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Reuland an fich reißt, fo erobert die Dichtung das innere Duellenreich des Lebens. Sie hat die Aufgabe, Blut in Wort zu wandeln, und nur auf sich darf sie borchen , nicht auf Lob oder Tadel der Beit. Schwer ist der Kampf, den die Seele heute au bestehen hat: Diese Zeiten find gewaltig, bringen Herz und Hirn in Not." Ruhe wird sie gewinnen im Eintauchen in die heilende Natur. Die Schneenacht, in der der Tag der Leiden verschneit" liegt, ist das Symbol ihrer großen Stille. Aber dies Ent weichen in die Einsamkeit ist fein entmutigtes Weltflüchten; es ist ein Berlangen, die Schönheit der Welt, die da kommen soll und fich in heimlichem Werden bereitet, flarer zu fühlen: den stillen Festzug der Erfüllung menfchheitlicher Wünsche. der herannaht, unbörbar, unsichtbar der lärmenden Welt." Selige junge Schauenskraft ist in diesem lauteren Liede. Die Jugend, die klingende, zauberische, liegt schon in der Ferne; aber sie hat einen treuen Begleiter für alles weitere Dasein geschenkt; der schwingt dem Leben zur Seite und seine Flügel, in wieviel dunkle Wellen sie auch tauchten, schimmern doch von Licht über haucht. Im Wiesenblühen der Frühlingsnatur verliert der Mut alles graue Grämen und Müdesein; das Leben steigt zu Höhen auf: die Schönheit des Blumenhügels, den der Dichter erschaut, vollendet sich im Bilde einer hohen Frauengestalt, die feltene, geHeimnisvolle Blüten sammelt. Im Anschauen einer schlanken Base mit weißen Lilien wird er sehnsuchtsvoll eins mit der Unendlichkeit, in der alles herrliche Erfüllung ist. Er sieht auf den Rheinstrom nieder und des Stromes Linie und Bewegung läßt ihn den Gang feines eigenen Lebens empfinden wenn der Strom aufgeht im breiten Marktverkehr des Tieflandes, immer doch wahrt er der Duellen Sinn".
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Der Kern dieser Dichternatur ist tiefstes Zukunftsvertrauen, das betonen nun weitere Gedichte des Buches Mein Lebenslied": feine Gefahr braucht uns zu schrecken, immer ist irgendwo ein Licht, das zu neuem Hoffen aufruft. Ein Cherub hat ihm ein Schwert in die Wiege gelegt, das heißt: Ausharren im wilden Wirbelsturm der Gegenwart, und einen Schild: allmächtigter Liebesglaube, der ihn schirmt und im Sturze noch sichern wird. Denn erhalten und entwvideln will die Natur. In Parsifal- Stimmungen tönt das Buch aus, in ein Lied der selbstsicheren Freude, in einen Weihgefang auf das Reich der stillen Tat", in ein Sonett, das die„ feltene Kraft" preift, die sich in allem auf sich selbst verlassen kann und, der inneren Stimme vertrauend, sicher schreiten wird. Dies ethifierende Aufschweben führt so weit über die reale Kampfsphäre der Gegenwart empor, daß die Melodie die festen Umrisse einbüßt und vor dem Gehör verschwimmt. Es find nicht Dichtungen, die die Sprache der Maffe haben. Aber unmittelbar vor den Schlußgedichten ist jene Ihrifche Schöpfung eingefügt, die das Proletariat mit Recht auf sich felbft bezieht, das Gedicht von dem Riesen, der sich nicht ducen läßt, der sich schicksalstrogig Bahn bricht und mit gewaltigen Ruden aus dem verachteten Nichts wächst.
