Nr. 256.- 1914.
Unterhaltungsblatt ües Vorwärts
Mlvoch, 16. Dnmber.
Schnee im Valö. Wbaherischs Skizze. Von Heinrich Lnutensack. Der Äsen Ferdl entwirrt mit ungelenken Bauernfingern, die »un durchs Soldatenspielen nicht gerade gefüger geworden sind, fte dicken Schnüre und wasserdichten Umhüllungen eines Pakets guz seiner Heimat.— Obenauf liegt ein Schreiben. 's Weib schreibt ihm, dag es dem Brieflein ein Rankerl �selcht's i Geräuchertes) sowie ein Scherze!(der Ausdruck ist noch aus dem Mittelhochdeutschen und heitzt soviel als ein kleines ab» geschnittenes Stück)... ein Scherze! Kletzenbrot beigelegt hat.— ?un, denkt der Asen Ferdl, was ein richtiges altbayerisch-altbäueri- Iches Kletzenbrot ist, das werden die norddeutschen Brüder, mit »enen er hier nahe der belgischen Küste nun schon einen vollen Monat in den Schützengräben haust, sicher nicht kennen! Denn »arunter versteht man echt hinterwäldlerisches Winter- und Weih» ftachtsbrot aus schwärzestem Roggen, in welchen gedörrte Birnen lo man eben Kletzen nennt) eingebacken sind. An dem G'selchten haben sich seine preußischen Kameraden %n zwei-, dreimal schier die Zähne ausgebissen. Aber_ das 'uetzenbrot— und der Asen Ferdl lächelt verstohlen unter seinem Ntfutschengelben Bart— wird ihnen etwas völlig NeueS sein. Ob's ihnen aber auch schmecken wird? Und der Asen Ferdl, der aus jener gottverlassenen Gegend f-' Bayerischen Waldes stammt, die man die„Neue Welt" getaust vt, zieht sein Stilett aus der Hinteren Hosentasche und säbelt uh erst ein Stückcrl G'selcht's und dann ein Stückerl Kletzenbrot «runter... und es wird ihm so sehr eigen bei diesen Bissen �heimatlicher Kost... und er sieht befremdeter denn je zu diesem tlgischen Küstenhimmel auf, der seit Wochen die Farbe un- �leichter Leinewand angenommen hat...ach! sogar der daumen- 'Ui liegende Schnee ist hier grau in dieser brettlebenen Einöde . und dann wendet er sich neu dem Brieflein zu, das ihm'S «eib schrieb,'s brave Weib...
Und er liest und liest, wer alles aus seiner Pfarrei verwundet gefallen ist. Eine anderthalb Seiten lange Verlustliste: rein Jir aus der Gegend von Sonnen bis hinauf zum sagenumwobenen Mseffel. Und wie'S Wetter daheim ist im Wald:„bereits Mertiefer Schnee"... Und da steht nun. was er längst er- !artet und gar befürchtet hat, ausdrücklich zu lesen:„Mein lieber jjstdl, es ist eben alles in allem die Zeit, daß wir uns hier ein- stern wie alle Jahr... wer hätte das vorigen Winter noch ht?... und es wachelt(daS heißt: kräftig weheln) schon so böhmisch Kuschwarda her zu uns, daß es unS bald völlig ein- aeit über eine Nacht; und dann hat'S Briefschreiben, wie Du ßt, auf einige Zeit ein End'; und drum sende mir nur gleich > Erhalt dieses noch ein paar Zeilen, wie's Dir geht, penn ttn es wieder so wird wie vorletzten Winter, dann weiß ich «rhaupts nicht, wie ich's diesmal aushalten soll: so ohne jede "hricht von Dir..." ** * . Als ob's ihm'S Herz abdrücken wollte, so sitzt der Asen I im Unterstand und versucht weiterzulesen.