Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 14.

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Mittwoch, den 21. Januar.

Das Menschlein Matthias.

Erzählung von Paul Jig.

Ein liebenswürdiges Herein" war es gerade auch nicht, womit Herr Oberholzer die Klopfende einlud. Erst als sie ihre Botschaft verkündet hatte, verwunderte sich der Uebel­gelaunte über den hochnäßigen Ton, der ihm vorkam, wie aus der Pistole geschossen. Wer ihm sonst etwas zu bestellen hatte, tat dies meist auf eine sehr behutsame Art, das heißt, er breitete gleichsam einen Teppich aus, dem Gewaltigen die Mühe angenehm zu machen.

Er sah also auf und schoß vom Stuhl in die Höhe. Zum Donnerwetter, fomm mir nicht so daher, Maitle, wie wenn Du hier Dein Waschbecken ausleeren müßtest! Was hast Du zu berichten?"

glückt.

Noch ein Nachmittagskonzert! dachten die draußen be­Aber Angst hatte Brigitte wirklich keine. Auch behielt sie den Türgriff in der Hand.

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glauben, daß auch sie ein Totengräber war, der die eigene Jugend lebendig begraben mußte.

Aber heute fiel es ihr ein, und lange, lange blieb ihr Blick auf den grünen Gräbern haften, als wär's ihr weit besser, recht bald in jene Stadt cinzuziehen, wenn auch schweigend, ohne Geleit und in kahlem Gehäuse

Derweilen saß das Söhnlein Matthias nicht minder er­regt bei den neuen Geschäften. Seine Fortschritte waren der­art, daß ihm bereits ernste Aufträge vertraut werden durften. Kaum hatte er etwelche Ordnung in seine Erlebnisse gebracht und den Zusammenhang der großen Gewerkschaft zur Bleiche begriffen, beschloß er, ein ganz gewaltiger Zeichner vor dem Herrn zu werden. Die Mutter konnte sich nicht retten vor einschlägigen Fragen. Aber die Sorge, daß er noch Heimweh nach dem Gupf haben könnte, durfte sie ruhig fallen lassen.

4. Der Bater.

Er galt von jeher als Schrullenkopf, der schon die üppig­ſten Stnollen trieb zu einer Zeit, da gewöhnliche Sterbliche noch kaum einen Schimmer Eigenheit aufbringen. Viele Sie sollen ins Kontor zn Herrn Hirsch kommen. Sonst nannten ihn immerhin mit Einschränkung einen Glückspilz, red' ich doch allen deutlich genug. Und zudem bin ich nicht weil er in der besten Zeit des industriellen Aufschwungs zu Ihre Duzfreundin, Sie ungehobelter Grobian!" sagte sie so feinem Beruf und einem Unternehmer kam, der ihm die laut, daß es wiederum die ganze Versammlung hören fonnte. Stange hielt und den Weg nach Paris  , London  , New York  Ei, gab es da vergnügte Mienen. Auf solchen Festtag erschloß, wo er ſeinen Geschmack als Modezeichner ausbilden wußten sich die ältesten Einwohner nicht zu besinnen. Aber konnte. Das sagten besonders seine Kollegen, die er alle bald diesmal wurde freilich das Musterfräulein mit anderen Augen schrieb er nur der eigenen Begabung zu, und der klingende überflügelt hatte. Er dachte ganz anders. Sein Aufkommen betrachtet. Und das Allermerkwürdigste an dieser Geschichte Erfolg, so groß er anderen Augen schien, dünkte ihn viel zu kam noch, als der Dessinateur seinen roten, mißratenen See­kam noch, als der Dessinateur seinen roten, mißratenen See- gering. Nach seinem Ermessen war er von dem durchtriebenen Hundskopf herausstreckte und, gleichsam in tiefster Seele er­frischt, hinter der Flüchtigen herrief: Alle Achtung, Du Juden Hirsch in all den Jahren gemeinsamer Arbeit übers schwarzer Satan! Du bist allweg nicht aufs Maul gefallen! hr gehauen, ruchlos ausgebeutet worden. Das sagte er Was meinen Sie, Green? Das wär' am End doch die Rechte für mich,? Ja, beim Strahl!" Vor dem allgemeinen Geficher und offenen Gelächter machte sich Brigitte schweigend, voller Scham, Elend und Ab­schen aus dem Staube. Schlug es denn kein Loch durchs Dach, daß dieser Meister Uebermut, der ihr Leben gewissenlos ver daß dieser Meister Uebermut, der ihr Leben gewissenlos ver­giftet hatte, sie zu allem noch derart bloßstellen, verhöhnen durfte! An jedem anderen Ort wäre sie mit dem kleinen Matthias noch einmal vor den Frevler hingetreten, um ihm ins Gsicht zu schleudern: Vor Deinem Kinde schäme Dich, Du wüster Gesell!" Aber auch hierzu mißte die rechte Stunde und Gelegenheit wohl noch kommen. Sie konnte warten. Ihr Herz wollte zerspringen vor Weh, als sie ans Fenster wankte, um ihren heißen Atem zu kühlen.

