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die Haltung des Bolles musterhaft sei. Soeben hat es der Polizeiinspektor wiederholt, als er den Saal räumte. Der Gerichtshof schließt die Oeffentlichkeit meiner Rede wegen aus. Aber abgesehen davon, daß der Hof nicht weiß, ob ich jene Mede, wie sie gedruckt ist, wirklich halten werde, woher weiß der Gerichtshof, Saß, wenn ich sie hielte, das Publikum seine musterhafte Haltung ablegen und die Ruhe stören würde? Kein Egzeß, nicht das leiseste Beichen von Tumult hat stattgefunden. Die öffentliche Nube ist also noch nicht bedroht. Nur die bloße aschgraue Möglichkeit liegt vor, daß die öffentliche Ruhe vielleicht durch meine Rede bedroht werden würde. Die bloße Möglichkeit liegt immer bor; sie lag gestern so gut vor wie heute; sie wird jedesmal vorliegen. Die bloße Möglichkeit wäre ebensogut vorhanden, wenn der Gerichtshof meine Rede nicht gelesen hätte.
Soll ich, wollen Se so schamlose Gewalt anerkennen? Nein, meine Herren, ich werde mich nicht verteidigen, und ich trage bei Ihnen darauf an, daß Sie tein Urteil fällen. Sie fönnen fein Urteil fällen. Die Verteidigung ist nicht geführt. die beiden Verteidiger haben sich begnügt, einige wenige Bemerkun gen hinzuwerfen, weil sie wußten, daß ich die Hauptverteidigung führen werde. Ich aber werde nicht eher sprechen, bis die Deffentlichkeit wiederhergestellt ist. Und ob Sie auch einstimmig entschlossen sind, mich freizusprechen, ich verlange feierlich von Ihnen, „ daß Sie erklären, nicht eher ein ja noch ein Nein. ein Schuldig noch ein Nichtschuldig aussprechen au wollen, bis ich mich verteidigt habe", toie ich feierlich erkläre, nicht sprechen zu wollen, bis die Oeffentlichkeit wieder eingetreten ist. Meine Herren, es ist Ihre Pflicht, diese Erklärung abzugeben. Nicht mein Vorteil ist's, was ich von Ihnen verlange. Für mich wäre diese Erklärung die nachteiligste, denn man würde meinen Prozeß bis zu den nächsten Assisen ausseßen und mir so eine weitere viermonatige Kerterhaft daraus entstehen. Aber nicht um meine Person handelt es sich hier. Das Recht der Oeffentlichfeit steht auf dem Spiele. Es ist Ihre Pflicht, als rheinische Geschworene die Rechte der Rheinprovinz zu schirmen, das Recht der freien Oeffentlichkeit diesem Lande unverfümmert zu erhalten. Als freie Männer, meine Herren, beschwöre ich Sie, wahren Sie des Landes Rechte, denken Sie an Ihre Brüder, Ihre Kinder, die alle sich in gleicher Lage finoen können. Weigern Sie sich, zu sprechen! Der Präsident gib. darauf in aller Eile ein kurzes Resumee von faum 10 Minuten, worauf sich die Geschworenen zurückziehen. Während ihrer Becatung geht im Zeugenzimmer plößlich das Gerücht, daß in der Tat die Geschworenen zu sprechen sich weigerten. Mehrere von ihnen verfochten längere Zeit diese Ansicht.
Nach ihrem Wiedereintritt verkündet der erste der Geschworenen das Urteil, welches für beide Angeklagten auf Nichtschuldig lautet. Der Staatsproturator widersetzt sich auf Grund des Verweisungsurteils der Freilassung Lassalles. Auf das Kautionsanerbieten Lassalles erklären sich die Richter( jest in dritter Instanz für infompetent."
Soweit der Bericht. Von den Geschworenen freigesprochen, wurde Lassalle in die Untersuchungshaft zurückgeführt und fam am 5. Juli 1849 vor das Zuchtpolizeigericht, das den Ansichten der Staatsanwaltschaft besser entsprach und ihn wegen Aufforderung zum gewaltsamen Widerstand gegen Staatsbeamte zu sechs Monaten Gefängnis verurteilte. Zunächst auf Grund ärztlicher Zeugnisse gegen Kaution freigelassen, hat Lassalle diese Strafe vom 1. Oftober 1850 bis 30. März 1851 im Gefängnis zu Düsseldorf verbüßt. Von der langen Untersuchungshaft ist ihm auch nicht eine Stunde in Anrechnung gebracht worden!
