja das ist ja der Reisekamcrad von Stockholm   Burmeisters ehemaliger Associ6 der tllchtjge, lebenssichere, zukunftsgewisse Herr Forsmann I Der Golf" schwankte wie ein Meer. Es war halb eins. In fünfundzwanzig Minuten wurde die Börse geschlossen. Bären und Stiere rasten. Ihr Brüllen war weit über die Straßen hin vernehmbar. Eine dicke Schicht Staub bedeckte die Treppen, und selbst unter den Tür- öffnungen hing die Dunstwolre gleich einem Vorhang. Die zahllosen Probesäcke voll Mais, Roggen und Weizen waren es, die hauptsächlich diese imnier dicker werdende Staubluft her- vorbrachten. Gleich kalten, weißen Sonnen leuchteten hoch oben in dem ungeheuren Saal eine Riesenmasse von Bogen- lampen, deren zischende und wechselnde Strahlen durch das schwimmende Gewölk der Atmosphäre drangen. Das Gold des lebendigen Sonnenscheins verblich und verschwand vor dem Schneelicht und der Staubregion. Ztveitausend Menschen schrien, jeder für sich, Zahlen und unbegreifliche Ausdrücke hinaus. Zweihundert Telegraphisten, jeder innerhalb seiner rivalisierenden Telegraphengesellschaft The Western Union   und The Postal klapperten unaufhaltsam auf ihren Apparaten diese zweitausend, Sekunde um Sekunde gegebenen Ordern oder nahmen Kaheltelegramme und Tele« gramme in Empfang. Gelbe Blankctte und zerrissene Kuverte, blaue und weiße Notizzettel, Zeitungsabrisse, Kalk- und Seidenpapier lagen in Hansen iiher dem Fußboden, über Pulte und Menschen umhergestreut oder flogen gleich In- sekten durch die Luft. Und dazwischen hagelte immer wieder eine Handvoll Maiskörner unter die Makler. Helge suchte Herrn Roth.