Nr. 66.- 1915.
Unterhaltungsblatt öes Vorwärts
vom Kriegshdöen im Zeitungsroman. War das eine Woültat für den alten ehrlichen deutschen Jtomanhelden: der Krieg! Tie Abenteuer, die er bisher erlebte, wurden doch auf die Dauer etwas einförmig. Trotzdem er blond-- lockig, blauäugig, groß, schlank, schnurrbärtig und überhaupt eben ein Held war, kam er sich zuweilen angesäuert vor. Nun aber: welche Möglichkeiten! Jeder Bericht des Großen Generalstabs bringt neue! Wie kann er sich jetzt in richtigen Heldentaten ber- linisch zu sprechen: geradezu aalen! Ueberall kann er dabei sein, im Westen, im Osten, auf der See, in der Luft, in den Kolonien, er kann sogar auf dem Marsch zum Suezkanal auf einem Kamel im --ramum reiten und in Tempelruinen mitten in der Wüste Stim- mungen erleben, die der Zeitung Backfischherzen als Abonnenten ach dieses Himmlischen gewinnen. Dabei die tröstliche Gewißheit, daß man kugelsicher ist; selbst im mörderischen Maschinengewehr- gelnatter holt man sich höchstens gelegentlich eine Verwundung, um an paffende: Stelle der Leserin einsam auf dem nächrlichen Schlacht- felde unter dem weiten Sternenhimmel vorgeführt zu werden oder um tiefsinnige Dank- und Liebesgefühls für die treusorgende Rote- Kreuz-Schwcster mit der kühlen, weichen Hand zu erwerben. Lebendig bleibt man auf alle Fälle, denn man mutz ja, nach 73 Fortsetzungen,.sie" ins„traute Heim" führen. Diese Arch von Romanhelden wäre mit einigem Humor auch für andere erträglich. Manche aber sind nicht ganz so harmlos. Greifen wir uns irgendein Musierstück aus den vielen, die jetzt durch die Tageszeitungen laufen, heraus, etwa Herrn üdbert von Hagen . bei dem ja schon der Name von preutziicher Edelgrötze tropft. Noch edelgroßer sind seine Mutter und seine Schwester Gerda. Den denkbarst kolossalsten Edelmut bringt aber seine Geliebte Liselotte auf, denn einer überedelt andauernd den anderen. Edbert also mutz in den Weltkrieg. Aber der Mutter und der Schwester sowie der Geliebten fehlt es an Glücksgütern. Da Edbert edelmütig ist, mutz er dafür sorgen, daß sie auch ohne ihn leben können."Also entschließt er sich, die ungeliebte Tochter des reichen Kommerzien- rats Kollmann zu heiraten, die, launisch und eigensinnig, wie Zeitungsroman-Kommerzienratstöchter bekanntlich mal sind, sich in ihn verliebt hat. Aber er bietet sich ihr natürlich nicht freiwillig an. Dazu ist er doch zu edel. Bielmehr: der Vater Kommerzienrat tritt ihm„bleich und aufgeregt" entgegen: Seine Tochter habe .Krämpfe, zwei Aerzte können nichts dagegen ausrichten, daß sie fortwährend nach Edbert klagt. Der setzt dem Kommerzienrat „sehr zurückhaltend auseinander, daß er in keiner Weise durch sein Benehmen Veranlassung gegeben habe, Hoffnungen in Fräulein Ena zu wecken, die sie berechtigten, jetzt' so unglücklich zu sein." Aber der Kommerzienrat hat doch nur ein Kind, und das stirbt, wenn Edbert sie nicht heiratet. Die Edelgrötze bleibt unbefleckt: als Lebensretter naht sich Edbert von Hagen der reichen Braut. Dafür ist es nicht zuviel, daß er vom Schwiegervater das nötige Geld für Liselotte und für Mutter und Schwester erhält. Der Lebensretter und Nothelfer„klappt die Sacken zusammen."