— Ah, ah, der 'er drinnen im Bayerischen Wald ...! der haushohe Schnee daß wenn eins grad stirbt in so einem wochenlang um und und über und über verschneiten Haus: daß man dann mit Toten zusammen weiterwohnen muß— wer weiß wie lang?! l... Und der Asen Ferdl muß, ob er will oder nicht, an den- Aigen vorvorigen Winter denken, an den ibn'S Weib zu allem Aerfluß auch noch im Brieflein erinnert hat: Sie waren grad zehnten Monat verheiratet— und Wehen und Wehen und chen draußen von Schnee und Schnee; und aber drinnen im -neu Haus noch ganz andere„Wehen ", viel ärgere, viel bösere, h viel schlimmere— nämlich die„Wehen ", die sein armes üb aushalten mußte!— Er weiß es, als ob's gestern erst «esen wäre, wie er, eh die schwerste Stunde für seine Eheliebste me, voller Verzweiflung hinauf ist auf den Baven und unter >tem Beten zu allen Heiligen hinauswollte durchs Dach, angetan � Schneereifen, die ihn tragen sollten bis zum nächsten Dorf. — Es war ein vergebliches Mühen gewesen: Er war nicht einmal !. vierhundert Meter b?s zu seinem Nachbar hinübcrgekommen, sen Häus'l so wie sein eigenes nur mit dem Kamin(Schorn- Ist) ein wenig herausschaute aus den Bergen und Bergen von hn-e——— und alles Um-Hilfe-Schreicn in der entsetzlich stlosen Stille und unheimlichen Abgestorbenheit hatte nichts >»ützt.——— •» * Vom nächsten Unterstand her scherzen zwei, drei Stimmen �Kameraden�reugierig�Na��erd�������������
Ja— aber wie soll er wohl denen begreiflich machen, was ihn bewegt? Wie sollte er es wohl jenen verständlich machen können, daß soeben unterm Briefleien zwischen ihm und seinem Weib etwas zugefallen war— unbarmherziger noch, als wie daS eisernste Tor?!— Das ist der bitterböse Winter da unten im Bayerischen Wald , der Mauern von Schnee um die Häuser baut — noch undurchdringlicher, als wie in jenem frommen Gedicht, das man einstmals in der Werktagsschulc aufsagen gelernt hat. Der Asen Ferdl kann sich an die Verse natürlich nicht mehr erinnern. Er weiß nur(und hat das nie für ein besonderes Wunder gehalten), daß in diesem Gedicht ein grimmiger Feind durch Gottes winterliche Hilfe unmöglich zu einem gefährdeten Haus gelangen konnte, indem... Ah! jetzt fiel ihm sogar die eine Zeile wieder ein;„Eine Mauer um uns baue, singt das fromme Mütterlein..." Und wenn eS nun dem Schicksale gefiele, daß er beim nächsten Sturmangriff verwundet würde? Nur g'rad so schwer, daß man ihn noch transportieren könnte bis hinab nach Bayern . Dann könnte es doch sein, daß er sich sehr bald von dem Schaden erholte und vielleicht gar einen Genesungsurlaub bekäme und von Augs- bürg aus oder München oder von Landshut oder Passau auf einige Tage heimfahren dürste in den Bayerischen Wald ? Ja, aber— da käm er, mit seinem zerschossenen und kaum noch ge- heilten Bein, und wenn's hundertmal auf Schneereifen wäre, noch viel weniger weit, als jene vierhundert Meter damals zu seinem Nachbar hinüber! Und wenn er nächstens nun gar totgeschossen würde—??— Aber daran mag er nicht denken. Totschietzen läßt sich der Asen Ferdl schon nicht. Da gehören immerhin zwei dazu.— Indes... immerhin... wenn er auch nur verwundet würde, so ist und bleibt da der Wald, der Bayerische, zumal in Ferdls näherer Heimat, so voller Schnee und nochmal Schnee, daß keine Post und keine Zeitung bis zu seinem Haus und seinem Weib und seinem Kind gelangt. Basta.
