Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 20.
20]
Donnerstag, den 29. Januar.
Das Menschlein Matthias.
Erzählung von Paul Jig.
Die abendlichen Spaziergänge am Seeufer oder nach Sankt Annaschloß am Berge, zu denen er sie ehedem drängte, galten ihm nicht mehr viel. Sie konnte ihn fast nur noch mit Leckerbissen beglücken und gefügig machen. Wie durfte das denn in Gottes Namen geschehen! Was mußte sie tun, um zu verhüten, daß ihr sein Herz gänzlich entrissen wurde. Ihr Kind, ihr einziges alleiniges Eigentum! Sie war schon oft in die Knie gesunken und hatte beten gelernt, ohne jedoch einen rechten Trost dabei zu finden.
1914
ihm hinausfahren dürfen? Es schüttelte ihn dermaßen, daß Brigitte unsägliche Mühe hatte, ihn aufzurichten, zu beschwich tigen. Als sie aber gar wieder zärtlich wurde, stieß er sie heftig zurück und drohte mit gebrochener Stimme, einfach von ihr wegzulaufen, dem Vater alles zu fingen.
Sie mußte den Kampf aufgeben. Eine volle Stunde brauchte sie dann, bis er ausgezogen war und ins Bett kam. Sie selbst legte sich in den Kleidern aufs Kanapee. Aber die Erkenntnis, daß sie ihr Kind nicht länger behalten fonnte, ohne es ganz zu verlieren, ließ sie diese Nacht nicht schlafen. Am Morgen war sie entschlossen, ihn wieder in der Obhut der Schwester zu geben. Vielleicht gelang es ihr bald, anderswofern von Treustadtlohnende Arbeit zu finden. Hier mochte auch sie selbst nicht mehr bleiben. Ob es, soweit die Erde reichte, noch eine zweite Mutter gab, an der sich ein Fehltritt so unbarmherzig rächte?
Matthias entzog sich mehr und mehr ihren Zärtlichkeiten, nach denen er auf dem Berg stets ein so inniges Verlangen trug. Viel zu aufgeregt, furchtsam warb sie jetzt um seine Zum Guten hatte sich über Nacht nur das Wetter geLiebe, sie füßte ihn minutenlang auf den Mund, bis ihm der wendet. Als Matthias, dessen Summer fein so großes Loch Atem ausging, sie drückte ihn verzweifelt an ihre Brust und in den Schlaf bohrte, die Augen aufschlug, schien die Sonne weinte dazu, so daß es ihm angst und bange wurde. Auch aufmunternd in die Stube. Daß er das Bett allein gedrückt sonst befremdete ihn ihr Gebaren. Sie saß oft so gedanken hatte, merkte er nicht einmal. Die Mutter brachte ihm still, verloren vor ihrer Hausarbeit, sperrte unwissentlich Mund wehmütig die Hosen an, pugte ihn sorglich heraus, kochte und Augen auf, seufzte oder sprach vor sich hin und begann Schokolade und stellte sogar ein Glas mit Himbeerlatwerge dann plötzlich wieder auf Tod und Leben zu nähen. Des auf den Tisch. Von dem großen Krach war nicht mehr die Nachts konnte sie erst recht nicht zur Ruhe kommen. Er hörte Rede. Aber Matthias traute dem Frieden schlecht. Er gab ihr Stöhnen im Halbschlummer oder wachte auf von den Be- mürrische Antworten und wartete eigentlich nur darauf, entwegungen ihres friedlosen Körpers. Darum sehnte er sich wischen zu können. Lieber wollte er kein Mittagessen als den nach einem eigenen Bett, das ihm doch nur der Vater geben Umzug versäumen. Im Traum war ihm der Vater als konnte. Der besaß unerschöpfliche Schätze. Sogar ein Haus Reitersmann erschienen, und er, Matthias, hatte hinter ihm fonnte er kaufen. Mit Wohlgefallen holte Matthias alle auffißen dürfen. Dann ging es im wilden Galopp über Land, Nasenlang ein Schmetterlingsnes sowie eine Botanifier- wobei er den Reiter fest umflammert hielt. Aber dieser trommel hervor, die ihm der Vater kürzlich geschenkt hatte.- lachte ihn aus, dann lachte sogar das Roß und zulegt lachten Reich, stark und lustig war dieser, die Mutter dagegen arm, fie alle drei und wälzten sich vor Lust im Grafe. schwach und traurig. Sie hatte wenig zu befehlen und selten nahm ein Großer den Hut vor ihr ab.
In dieser Nacht erging es Matthias schlimmer als je. Das Unheil fing schon beim Abendbrot an. Es gab zwar feinen Fleischkäse und Stierenaugen in spritziger Butter. Doch die Mutter seufzte wieder so viel, es sei ein Elend auf dieser Welt, und wünschte sich einen Dauerregen für den Festtag, damit die auf dem Gupf lieber droben blieben.