Es ist natürlich kein Zufall, daß dies Gedicht an dieser Gipfelstelle des Bekenntnisbuches steht. Der große Wille der Natur heißt: fämpfend aufsteigen und siegend vollenden. Und wer als einzelner innerlich wachsen und reifen will, der muß auch diese unbändige Lust haben an dem Leben, das sich aus Drud und Dunkelheiten mit zähem Trotze aufredt. Hendell bat fie. In einer selbstbiographischen Stizze schrieb er vor zehn Jahren: Meine Gesamttendens ist das poetische Bild der Welt in mir und um mich. Freiheitsgefühl im sozialen und politischen Sinne gehört sehr dazu." Dieser Ausspruch fann als Kennwort über den drei Jahrzehnten Hendellschen Dichtens stehen, bis heute herauf. Nach diesem Worte soll man ihn schätzen: den Mann und den Dichter.
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Ganz betäubt vor Entsetzen und Befümmernis starrte Crainquebille den Schußmann mit seinen armen, alten, sonnengeblendeten Augen an, und mit vor Angst gebrochener Stimme stammelte er: Ich hätte Berfluchter Polyp" gesagt? Jch? Mein Gott, mein Gott!"
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Die Verhaftung des Alten wurde von der gaffenden Menge mit Freuden aufgenommen. Das Volk war befriedigt; wie denn die große Menge immer Gefallen an gewalttätigen, unnoblen Schauspielen finden wird.
Nur ein alter Herr mit ernstem, traurigen Gesicht, in einem schwarzen Rode, einen Zylinder auf dem Kopfe, bahnte fich einen Weg durch die Menge, und indem er sich dem Schutzmann näherte, sagte er sehr sanft und bestimmt:
„ Sie irren sich, der Mann hat Sie nicht beleidigt." Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten," erwiderte der Beamte, jedoch ohne eine weitere Drohung hinzuzufügen, denn er hatte es mit einem gutgekleideten Menschen zu tun. Der alte Herr beharrte mit großer Ruhe und Hartnäckigkeit bei dem, was er gesagt hatte, und bestand darauf, seine Aussage persönlich bei dem Polizeikommissar zu machen.
Währenddessen jammerte Trainquebille
..Also das soll ich gesagt haben, Verfluchter Polyp", je je je!" Gerade als er diese Worte hervorstieß, kam die Schusterfrau auf ihn zu, um ihm die vierzehn Sous zu geben.
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Aber der Schuhmann hielt Crainquebille Beim Kragen, und als die Meisterin das sah, ließ fie das Geld wieder in ihre Tasche gleiten, in dem guten Glauben, daß man einem Menschen, der zur Polizeiwache abgeführt wird, nichts schuldig ist.
Als Trainquebille so seinen Wagen im Stich laffen mußte und sich seiner Freiheit beraubt fah, war es ihm, als sei die Sonne plößlich erloschen, und ein Abgrund schien sich vor ihm aufzutun. Ganz verzweifelt murmelte er:
Ist es möglich ist es möglich!"
Vor dem Kommissar erklärte der alte Herr, daß er durch die Berwickelung der Fuhrwerte aufgehalten und dadurch Zeuge der Szene geworden sei. Der Schußmann habe den Gemüsehändler falsch verstanden, der alte Mann hatte ihn weder beleidigt noch beschimpft. Dann gab er seinen Namen und Wohnung an: Doktor David Matthieu, Oberarzt am Krankenhaus von Ambroise Paré , Offizier der Ehrenlegion. Zu anderen Zeiten hätte ein solches Zeugnis den Kommissar genügend über die Sachlage aufgeflärt, aber dazumal waren die Gelehrten in Frankreich verdächtig. Crainquebilles Verhaftung wurde aufrecht erhalten. Er mußte die Nacht auf der Polizeiwache zubringen und wurde am anderen Morgen im grünen Wagen" ins Gefängnis befördert.