In solch— ein wenig primitiv ausgemalten— Aengsten ergeht sich Ferdl Asens bäuerisch-schwerfälliger Sinn und mehr und mehr wird alles weiß vor seinen inneren Augen vor lauter Schnee im Wald— fern— drunten. Und der Asen Ferdl weiß gar nicht, daß er's tut— und aber er tut'S und tut's immer wieder(und sieht's ja auch kein Mensch): Er küßt bald das Brieflein und das rußgeschwärzte Stück Fleisch, die er beide in seiner Rechten hält, und bald das schwere bäuerische WeihnachtSbrot in seiner Linken. Und das Brieflein ist von Räucherrutz und Fett schon halb gelb und schwarz; und über daS süße Brot kugeln— wer schämt sich deff',— ein paar salzige Tränen..._ von billigen Suchern. Nie war das„billige Buch' so am Platze wie beute. Wo das Interesse fast ganz von dem Weltgeschehen absorbiert wird, stockt das literarische Leben und Autoren wie Verleger haben nur auS- nahmsweise den Mut, neue Werke in daS hochgehende Wogen dieser Tage, das sie verschlingen müßte, zu werfen. Zudem mangelt dem Publikum bei den schwankenden wirtschaftlichen Verhältnissen die Kauflust. Man braucht sein Geld zu anderen Dingen als zu Büchern. Aber andererseits scheint doch ein großes Bedürsnis nach guter Lektüre, die in dem aufgewühlten Gemüt einen Ausgleich, eine zeit- weilige Abspannung bewirkt, vorbanden zu sein. Die Jnanspruch- nähme der öffentlichen Bibliotheken hat keineswegs abgenommen. Da wird das billige Buch eine verdienstliche Sache; denn die Be- deulung ablenkender Lektüre, auch, soweit sie wertvoll ist. als Schutz- mittel gegen Verrohung und Unkultur, ist nicht zu untersckätzeu. Unter den schönen Bibliotheken, die durch ihre Erschwinglichkeit hier in Frage kommen, gebührt immer wieder der bekannten Insel- Bücherei der Vorrang. Geschmack und Sorgfalt der Wahl ver- leugnen sich keinen Augenblick in den bisher erschienenen löll Bändchen. Eine Anzahl neuer Nummern erschien bei Anbruch des Krieges. Da- malS hatte man nicht die Ruhe, sie sich anzusehen. Jetzt ober, in den sich hinziehenden Augenblicken nervenzerstörenden Wartens, greift man gerne zu ihnen, zumal ihr Gehalt immer der beste ist. Die Stunden, die man ihnen widmet, sind wirklich nicht vertrödelt. Irgendwie bringen sie stets inner» Gewinn, gleiwviel ob man einen Abend über Niebergalls Kleinbürgern aus dem Vormärz sin der Darm- städler Lokalposse„Der Daiterich") verlacht oder sich von der mit innerer Dramatik geladenen Geichichte.Der Inquisitor" von Dosto- jewSk, in das gegensatzvolle Problem von der Umsetzung der Lehre Christi in die Idee der weltbeherrschenden Kirche hineinziehen läßt; oder ob man mit Tolstoj , in„Luzern ", sich über den Dünkel der Kosten ereifert. Sonst sind zu verzeichnen: ein altes Altarbild von Andre Gide ..Der verlorene Sohn", die rührenden mittelalterlichen
Legenden: Die Wunder unserer lieben Frau'; BrorningS traumhaft süßes, seltsam schicksalgefülltes Gedicht„Pippc geht vorüber', Luthers geistliche Lieder, Serbiiche Volkslieder, Gedichte der Droste, Baude- laireS Prosagedichte, exotische Novellen von dem begabten Willi Seidel , eine amerikanische Novelle Saalficlds usw. Interessant sind Gedichte eines anonymen Kreises junger Menschen aus dem rheinisch- westfälischen Industriegebiet:„Eiserne Sonette". Welt der Arbeit, Weltwirklicht von heute, erdballumspannende Energien ringen nach Ausdruck. Unartistisch; mit rücksichtslosen Fäusten hingehauen, wirken die Verse der. königlichen Kaufleute" stark. Man wandelt nicht zwischen rasen- umsponnenen Marmorsäulen, sondern unter hochgespannten Eisen- trägem. Aber eine Welt, eine Seinssorm Heuliger wird sichtbar; wird