Diesen Traum verschwieg er der Mutter. Sie durfte überhaupt nicht mehr wissen, was er mit dem Vater zusam men machte. Oh, er gedachte noch recht oft mit diesem hinauszufahren, ohne daß sie je dahinter kam! Sie mußte ja ins Geschäft und konnte ihn nicht bewachen.
Es war ja nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Aber Brigitte jah ihn zuweilen von der Seite lauernd an. Das war ganz und gar nicht nach seinem Sinn gesprochen. bart an die Wand. Sie ließ sich wieder gehen, nahm ihn geder Schmerz über seine gefühllose Abtrünnigkeit drückte sic Gibt's denn keinen Umzug, wenn's regnet?" fragte er maltiam auf den Schoß und schluchzte herzzerbrechend:„ Oh, sehr besorgt, da er schon so viel davon gehört hatte und es bleib' bei mir, Matthiesle, gelt? Sich ich hab' ja nur Dich, kaum erwarten konnte, den Vater als Reiter anzustaunen.
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stimmte, erschien zum Glück die Bas gotte mit Konrad und Nach dem Kirchgang, der die beiden nicht fröhlicher Frida. Der Bettergötti und die Marie waren droben ge
Mich fümmert's nicht, ich will nichts davon hören und spürst Du nicht, wie lieb Du mir bist?" Wie sollte sie's auch sehen!" erwiderte sie vergrämt, ohne ein Gefühl für die kind- ruhig ertragen. Kaum vier Wochen war er bei ihr zu Hause, liche Schauluſt. Da mochte er auch nicht mehr weiter essen. und schon gehörte er ihr nicht mehr an. Sie hatte nur noch Die Pflicht, ihn zu nähren, zu kleiden, zu hüten. Er atmete schwer, seine Augäpfel begannen zu arbeiten. Und ich?" entrang es sich der beklommenen Brust. " Für Dich ist das auch nichts, Gott behiite! Es gibt ein viel zu gefährliches Gedränge!" beharrte sie böse wie nie zutvor, so daß sich Matthias vor Schmerz und Staunen gleich seitlich aufs Kanapee warf. Die unselige Mutter war nun aber selber von einer wahren Wut der Verneinung ergriffen. Sie riß gleichsam die Tür aus den Angeln, hob das Dach ab und ließ ihre Not ausfliegen. Es sei nur ein Glüid, daß jest die Schule wieder beginne und Matthias ordentlich zu tun bekomme, wenn er mit den Stadtbuben Schritt halten wolle. Das Geläufte zum See müsse ein Ende haben.
Es ist mir sowieso himmelangst dabei. Ich hab den Schaden davon. Du weißt ja bald nicht mehr, wo Du hingehörst. Wer gibt Dir zu essen, wer muß für Dich sorgen? Ich leide nicht, daß der Großhans Dich herumzieht. Der ist mir noch lang nicht nüchtern genug. Und wenn's ein Unglück gäbe, müßt' ich mir ewig Vorwürfe machen. Du hast es nun gehört. Der Unhold soll zuerst einmal beweisen, daß er sich selbst anständig führen kann, ehe er ein Kind in die Hand nimmt. So leicht wird's ihm diesmal nicht gemacht, bewahre! Ich hab mich nicht umsonst zehn Jahr um Dich geplagt!"
Es war ein richtiger Sturm in der Stube. Brigitte schoß wie irrfinnig hin und her, und Matthias standen die Haare zu Berge. Er hatte gemeint, die Mutter bestehe aus lauter Sanftmut und Nachgiebigkeit. Die Verwunderung wollte gar fein Ende nehmen. Warum schmähte sie den Vater, der doch so gut zu ihm war? Und nun sollte er gar nicht mehr mit
blieben.
Aber wenn die Wirtin zum Gupf gehofft hatte, hente in lauter Jubel und Freude zu schwimmen, sah sie sich arg betrogen Gleich bei der Begrüßung fiel ihr die Schwester weinend um den Hals. Was mochte das wieder bedeuten? Brigitte jah bedauerlich mitgenommen aus.
Matthias hatte zum Empfang der Gäste die grüne Büchse umgehängt, das Nek in die Hand genommen und genoß einen vollkommenen Triumph. Konrad konnte vor Vestirzung keinen Ton hervorbringen, als der Kleine den Schenker nannte und von dessen Eigenschaften, namentlich vom Fischfang erzählte. Der Große nahm den Stetscher vorerst einmal prüfend in die Hand, fuhr damit einigemal scharf durch die Luft, dann gab er ihn wieder zurück mit dem höhnischen Befund:„ Da unten gibt's ja doch keine rechten Sommervögel!" Ueberhaupt wollte er sich von Matthias' Aufschwung nicht so schnell überzeugen lassen und setzte darum allen Tatsachen einen tückischen Widerstand entgegen. Frida hingegen wäre am liebsten in die prächtige Büchse hineingekrochen. Sie klappte andächtig den Deckel auf und zu.
Zur Feier des Tages trug Frau Angehr ihre alte Landestracht, die noch aus ihren Brauttagen stammte: einen braunen, hundertfach gefältelten Rock, cine lilaseidene Schürze,