„Herr Kommerzienrat, ich werbe hiermit um die Hand Ihrer Tochter. Ich Weiß nicht, ob ich ihr Liebe geben kann, ich will es aber ehrlidi versuchen, ihr ein treuer Gatte zu sein." Ter Kommerzienrat„um- armt ihn gerührt" und führt ihn zu Ena. Edbert erzählt die Szene seiner Mama, wie Offiziere derlei bekanntlich zu erzählen Pflegen, nämlich wie folgt:„Da brach ein jubelnder Schrei von Enas Lippen, fest schlangen sich ihre Arme um meinen Hals, und ihr Mund preßte sich auf den meinen, während eine heiße Tränenflut ihr Antlitz überströmte. Ich strich ihr liebkosend über das Haar und küßte ihre weiße Stirn. Da wurde sie ruhiger, und der Blick ihrer dunklen Augen sank zitternd zu Boden. Die beiden Alten, die in Tränen schwammen, ließen uns eine Viertelstunde allein." Gerda von Hagen allerdings findet diese edelmütige Affäre nicht ganz geheuer:„Du hast Dich verkauft. Und wenn auch edle Motive Dich veranlatzten, den Handel da einzugehen, so ist doch nach meinen Begriffen diese Geldheirat sehr wenig ehrenvoll für Dich." Aber die Mutter entscheidet:„Edbert hat recht gehandelt. Ihn führte das Mitleid mit Ena, das Mitleid mit Liselotte und uns zum heiligen Gral der Erlösung." Und im Hinblick auf die spannende Fortsetzung des Romans fügt sie hinzu: „Ich schaue weit in die Zukunfi, mein Sohn. Aus diesem Kelch Deines Opfermutes werden noch Rosen sprießen." Liselotte ihrer- seits„preßt zwar die geballte Faust fest gegen ihre Brust," aber trotz des„Würgens in der Kehle"„zürnt sie Ena nicht," sondern verspricht ihrem Geliebten, Ena zu„helfen und zu stützen in
schweren Tagen." Beruhigt kann sich Edberts„hohe Gestalt" dem Weltkrieg zuwenden. Der Roman„Deutsche Frauen", dem wir das entnehmen, ist nicht etwa in irgendeinen!. Käseblättchen gedruckt, sondern im— „Berliner Lokalanzeiger". Die Verfasserin, Frau Anny Wothe , gehört zu jener E-ortc von Schriftstellerinnen, die auf Prospekten als„eine der beliebtesten deutschen Erzählerinnen" vorgestellt zu werden pflegen. Ihre Romane ergießen sich, durch die ZeikungS- romanvermittelungen, weithin in die deutsche Presse. Derart ist also die Kost, die zahlreiche Zeitungen gegenwärtig ihren Lesern vorsetzen, oder vielmehr ihren Leserinnen. Denn Männer sehen längst keine Zeitungsromane mehr an. Ist es zu verwundern, wenn so viele Frauen, denen die Ereignisse unserer Zeit in dieser Aufmachung und mit solcher Verwirrung aller sitt- lichen Begriffe vorgeführt werden, selbst jetzt noch die Gänse bleiben, die sie vor dem 1. August waren? Wir aber, sind wir gegen diese Art Gänsezucht wehrlos? Wenn man die Zeitungsredakteure unter Hinweis auf den Ernst der Zeit auffordert, das Gänsefutter hinauszuwerfen, so würden sie antworten: Bitte, wenden Sie sich an den Herrn Zeitungsverleger. Der aber würde sich verteidigen:„Ich erleide durch den Krieg reichlich Verluste. Ich kann die Zeitung nicht halten, wenn ich nicht auf die Instinkte der weiblichen Leserschaft spekuliere." Wenn man geschäftliche Rücksichten überhaupt gelten läßt, fällt letztlich die Ursache des Nebels auf die Leser zurück. Also immer wieder: erzieht die Leser und die Leserinnen. Verbreitung guten Lesestoffs durch den Vertrieb billiger Hefte, soweit sie sich nur vertreiben lassen, durch Volksbüchereien usw. Eine Arbeit, die begonnen ist, aber noch viel energischer betrieben werden muß. Vorläufig sind nur die Sozialdemokraten so weit, daß sie auch aus der„Presse der kleinen Leute" diese ZeitungSroinane weggefegt haben. Chr-Wieneckenn„Kunstwart".
pariser Cinörücke.
