Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 227.
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Freitag, den 21. November.
20 Helge Bendels Luftfchlöffer.
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1913
zu versäumen, das sie jetzt, in dieser einen Sekunde, besaßen. Bei der Erinnerung an diese Küsse, die ein einziger langer Kuß gewesen waren, bis es ihm gleich Sternen vor den Augen Ein Chikago- Roman von Henning Berger. tanzte, ward Helge blutrot, und in zitternder Erregung erhob Was aber den Blid vor allem fesselte, war ein riesiger er sich vom Diwan; ihm war, als fühle er noch jetzt diese bebenToilettetisch, so vollgepfropft mit allen Geheimnissen eines den, berauschenden Lippen, die sich gegen seine eigenen Reisenecessärs in Gold, Silber, Elfenbein und Kristall, daß er preßten. Nein, es war kein Traum gewesen. Aber auch einer Weihnachtsausstellung glich. Flaschen, Büchsen, Kämme, Wirklichkeit war es nicht; etwas Unmögliches lag darin, Bürsten, Spiegel lagen da durcheinandergestreut, und Kar- das sein Inneres mit Furcht und Grauen erfüllte. Was er tons wiesen die Barfümmarken von Coty und Lubin, Seifen- gewonnen hatte, das würde er binnen wenigen Stunden etifetten von Houbigant und Pinaud. Fächer lagen da- wieder verlieren. zwischen und Handschuhe, künstliche Blumen und lange, edelUnd wieder ganz blaß sah Helge sich um in diesem Raum, steinbesetzte Nadeln, die Schmetterlingen glichen. Buder- in dem alles ihn mit einer Sehnsucht erfüllte, die ihm die quaften und Briefe, deren Umschläge Monogramme in Silber, Tränen in die Augen trieb und in dem der Duft zu ihm in Olib, in Not trugen, häuften sich zwischen Manifuruten- redete wie ein Flüstern. filien und Brennscheren, Schleiern, Gaze, Spitzen, Fichus und Armbändern. Der freisrunde Spiegel, der sich an seinen zwei Haltern leicht über all diesen weiblichen Flitterkram neigte, als wolle er ihn füssen oder streicheln, verdoppelte in seiner Scheibe den Reichtum des wechselvollen Wirrwarrs. Und es war, als jende dieser ganze Luxuskram mit den Spiegelstrahlen einen intimen Atemhauch aus von der unsichtbaren Haut, der er diente.
Er zog seine Uhr. Sie wies auf Drei. Und Punkt zehn sollte die Atlantiklokomotive zischend gen Osten dampfen mit diesem schimmernden Traum, eingebettet in einen der Waggons gleich einer Perle zwischen der Watte einer Juivelierschachtel. Und vorher würden noch fremde- ach! all solch fremde Menschen kommen und reden und Abschied nehmen und Verabredungen treffen. Alles war ja doch ein Chaos. Was wußte und fannte er von ihrem Leben, ihren Gewohnheiten, An der Linkswand war eine Tür. Sie war geschlossen, all den notwendigen Formen, die die Branche erforderte, von und Helge konnte nicht erkennen, ob sie zur Seite geschoben der sie lebte. Was sie beide, ihn und sie, zusammengeführt oder wie eine gewöhnliche Tür geöffnet werden würde; denn hatte, das war die Heimat; wie eine Schutzgöttin hatte hier Lachsfarbene, seidene Portieren, die trop der schneidenden der Zufall gespielt. Bon allem zu Hause hatten sie geredet; Farbe mit der straußengrauen Wandbekleidung des Zimmers harmonierten, verdeckten die Klinke. Und auf diese Tür starrte er nun seit einer Viertelstunde.
batten sich gegenseitig alle Erinnerungen, Bilder und Erlebnisse aus der frühesten Kindheit zu Füßen gelegt, und Helge war zuletzt so ganz und gar aufgegangen in seiner Erzählung, Durch diese Tür würde sie kommen. Was für ein wunder- daß er ihr sein Leben vorgelesen hatte wie aus einem Buch. barer Sonntag das gewesen war! Ein ganz gewöhnlicher, Es war mehr als ein Erzählen; angestachelt von ihrem Schweinebliger Morgen, mit all dem Stillstand, all der Abgeschlossen- gen und ihren leuchtenden Augen hatte er ihr sogar seine heit, die ein Sonntagmorgen in der Großstadt mit sich bringt. Träume, all seine stillen Hoffnungen und unausgesprochenen Begräbnisenge in der Luft, Trauerkleider auf der Straße, Gefühle gegeben; hatte sich weggedichtet aus dem ErdenLäden vor den Schaufenstern, ernste Mienen, schwere Schritte. milieu und sich erhoben in Wolfengebilde, einen Fernblick Und dann als er mißmutig und einsam in den steifen in den Augen und Wärme in der Stimme- um zuletzt, ganz Alleen von Lincoln Park umherstrich, war er Fräulein Nilsson, blaß unter der Spannung der eigenen Worte und Wiederdem Mantelmodell, und den zwei Schwestern Fanchetti be- gabe zu verstummen, wie in einem tiefen Atemholen nach gegnet. dem endlich erklommenen Gipfel einer Bergwanderung. Und da hatte sie ihn gefüßt.