originelle künstlerische Form. In die Mitte der Zeit fallen fünf Bändchen: Arndts Katechismus eines Kriegs- und Wehrmannes, Kleists lodernder Haßgesang„Die Hermannsschlacht " und die Gedichtsammlungen: Deutsche Choräle, Vaterlands- und Kriegs« lieber. Was Neues gebracht wird, ist nicht allerneucstcr Schlager. sondem kommt auS der inneren Quelle des nationalen Empfindens Statt Radaustimmung steht tiefe, handlungsbereite Ergriffenheit und würdiges Bewußtlein der Stunde. Derselbe Geist erfüllt auch den diesjährigen Jnsel-Almanach, der ganz ein KriegSgesicht zeigt. Wo heute manche Dichter und Verleger ganz die Haltung verlieren, freut man sich an diesen Veröffentlichungen umsomehr. � Nickt unwürdig dem heutigen Erleben der deutschen Seele zeigt sich auch die d e u t s ch e B i b l i o t h e k, auf die ich schon mehrsach hinwies. Hier tritt das Aktuelle der Zeit gar nicht in die Er- innerung; aber diese Bücher führen zu den siarlen Bildungslräften unseres Volkes und unserer Kultur; erhalten und im Bewußtsein des geistigen Ganzen, dem wir alle mit unserem Besten angehören, und deshalb find sie heute, wo der Geist so sehr gefährdet ist, bc- sonders willkommen.>sie haben eine kulturelle Sendung. Die letzten Bände brachten Goethes Briefe an Frau von Stein, Schiller ? philosophische Schritten, Luthers Tischreden. Schopenhauer , Kaut. Kügeichens Erinnerungen und die beiden, durch die historische Ent- Wicklung zum Bestandteil unserer Bildung und Kultur gewordenen: Rousseau und Spinoza ; von jenem die Jugendgeschichte, von diesem die Ethik. Ein UnterhaltungSbedürfniS, das sich nicht mit Engelhom zu- frieden gibt, darf man auf S. Fischers R o m a n b i b l i o l h e I verweisen. Auch hier sind aus diesen Kriegsmonatcn Neuerscheinungen zu verzeichnen. Ob man heute Schnitzlers psychologisches Rasfinement oder Thomas Manns verkniffenes Artistentum noch verträgt, möchte ich bezweifeln. Man bringt hier neue Novellen: „Das Wunderkind". Fontanes„Mathilde Möhring ", gewissermaßen die Skizze zu einem Werk, erscheint mir auch nicht als durchaus notwendig in der Sammlung; aber immerhin: es ist von Fontane ; zeigt eine Handschrift, die man auch hier in dem flüchtigeren Konzept noch liebt. Friedrich Huchs Kindergeschichte„Mao " in ihrer wunderbaren Zarlheit aber liest man mit Freude. Zwar hat sie einen leisen Tust des Alten, Modrigen; aber der Duft ist echt. An der Lagerlöf starker episcker Darstellung in„Herrn Arnes Schatz " und an P. B. Jensens farbenvollem Exotismus in dem Novellenbüchlein„Dolores" aber möchte ich keine Abstricke machen. Ganz neu ist ein billiges Unternehmen des Verlags Albert Langen in München . Es ist eine Novelle nbrbliothek. Nach den ersten sechs Bändchen läßt sich kein Urteil bilden. Um den derben bayerischen Humor Thomas oder Peter Schers Berliner Satire zu genießen, fehlt einem jetzt vielleicht die Stimmung. Sonst sind da Landstreickergeschichten von Knut Hamsun . Novellen von Selma Lagerlöf und Grazia Deledda und eine Auslese aus den phantasievollen, überaus malerisch gesehenen Geschichten auS dem asiatischen Osten von Dauthendey . Das ist eine Fülle des Lesbaren und Lesenswerten, der man noch die hier wiederholt angezeigten Unternehmungen der Firmen Laiigcwiesche-Brandt, Singer-Slraßburg und„Die Lese" anschließen mag. Tie Preise sind für kargere Geldbeutel bemessen. Gerade vor Weihnackten auch, wenn man nicht gerne mit leeren Händen zum Feste kommt, mag man sich heute dieser Unternehmungen erinnern. Ein gutes Buch ist immer cin guter Freund, besonders aber in den Zeiten, die wir heule erleben. k. II.