Das Gefängnis hatte in seinen Augen weder etwas Schmerzliches nocy Erniedrigendes, es erschien ihm als etwas Notwendiges. Bei seinem Eintritt in die Zelle fiel ihm besonders die große Sauberkeit der Mauern und Dielen auf. Er sagte sich:„ Höllisch fauber hier, man könnte schlankweg vom Boden effen." Als er allein war, wollte er seinen Schemel von der Wand abrücken, aber der war angeschmiedet. Graingebille äußerte ganz laut seine Verwunderung darüber: „ Sonderbar, sonderbar auf so was wär' ich nie gekommen." Dann setzte er sich nieder, drehte die Daumen übereinander und staunte vor sich hin. Er hatte Langeweile und dachte mit Sorge und Betrübnis an seinen Karren, den sie mit Beschlag belegt hatten, und der noch ganz mit Kohl und Rüben, Sellerie, Salat und anderen Gemüsen beladen gewesen war.
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Boll Unruhe fragte Crainquebille sich:
Wo können sie nur mit meinem Wagen geblieben sein!" Am dritten Tage besuchte ihn sein Advokat. Maître Lemerle var einer der jüngsten Gerichtsanwälte von Paris und Präsident einer Sektion der französischen, vaterländischen Liga.
Crainquebille versuchte seinen Fall zu erzählen, was ihm keineswegs leicht fiel, denn er fand nur mühsam seine Worte. Vielleicht hätte er es doch fertig gebracht mit ein wenig Silfe. Aver fein Anwalt schüttelte nur mißtrauisch den Kopf zu allem, was er fagte, und indem er in den Papieren blätterte, murmelic er:
Hm, hm, davon sehe ich ja gar nichts in den Akten." Dann strich er sich mit einer etwas müden Bewegung über den gepflegten blonden Schnurrbart und sagte:
Ich rate Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, ein offenes Geständnis abzulegen. Dies System, alles ableugnen zu wollen, ist sehr ungeschickt."
Von nun an hätte Trainquebille gern gestanden, wenn er nur gewußt hätte, was er eigentlich gestehen sollte.
Der Präsident widmete dem Verhör von Crainquebille ganze sechs Minuten.
Dies Verhör hätte entschieden mehr Licht in den Sachverhalt gebracht, wenn der Angeklagte auf die an ihn gestellten Fragen ge= antwortet hätte. Aber Crainquebille war zu unbeholfen im Reden, und außer= dem brachte er vor lauter Respekt und Angst kein Wort hervor. Er schwieg beharrlich, und so gab der Präsident selbst die Antworten, die dann allerdings sehr belastend ausfielen.
Er schloß mit den Worten:
Also Sie geben zu," Verfluchter Polyp" gesagt zu haben." Da drang aus Crainquebilles Kehle ein Ton wie verrostetes Eisen und klirren von Glasscherben:
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" Ich habe Berfluchter Polyp" gesagt, weil der Herr Schutz mann Verfluchter Polyp" gesagt hat da hab' ich es gesagt." Er wollte zu verstehen geben, daß er bei dieser plöglichen Anschuldigung in feiner ersten Verblüffung die merkwürdigen Worte wiederholt hatte, die man ihm nun fälschlich in den Mund legte. Er habe es gesagt, wie er gesagt haben würde: Jch, ich sollte so etwas wagen, ich? Wie können Sie so etwas glauben?" Aber der Präsident faßte es nicht so auf.
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Wollen Sie etwa behaupten," sagte er, der Beamte häite diesen Schmähruf zuerst gebraucht?"
Crainquebille verzichtete darauf, sich verständlich zu machen; es war zu schwierig.
Sie bestehen nicht auf Ihrer Behauptung, da haben Sie recht," schloß der Präsident.
Dann ließ er die Zeugen rufen.
Der Schußmann Nr. 64, mit Namen Bastien Matra, schwor, daß er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen wolle. Dann machte er folgende Aussage:
„ Am 20. Oktober hatte ich nachmittags Dienst in der Rue Montmartre und fah, wie ein Individuum, das mir ein herumziehender Gemüsehändler zu sein schien, sich ungebührlich lange vor dem Hause Nr. 328 aufhielt und dadurch eine Verwidelung der Fahrzeuge verursachte.
Ich gab ihm dreimal den Befehl, weiter zu fahren, aber er tot