(Schluß.) Das Straßenpublikum ist anders zusammengesetzt als in Friedenszeiten. Es fehlt einmal die grelle Note, die sonst die Halb» welt eingesetzt hat. Die galanten Dämchen sind zwar nicht samt und sonders verschwunden. Aber sie geben sich anders als früher. Sie sind einfacher gekleidet; viele gehen in Schwarz, wohl weil sie finden, das sei ain zeitaemäßesten. Auch sonst meidet man auf- fällige Gewandungen. Helle und gar schreiende Farben sind ver- pönt. Man hat hier das richtige Gefühl, daß sie herzlich schlecht zu den zahlreichen Trauergewändern passen würden. Es ist über- raschend, wie viele Frauen Trauergewänder tragen. Doch muß man in Betracht ziehen, daß es in Frankreich Sitte ist, auch für entferntere Verwandte die äußeren Zeichen der Trauer anzulegen. Und zum Traueraufzug gehört bei allen Damen auch der schwarze Schleier, den anderwärts die Witiven tragen. Etwas Farbe bringen einzig die Uniformen in das-straßenbild. Man sieht Offiziere und Soldaten aller Waffengattungen; die meisten sind leicht verwundet und befinden sich aus Erholungsurlaub. Hin und wieder lenkt ein Engländer oder ein Schwarzer die Aufmerksamkeit auf sich. Neben diesen Aeußerlichkeiten fällt sofort auf, daß das Straßenleben in- folge des Fehlens der Fremden intimer geworden ist. Die Ein- beimischen fühlen sich mehr unter sich und bemühen sich sogar, im Straßengewoge nach Bekannten zu forschen. Bielleicht hängt es auch damit zusammen, daß man sich auf der Straße ernst und gesetzt gibt und jede laute Heiterkeit peinlich vermeidet. Das Ge- fühl, daß man sich auf der Straße verlieren, daß man im Gewühl untergehen und sich verbergen kann, ist nicht mehr vorhanden; das beeinflußt das Gebaren. Die Geschäfte auf den Boulevards geben sich jetzt keine besondere Mühe, die Kunden anzuziehen. Die Aus- lagen in den Schaufenstern sind oft recht bescheiden; man hat den Eindruck, sie seien seit Monaten nicht verändert worden. Der Besuch der Kaffeehäuser hat nackgelassen, seitdem der Ausschank des so beliebten Absinth verboten ist. Der Biertrinker vermißt das Münchener oder das Pilsener Bier und kann sich nicht mit dem französischen Gebräu abfinden. Außerdem ist es jetzt Mode gc- worden, sich recht mäßig zu geben. Die Gastwirte beklagen es tief, und die Mäßigkeitsapostel reden schon von einer dauernden Besse- rung. Das Wirtschaftsgewerbe ist sicher unter denen, die die Folgen des Krieges am meisten zu spüren kriegen, ist doch gerade in Paris die Jremdenkolome und die Jungmannschaft immer am ausgäbe-
freudigsten gewesen. Die alten Herren, die beim Abendschoppen ihre Mani II e spielen oder die Weltlage besprechen, machen den Äobl nicht fett. Und abends 8 Ubr wird in allen Kaffee- und Bierhäusern unerbittlich Schluß gemacht. Was das in Betrieben bedeutet, die zwischen V Uhr abends und 3 Uhr morgens ihre Haupteinnahmen hatten, kann man sich denken. In den volkreichen Vierteln sind die Einnahmen der Wirte auf ein Viertel zurückgegangen. Auf den Boulevards dürste der Ausfall um ein Vielfaches größer fein. Wie tief die Luxusindustrie daniederliegen muß, zeigt ein Gang durch die Rue de la Pair. Die meisten Läden sind geöfftret. Aber in der Straße fehlt der Betried. Sonst standen ztoistben fünf und sechs Uhr die prächtigen Alitoinobüe in langen Reihen vor den vornehmen Modehäusern und auf dem freibleibenden Fahrdamm war das Getriebe angsterregend. Jetzt hat die breite Straße einen provinzmäßigen Anstrich. Fahrdamm und Bürgersteig sind ztl breit. Die schönen' Modell-, die sonst prunkend auf und nieder stolzierten, sind