Kleines Zeuilleton. die Teigwarenfabrik der Großeinkaufs-Sefellschaft. Vor kurzem hat die Großeinkaufs-Gcsellschaft deutscher Konsum- vereine eine neue große Fabrikanlage in Gröba vollendet: ihre erste Teigwarensabrik. Die neue Fabrik ist ein monumental wirkender Bau von 84 Meter Front, der in vier Stockwerken ausgedehnte Arbeitsräume enthält. Wie bei allen Anlagen der Genoffenschaslen ist auch hier daraus Bedackt genommen, eine mustergültige Arbeits-
Lanösturm-Tagebuch. Ab und zu exerzieren wir auch, und mancher Morgen, Nn die ersten Hähne krähen, findet uns in Wald und Vnsch w Felddienst. Es klappt im großen und ganzen nicht übel, fleicht, weil die Vorgesetzten des Kasernenhoftons entwöhnt d und dem Landsturm höflich entgegenkommen. Unerhörtes ebt man, was jeden alten Gamaschenknopf wie ein Blitz- tf)l niederschmettern würde. Die Mahnung etwa:„Meine rren, setzen Sie doch die Gewehre ein wenig besser zu- üinen!" Meine Herren?!? Kerls! heißt es: Kerrrrrls!!! stn? Herren! Ist Miliz, Bürgerwehr, verfluchter Krempel. 'er es geht auch so, und auf dem Heimmarsch singen wir, �flen Rekruten gleich: Die Voglern im Wald«, Die sangen, sangen sänge»« so wunder-, wunderschön: In der Heimat, in der Heimat Da gibt's ein Wiedersehn. Wir singen es um so fröhlicher, als wir noch in der Hei- 't sind. *• • Ein Tag rollt wie der andere ab und man hat sich längst �it abgefunden. Kein Tier akklimatisiert sich so leicht und �ell wie der Mensch. Das drückt, was die Erhaltung der ' angeht, sein Bestes aus und zugleich sein Schlimmstes. Man war es wahrhaftig anders gewöhnt, aber setzt ist der �izont eng uinarenzt, di« Interessen erstrecken sich nicht über «vndzwanzig Stunden voraus, die Bedürfnisse werden die 'fs primitiven Menschen. Wände man stch ehedem Büchern. w?rn und Bronzen zu, so redet man setzt fachmännisch über Wirkung wollener Strümpfe und gestrickter Sweater, und 'Nute man früher die ganze Menschheit in seinen Jsnier- WreiS. so hängt man jetzt dem Gedanken nach, ob es mor- ' eine„gute" oder eine„schlechte" Wache gibt. Statt deS cherzettelS studiert man die Verlustlisten. Kalter Kaffee -t was dafür gilt, wird zum Wertgegenstand.. Und tief erschüttert ist man von der unbegreiflichen Güte Schicksals, wenn man vier Stunden einer Wachtnacht ohne l tollkühnen Ansturm der Flöhe hat durchschlafen können. Mancher LandsturmMVn tritt, überdrüssig deS zähen
Stumpfsinns, nachts vor den Wartesaal des Bahnhöfchens, der als Wachtstube dient und reckt sich gähnend: Wenn wir nur erst draußen wären! Der Drang nach dem Wunderbaren ist es, aufleuchtend in der Seele armer Teufel, die innner und ewig in der Fabrik gestanden haben und nun einmal im Leben hinaus wollen ins Fremde, ins Weite. Aber wenn die ersten Regentropfen auf den harten Boden klopfen und er auf sein Strohlager zurückkriecht, freut er sich doch wieder auf die wachtfreie Nacht daheim im Federbett— bei Muttern. Beides ist so menschlich!