jedem, der's hören wollte. Diese Ueberzeugung hatte Ober­holzer besonders in den letzten Jahren gewonnen, in denen des Fabrikherrn Riesengewinste das Einkommen des Beichners tief in den Schatten stellten. Das machte diesen mußte, daß der kleine Hirsch ganz beträchtliche Verdienste an giftig, widersetzlich, trunksüchtig. Wenn er auch zugeben der Eroberung des Weltmarktes hatte, die den feinigen sicher nichts nachgaben, so wies er dafür entrüstet auf dessen Millio­nen hin, denen er kaum ein Zehntel an Verdienst entgegen­Oberholzer, dem das Sparen schwer fiel, wahrhaftig immer setzen konnte. Mit seinen fünfzig Jahren war der Dessinateur noch ein Wann ohne nennenswertes Vermögen. Lang schon Jahr aufs andere konnte ihm der verschlagene Patron den fühlte er, daß sein Erfindungsgeist nachließ. Von einem Stuhl vor die Türe seßen. Was dann? Das Haus zur Bleiche stand auf gutem Grund; der Schatz, den ihm der Zeichner Oberholzer einverleibt hatte, wirkte zweifellos noch lange fort, selbst wenn der Schöpfer ihm den Rücken kehrte. An Hand des vielseitigen Werkes konnten junge Kräfte ihr Talent entfalten.

Dem Blick ins Freie am nächsten lag der evangelische Friedhof, der durch eine mannshohe Maner vom Bleichegarten getrennt war. Keine lustige Nachbarschaft! Aber Brigitte hatte diese Aussicht von jeher angezogen; der Blick da hinab war ihr recht lieb geworden. Sie hatte schon viele Särge kommen und verschwinden, groß und klein an offenen Gräbern weinen sehen. Sie schaute so gern dem Totengräber zu, den Grabsteinsetzern und gab acht darauf, wie da unten der des Lebens eine Totenstadt entstand, wo wieder Armut und Reichtum gegeneinander standen, doch diesmal neidlos, friedlich und schön. Und oftmals fiel ihr ein, zu fragen, ob sich an dieser Stätte auch für sie einst eine Gruft öffnen und wer dann übrigbleiben werde, den Hügel mit Liebeszeichen zu Es verhielt sich nun einmal nicht anders. Erst dem Ein­schmücken. Im Geist sah sie dann wohl eine stattliche Trauer- wanderer Mar Hirsch war es gelungen, ein gut Teil der auf gemeinde, wie diese beim Begräbnis der Oberstin Gonzen  - eigene Faust schaffenden Fabrikanten unter einen Hut und bach versammelt war, einen mit Strängen überreich geschmückten damit die ganze Industrie in die Höhe zu bringen. Wohl Sarg... und vor dem visionären Grab einen ehrwürdigen gab es landauf und-ab noch manche Widersacher, die sich dem Greis stehen, umgeben von aufrechten Söhnen und stolzeren fühnen Unternehmer aus Hochmut oder Rassenhaß entgegen Töchtern, einer innig geliebten Gattin und Mutter das letzte stellten und versuchten, sich auf herkömmliche Art über Wasser Lebewohl zurufend. Der Männerchor sang eine Kantate zu zu halten, indessen auf dem großen Ozean des Welthandels Ehren der Entschlafenen und der Nachruf des Pfarrers wider- die stolze Fregatte des Juden Hirsch   mit reicher Ladung an hallte noch lange in den Herzen der Treustädterinnen. ihnen vorbeisegelte. Diese Treustädter Handelsleute waren noch viel zu konservativ und verstanden es nicht, den Markt für ihre Erzeugnisse zu schüren. Das Anbahnen ausländi­scher Beziehungen überließen sie in der Regel den Käufern oder zugereisten Schrittmachern, denen sie es dafür von Herzen gönnten, wenn die Versuche mißlangen. Wo sich jedoch einer von diesen unverhofft aufschwang, betätigten die An­sassen bald einen wunderbaren Spirfinn, um hinter seine

zu alt. Wo winkte ihm überhaupt noch ein ersprießliches Zum Ueberläufer   fühlte sich der Fünfziger sowieso schon hinter Wirkungsfeld? Oft schon hatte er sich beim Anblick der Bleiche an die Stirn geschlagen: Warum war denn von unserer Gattung Leute keiner imstande, dieses Haus aufzu­richten? Mußte denn dazu durchaus ein Hebräer herüber­fommen?"

Warum sollte denn ihr, Brigitte Böhi, solch ein felig Ende nicht beschert sein? Hatte der Himmel nicht hundert mal schon dergleichen Lose ausgestrent, schöne Mädchen aus dem Staub der Armut gezogen und durch irdische Paradiese geleitet? Ja, solche Gedanken kamen ihr wohl auch an diesem Blaze. Immer wieder verlangte der ungelebte Frühling ihres Herzens nach seinem Recht. Da mochte sie nicht dran