Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 230.
Mittwoch, den 26. November.
29 Helge Bendels Luftfchlöffer.
Ein Chikago- Roman von Henning Berger. Sie lächelte empor in Bendels verzweifeltes Gesicht, das fast komisch wirkte in seiner Betrübnis. Von der langen, dünnen, mit kleinen Steinen besegten Goldkette, die sie um den Hals trug, nahm sie an der Gürtelspange einen kleinen Anhänger, eine kleine silberne Laterne mit einem Rubin als Lichtauge und reichte ihn Helge.
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Die soll Dir Glück bringen eine Mascotte fagte sie; laß sie Dir leuchten von Lilly.
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Noch einmal flehte er, sie möchte ihn dabehalten möchte ihm erlauben, später noch einmal wiederzukommen, sie zum Bahnhof zu begleiten allein dort hinzugehen-
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Aber nun wurde sie böse, und er gelobte, vernünftig zu sein, ihr Freund zu bleiben ihr zu schreiben. Lächelnden Blides trennten sie sich.
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Eine Elster!
Und er frächzte wie eine Krähe.
1913
Dann zog er ein zusammengefaltetes Papier heraus und formte eine Menge Figuren daraus einen Hut, eine Laterne, einen Fächer, eine Treppe. Und zulegt zog er grellbunte, lange Papierbänder aus dem Mund.
Aus den Fenstern warf man ihm in Zeitungspapier gewickelte Kupfermünzen herunter.
11
Helge sah noch wach die Züge des alten Gauklers vor sich so deutlich, als hätte er erst gestern auf dem alten Hof gespielt.
Die Kontoruhr schlug; er fuhr zusammen. Zehn Schläge waren es. Jest ging der Zug.
Ein Frösteln durchlief ihn. Er stand auf. Im selben Augenblick knackte es am Clark- Street- Eingang und ein Patentschlüssel knirschte. Es wollte jemand ins Kontor. Bendel war plößlich hellwach. Er schlich sich zur Hinter
Aber schon auf dem Sorridor wollte er wieder umkehren. tür hinaus, die lautlos hinter ihm aufiel. Er wollte nicht Im vierten Stock verließ er den Lift und begann, die Treppe hier gefunden werden; aber er war neugierig, zu sehen, wer hinaufzusteigen. Dann raffte er sich auf und schlich langsam so spät an einem Sonntagabend sich im Kontor zu schaffen machte. Durch die Hallenfenster spähte er vorsichtig in das hinunter. Lokal.
Erst wanderte er in der sinkenden Dämmerung auf den leeren Straßen zwischen den Festungswällen der Häuser umher und sah, wie an den Ecken, wo Bars und Apotheken lagen, die Lichter angezündet wurden. Aber er konnte sich nicht dazu entschließen, den Stadtteil zu verlassen und auf die Nordseite des Fluffes zu gehen. Er wollte niemand sehen, nicht Holme und nicht Griff und nicht Hannover , sondern allein sein und die wunderbaren Begebenheiten des Tages noch einmal durch leben. Später würde er wohl das Bedürfnis haben, sich wenigstens Griff anzuvertrauen, mit irgendeinem Menschen über Lilly Fanchetti zu sprechen, vor irgendeinem Menschen feiner Phantasie und seinen Hoffnungen die Zügel schießen zu lassen, Luftschlösser zu bauen. Aber nicht heute abend.
Jekt sah er einen Herrn langsam eintreten und an drei oder vier Lampen das Licht aufdrehen; sab, wie er langfam, ohne Hast, Ueberzieher und Hut ablegte und darauf die Handschuhe abstreifte. Es war der Oberrevisor, Herr Curtis.
Er schloß die Klappe am Stehpult des Buchhalters auf und breitete einige Papiere und Bücher vor sich aus. Langfant und methodisch fing er an, die Zahlenreihen durchzugehen, indem er dann und wann eine Notiz in eine kleine Kladde schrieb.
Helge sah von Zeit zu Zeit sein Gesicht in voller Beleuchtung. Es war falt, ruhig, in sich gefehrt, verschlossen. Wenn er ab und zu aufblickte, zeigten seine schwarzen Augen ebenfowenig Ausdruck wie ein verrußtes Brennglas.
Erst vor ein paar Minuten noch hatte das Hotel unter diesem selben Dach ein Wesen geborgen, das Helge Bendel gestreift hatte wie eine Botschaft, eine Offenbarung, ein Hauch vom Leben, von der Welt, die an ihm vorüberzogen. Zurüc
blieb das Kontor.
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6.