Mancher meldet sich freiwillig zum Bataillon, weil die Fabrik ihn entlassen hat. in der er Jahrzehnte Arbeit ge- sunden. Der Brotschrank daheim ist leer— da greift man gern zum Kommißbrot. So erscheint der Genosse L.. ein kleiner, gebeugter, weißhaariger Klavierbauer aus dem Sächsischen, der Feuer und Flamme ist für die Partei. Da er für den Frontdienst selbst im Landsturm zu schwächlich ist. wird er als Ordonnanz auf die Kompagnieschreibstube gesteckt. Dort Pflegt er sich mit dem gutmütigen Feldwebel, der den Sachsen zu necken liebt, auf Tod und Teufel über Bebels Erbschaft zu streiten, fast Abend für Abend. ** * Akitte September. Ein Gerücht läuft durch die Korridore der Schule, die uns als Kaserne dient: Wir sollen fort, nach Belgien , zur Besatzung von Mecheln , wie es ganz bestinmrt heißt. Ein Aus- atmen geht durchs Bataillon, und die Drückeberger treten vor die Front, um stch als unabkömmlich zu melden. Unabkönm> lich— unter warmen Federbetten ist es freilich angenehmer als in fremden Quartieren.
Treffe den Genossen M. und trinke mit ihm einen Heimatschoppen. Er kommt von der Front, wo ihm ein Quer- schläger den Zeigefinger der rechten Hand weggerissen hat.
Viel Wesens wird von der Kathedrale von Reims ge- macht. Dieses Bauwerk in allen Ehren(mich entzückt eine Aster, brennend in den Glutfarbcn des Herbstes, mehr als Gothik, Klassik, Barock und Rokoko auS Stein zusammen!), aber daß M. in den Schützengräben bei St. Dis seinen'Zeige- singer eingebüßt hat, ist schmerzlicher als alle Granaten- spuren an der alten Krönungskirchc der fränkischen Könige. von den zahllosen Toten ganz zu schweigen, die sich jetzt an der Aisne türmen! «* Ende September. „Binnen drei Tagen hat das Bataillon marjchbereit zu stehen!" Trommelklang in der Ferne und ein Lied: Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus... die abgeklapper- ten Weisen gewinnen neues Leben. »* In die Marschvorbereitnngen kommt Züg hinein._ Au die Stelle der organisierten Langweile, die der vcrsiumpsendc Wachtdienst darstellte, tritt die unorganisierte Langeweile: Appells, noch einmal Appells und immer wieder Appells. Aber der Spott über die Drückeberger wird jetzt bösartig und ungerecht. Keinem gelang es, als unabkömmlich in der Heimat zu bleiben, und der läßt eine kranke Frau zurück, jener cin halbwegs gehendes Büdchen... und das Wort Frank- tireur gewinnt noch an Schrecken, wenn man es„Frangg- tiröhr" ausspricht. � -i- Durch ein flatterndes Spalier von Abjchiedsgrüßcn geht es abends sieben Uhr zum Güterbahnhof. Musik voran; Muß i denn, muß i denn zum Städtle'naus: und fremde Stimmen, lieb werdend, plötzlich und vertrant. Hunderte von Stimmen rufen immer aufs neue: Auf Wiedersehen! Wiederkam- men!... Dann nimmt uns. zu dreißig, vierzig, fünfzig Mann, die Finsternis eines Viehwagens auf. Langsam schau- kelt der Zug von dannen___ Der Qualm schlechter Zigarren mischt sich mit verschiedenem andern zu einem traulichen Dunst, und wackere Wehrmänner, die den Absckicdsschmerz wacker angefeuchtet, grölen, in der Rembrandtbcleuchtung einer trüben Oelsnnzel Phantastisch wirkend wie Schillers Räuber, das schöne Lied vom Wiedersehen in der Heimat so lange, bis die Monotonie des Singsangs einschläfert gleich Opium,.(Forts, sölgt.)