Und auf einmal schien die Sonne und der Himmel war blau und an den Zweigen sproßten grüne Blätter und Senospen, und auf den Rabatten blühten Blumen; Schwäne schivammen auf den Teichen, und die Springbrunnen rauschten, als wäre es Sommer. Zwei Stunden lang waren sie miteinander durch den verlassenen Park gewandert, und darauf war es Helge Bendel gewesen, als fennte er Lilly Aelgström seit zwei Jahren. Sie waren beide rasch gegangen, als gälte es, zu einer bestimmten Zeit an ein bestimmtes Ziel zu gelangen; und so waren sie beide allein gewesen. Weit hinter sich hörten sie anfangs noch die Rufe der anderen; aber fie waren weiter gegangen und hatten geplaudert, geplaudert, geplandert. Die anderen blieben zurück, verloren fie aus dem Gesicht. Bendel und die Varietésängerin wußten schließlich nicht mehr, wo sie waren. Am Tierhaus waren sie längst vorüber, und jest saben sie einen Friedhof vor sich mit Hügeln und Kreuzen und weißen Steinen, die hinter Pappelstämmen Herborschimmerten. Da hatten sie sich auf eine Bant gefeßt. Verwirrt sah Helge sich in dem Hotelsalon unt. War es ein Traum gewesen?
Nein, es war Wirklichkeit.
Und gerade vor sich, als wär es ein Gemälde auf dem grauen Brokat der Wände, sah er die Steinbank, die Säulenstämme der Pappeln, das Bronzehaar des Mädchens, und einen roten, roten Mund.
Aber das Seltsamste waren doch die Augen. Die Pupillen waren wie Ringe in Ringen, die sich weiteten und zu fammenzogen. Er blickte in diese Ringe, und ihm war, als fiele er durch unendliche Räume, große Tiefen und Himmelsweiten. Und auf einmal hatten sie die Arme umeinander geschlungen und sich gefüßt gefüßt wie die Ausgehungerten, wie Verschmachtende, die nicht genug bekommen fonnten und in lang zurückgedrängter Raserei sich jetzt herwarfen über das, was ihnen geboten ward- voller Angst, die Minuten zu vergeuden, etwas zu verlieren, auch nur ein Winzigstes dessen
Aber von sich selbst und dem Leben in Amerika hatte sie bloß in wenigen andeutenden Zügen gesprochen. Aufs neue waren sie, diesmal sozusagen Hand in Hand, zurückgewandert in das Erinnerungsleben der Heimatwelt. Sie fragten, sie verglichen, sie forschten, sie vervollkommneten ihre Jugendund Entwickelungsjahre. Er schilderte seine Stadt, baute sie vor ihren Augen auf, malte sie, belebte sie, als wäre sie eine Miniaturmosait, die in einer Siste verwahrt und behütet worden war. Auch sie ward mitgerissen von dieser Stimmung, und mit leuchtenden, ab und zu verschleierten Augen und einem seltsamen Wehmutlächeln erzählte sie von den Sommertagen auf dem alten Gut, das ihres Vaters Stuin gewesen war. Es war, als suchten sie sich beide mit den Stimmen halb erstaunt und halb erschrocken. Nach dem gewaltigen Ausbruch, der ganz impulsiv gekommen war, fuchten sie nach geheimen Gliedern, die ihnen unbewußt ihre Schicksale ineinander verflochten hatten, ehe sie sich gegen feitig noch abuten.
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Es ist nicht wahr... es ist unmöglich murmelte Bendel und rang die Hände. Er fühlte, wie er vor der Wirklichkeit zunichte ward. Und mit der Uebertreibung des Unerfahrenen dachte er: Wenn sie fort ist, ist alles aus. Ich werde wahnfinnig.
Er sah vor sich das Kontorlokal, wie ein unheimliches Gefängnis, in dem die Kollegen umberglitten gleich Schattengespenstern und die Vorgesetzten waren wie Henkersknechte. Eine wunderliche Zusammenstellung war es sich vorzustellen, daß dies selbe Gebäude beides enthielt Paradies und Unterwelt.
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Es fnackte an der Paneeltür; und Helge verspürte ein Rieseln über den ganzen Körper, als ob eine warme Strahlendusche über ihn niederginge. Er vergaß die kurze, schwindende Zeit, und alle Gedanken, die noch eben gleich gärenden