Die Erinnerung an die Affisenrede und die bier geschilderten Vorgänge muß frisch erhalten werden. Deshalb widmen wir dem Geschehenen diese Spalten. Und wir erinnern zum Schluß daran, daß noch heute in Preußen gilt, was Lassalle 1849 drei Wochen vor der Oftrovierung des Dreitlassenwahlsystems entrüstet ausrief: „ Nach Ständen und Steuertlassen werden wir wählen!"
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Dieser Führer des jungen Deutschlands war ein typischer vordirzlicher Charakter. Ein zwittriger Zustand zwischen fast abgestreifter Romantit und unfertigem Realismus tennzeichnet diese Köpfe, für die der Glaube an die absolut herrschende weltbestimmende Idee den Angelpunkt des Denkens ausmacht. Sie wollen mit diesem Maß die Ereignisse des Märzjahres schäßen und richten und fommen auch nach der Revolution nicht davon los. Das ist das Berhängnis ihres Lebens und Wirkens. Ihr ernster Arbeitseifer gewinnt die Aufmerksamkeit einer breiten Lesewelt, aber zu einer schöpferischen Zeitwirksamkeit gelangen sie nicht. Ihre Kraft treibt nur Luftwurzeln, die den Boden nicht erreichen. Gußlows Programm furz nach den Märzjahrstürmen lautete: Mit der Zsolierung ist es nichts, mit der breiten Masse und Zahl auch nichts, die Elite muß sich finden." Diese Jdee, im Bunde der Ritter vom Geiste ausgedrückt, touchs zu einem Romanplane an, der ihn unter der bezeichnenden Aufschrift Läuterungen" seit Jahren beschäftigte und in den er sozusagen einen politischen Wilhelm Meister " schreiben wollte.
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Goethes Wilhelm Meister wandert von Gesellschaftsschicht zu Gesellschaftsschicht und ist immer der Mittelpunkt alles Treibens; Gußtow wollte über diesen Romantypus hinaus: er wollte die Welt, die er im Durchschnitt aufrollen will, nicht von einem Helden aus zeigen, sondern in ihren Teilen realistisch verselbständigt leben lassen. Nicht in einem Nacheinander sollte das Weltbild erwandert werden, sondern in einem berwachsenden„ Nebeneinander" das ist Guytows eigenes Wort- sollten ihre gesellschaftlichen Teile in Wirksamkeit dargestellt werden. Hier lag der Fortschritt, der Gußtows Roman bedeutend macht. Das schriftstellerische Ziel war das Produft einer neuen Zeit, die die Dinge nicht mehr mit aristokratischen Augen ansah, sondern mit bürgerlichen. Das aristokratische Element erscheint nun gleichsam bürgerlich angegangen und die proletarische Unterschicht ist nur ein traumwandelnder, geistig noch unselbständiger, unentwickelter Volksbestandteil, in den von oben her einzelne durch den Makel der Geburt brüchige Individuen hineinreichen.
Diese Auffassung der Gesellschaft zeigt die zeitbestimmte Grenze an, die der Bedeutung des Gutkowschen Romans gefekt war. Den Schritt darüber hinaus bereitete erst die gesellschaftliche Entwidelung der nachfolgenden Jahrzehnte vor, die den Zufammenhang und das Eigenleben der Schichten und Klassen klarer und schroffer herausarbeitete und einen Bola möglich machte. Aber für die Mitte des Jahrhunderts waren die Ritter vom Geiste ein Ereignis. His einer von vielen trat Hebbel für das Wort ein:„ Die Ritter vom Geiste. äußerlich an Eugen Sue antnüpfend, erheben sich zu einer solchen inneren Selbständigkeit- und betätigen Gußtows bewunderungswürdigen Instinkt für das geheime Walten und Weben der zukunftsschwangeren Gegenwart auf so glänzende Weise, daß die feltene Produktion nicht bloß als Roman, sondern auch als historisches Daguerreotyp einen hohen Rang in Anspruch nehmen darf, und daß jeder Redliche sich freuen muß, die rasche, bisher in buntester und oft erschreckender Vielseitigkeit aufgegangene Entwidelung des Verfassers so überraschend im gesättigten Fruchtfnoten zusammengehen zu sehen." Der Roman Gubkows hat ein Recht auf einen Blaß in den Arbeiterbibliotheken, und die Genselsche Ausgabe ist für diese Zwecke geeignet.