Er kehrte um und ging um das ganze Viertel herum, schwenkte um die Steinmassen und sah die ganze Zeit durch alle Straßenöffnungen die strahlende Fassade des Hotels und die Lichter über dem überdeckten Eingang. Schließlich ging er durch den hinteren Eingang ins Kontor, wie zu einer letzten Zufluchtsstätte. Drinnen war es still und kühl wie in einer Kirche. Alle die leeren Bulte und Stühle standen in steifen Reihen, wie der Portier nach der Sonntagsreinigung sie hingestellt hatte. Alle Papierkörbe waren ausgeleert, die KaTenderblätter ordentlich für den nächsten Tag abgerissen, alle Reklamebroschüren zu gleichen Haufen geordnet. Zwei große Kandelaber in der Clark Street warfen ein weißes, mondscheingleiches Licht durch das hohe Bogenfenster und zeichneten die Schildbuchstaben auf der Scheibe in umgekehrter Schrift In der ersten Woche kamen zwei, drei, vier Briefe täg. auf den Mosaikboden. Es glänzte auf Tafel und Rahen der Schiffsmodelle, auf den Marinebildern an den Wänden und lich. Aber nicht nur Briefe, auch) Ansichtskarten, ganze auf den mattgeschliffenen Scheiben der Telephonzellen. Da- Kreuzbandpakete mit Zeitungen, Programmen, Bildern und zwischen gähnten schwarze Schatten; aber Helge mochte fein Licht anstecken, sondern setzte sich in die hinterste Ede auf ein Sofa in der Frachtabteilung.
Den ganzen April hindurch erhielt Helge fast täglich Briefe von Lilly Melgström- Fanchetti. Es war eine seltsame Beit, und ihm deuchte, als wechsle diefer launenhafte Verbeißungsmonat voll Sturm und Gewölt, mit seinem Himmel in Grau und Blau, mit Schnee und Hagel, mit Sonne und Regen und allen vier Winden der Erde gleich seinen eigenen Stimmungen.
Notizen. Da waren Kritiken und Reflamen, Anzeigen, Lieder, Interviews, sogar Modejournalbilder, für die die Schweſtern Modell gestanden hatten. Dann famen Telegramme, die geEine Weile saß er so und weinte; gulegt schlief er ein. bieterisch eine Antwort heischten und ihn zur hellen VerIn einem Traum erivachte er. Er war daheim gewesen, zweiflung trieben, weil er nicht die Mittel batte zum Telegraviele Jahre zurück in der Zeit. Es war in einem großen Hof, phieren. Zu den unglaublichsten Zeiten kamen fie manchmal, bei dem Haus, in dem er als Knabe gewohnt hatte, ehe der mitten in der Nacht, oder morgens früh um sechs, einfach in Bater seine Anstellung in der Feuerversicherungsgesellschaft der Eingebung des Moments abgesandt, aus dem Impuls bekommen und in die Norrlandsstraße gezogen war. In der des Augenblicks heraus, bei einem lustigen Diner, einem Majorsstraße war es; und er sah den Hof mit der alten Linde, Mitternachssouper, in einer einsamen und verlassenen Minute die Reihe der Klosett- Lattentüren und die schwarze Feuerim Hotelzimmer, auf einer Autotour, einer Segelfahrt, in leiter, die an einer hohen, grauweißen Brandmauer lehnte. einem ländlichen Wirtshaus. Sie enthielten nichts und sagten Er sah auch Kinder, die Fuchs und Hase spielten zwischen dem darum so viel. Eines sagte: Darling, was machst Du jekt Baum und der Kehrichttonne. Und mitten im Hof, in einem gerade? Ein anderes: Habe heut' Nacht von Dir geträumt. Haufen von Menschen, stand ein alter pensionierter Herr, ein Ein drittes: Bin in Gedanken immer bei Dir. Wieder ein Deutsch- Däne, der Tierstimmen nachahmte und Zauberkunst- anderes verkündete bloß: Gutenmorgenfuß! Aber dieser sinnstüde machte. Er hatte weiße Haare und einen weißen lofe, liebliche Unfinn spann ihn ein in ein Libellennek von Schnurr und Kinnbart- lekterer ein bißchen, schmußiggrau nenen Träumen und Gefühlen, die seinem Sirn, ihm selbst und bockartig, aber im alten französischen Schnitt. Seine unbewußt, neue Nahrung und Entwickelung gaben. Augen waren braun, von einem liebenswürdig- verzweifelten Ausdruck, und auch sein Rock war braun und an den Ellbogen geflict. Er fagte:
Ein tieines Schweinchen! Und dann grunzte er wie ein Schwein.