Technisches.
frd.
Der Neudruck der Assisenrede ist für 50 Pf. vom sein. Neben dem englischen Marconisystem nimmt das deutsche Vorwärts- Berlag zu beziehen.
Kleines feuilleton.
Literarisches.
Karl Gubfoms Ritter vom Geiste. Der große Roman in neun Büchern Die Ritter vom Getste", den nicht bloß die deutsche Literaturgeschichte, sondern die deutsche Zeitgeschichte der mittleren Jahrzehnte des verflossenen Jahrhunderts hoch bewertet. ist vom Deutschen Verlagshaus Bong u. Co., Berlin , in einer neuen breibändigen Ausgabe( ieder Band gebunden 2 M.) herausgebracht worden, zu der Reinhold Genset eine über Werden und Sinn des Romans gut unterrichtende Einleitung geschrieben hat. Gußfow trug den plan des Werles lange mit sich herum; er wuchs mit seinem Leben, das sich darstellt als ein unermüdlicher Kampf um ein Durchdenten und Erfassen der weltlichen Wirklichkeit in ihrer zeitgegenwärtigen Erscheinung, die von Gußten als auf der Wende weier Beiten gelegen begriffen wurde.
Berantw. Redakteur: Alfres Wielepp, Neukölln, Trud u. Verlag:
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Schiffsbautechnisches. In den Verhandlungen der 15. Hauptversammlung der Schiffsbautechnischen Gesellschaft, aus denen wir einiges mitteilten, wies Direktor Bredow- Berlin auf die großen Fortschritte der deutschen Funtentelegraphie in den leßten 10 Jahren hin und auf die bevorstehende Eröffnung der drahtlosen Linie von Nauen nach Togo in Südwestafrika. Der Anschluß für Ostafrita ist 1915 au erwarten. Auch in der deutschen Südsee schreiten die Arbeiten rustig vorwärts, und der Anschluß nach Samoa und Neuguinea wird gleichfalls bald fertig hergestellt Telefunkensystem die erste Stelle ein. England besißt heute 563. Deutschland 355 Handelsschiffsstationen. Im Anschluß an die Mitteilungen über die Funkenspruch- Einrichtungen auf dem Imperator", die als auf voller Höhe gerühmt wurden, bezeichnete es Konteradmiral Emsmann- Charlottenburg für wünschenswert, daß man nicht nur vom Schiff aus sich telegraphisch mit dem Kontinent verständigen fann, sondern daß man auch telephonisch mit dem Kontinent verbunden wird. Man hat darüber zuerst den Kopf geschüttelt, aber es gelang sehr bald eine telephonische drahtlose Berständigung auf 800 kilometer. Jebt ist man daran, eine drahtlose telephonische Berbindung zwischen Europa und Amerika herzustellen. Hierauf erwiderte der Referent Direktor Bredow, daß vorläufig wohl von einer Verdrängung der drahtlosen Telegraphie durch die drahtlose Telephonie noch nicht gesprochen werden kann. Sinmal stehen der drahtlosen Telephonic große sprachliche Schwierigteiten entgegen, und weiter hat sie den Nachteil, daß man bei ihr entweder immer nur sprechen oder nur hören kann. Es werde sehr schwierig jein, ein ordentliches Gespräch zustande zu bringen. Die drahtlose Telephonie sei wohl technisch zu machen, aber für den internationalen Schiffsverkehr unpraktisch. Vorwärts Buchdruckerei u.Berlagsanstalt Paul Singer& Co..Berlin SW.