verschwunden, und in den Ateliers sind die meisten Plätze leer. Auch der Wagenkorso auf den Champs-Elysöes ist mächtig zusammengeschrumpft. Man scheint das Nachmittagsstelldichein im Bois de Boulogne nicht mehr einzuhalten. Die Schutz- männer haben nicht mehr nötig, von Zeit zu Zeit die Wagenreihe anzuhalten, um den Fußgängern zu erlauben, ungefährdet von einer Seite ans die andere zu gelangen. Man überschreitet die Straße, wo und wie man will, und hat nur aufzupassen, daß die Militärkraftwagen, die hier unheiniliche Geschwindigkeiten entfalten können, cineni nicht zu hart ausrücken. Das rege Leben auf den Boulevards ist nur auf Kosten der andern Verkehrsadern möglich. Man ist froh, daß man wenigstens dort die Fiktion des Paris der normalen Zeiten aufrechterhalten kann, und wie infolge still- schweigenden Uebereinkommen? trägt jedermann dazu bei, daß dort die Täuschung uröglichst vollständig ist. Wer eine Abneigung gegen die Untergrundbahn hat, muß jetzt einer, eigenen Wagen mieten, wenn er in Paris vorwärts kommen willl Die Trambahnen verkehren wohl in ziemlich kurzen Zeit- abständen, aber sie sind hauptsächlich für den Vorortverkehr berechnet. Auf vielen Wagen werden die Fahrscheine von Frauen verkauft, die dunkel gekleidet sind und eine Polizeimütze tragen. Tie zahllosen Autobusse, die die Stadt in allen Richtungen durckn querten, sind verschwunden. Ein Ersatz ist dafür nicht geschafft- Wer ein Feind des übertriebenen Straßenlärms und des Pekro! gestankS ist, wird das Verschwinden dieser Ungetüme kaum be- dauern. Noch nie sind die Pariser Straßen so wohnlich gewesen wie eben jetzt. Die Häuser gittern nicht mehr bis in die höchsten Stockwerke hinauf; auch nervöse Leute können in aller Seelenruhe arbeiten. Dafür nmtz man sieb allerdings für jeden eiligen Gang in die Untergrundbahn bemühen, deren muffige Tunnels nickt gerade ein angenehmer Aufenthalt sind. Auch hier ist das männliche Personal auf das allernotwendigste beschränkt. Die Züge weichen von Männern geführt; an den wichtigen Haltestellen sind männliche AufsichtSbeamte da: die Strecken werden von Männern in Ordnung gebalien. Aber die Fahrkartenkontrolle geschieht fast durchweg durch Frauen. Besorgte sonst in jedem Wagen ein Angestellter den Türendienst, so fährt jetzt nur in der ersten Klasse ein halbwüchsiger Bursche mit. Tie Türen der übrigen� Wagen schließen sich automatisch, was bei großem Gedränge keine rnv- gefahrliche Sache ist. Es sind infolgedessen schon zahlreiche Unfälle vorgekommen. Aber im großen und ganzen wickelt sich der Dienst in den Untergrundbahnen geordnet ab. Das Publikum hat sich daran gewöhnt, selbst zum Rechten zu sehen. Infolge des Mangels an anderen Fahrgelegenheiten ist diese Bahn fast den ganzen Tag überfüllt. So gemütlich das Pariser Leben am Tage ist, so ungemütlick wird es am Abend. Die Straßenbeleuchtung ist überall auf �die Hälfte beschränkt. Den Ladeninhabern ist verboten, die großen Bogenlampen spielen zu lassen. Die Lichtreklamen sind abgestellt. Von 8 Uhr abends an sollen alle Fenster verhängt sein. Die Licht- stadt verzichtet auf das Licht. Bkerkivürdig, welchen Einfluß das auf uns Geivohnheitsmenschen hat. Man bildet sick um 8 Uhr abends ein, man fei jetzt müde, habe Schlaf und müsse zur Ruhe gehen. Wer möchte auch in einer Halbdunkeln Stadt herum bummeln? Bekannte erzählten mir, daß sie seit Wecken»ach dem Nachtessen nicht mehr ausgegangen sind. Es gibt Wohl einige Theater und Konzerte. Aber niemand hat viel Lust, jetzt ins Theater zu gehen. Und wer gehen will, der geht noch lieber am N>rchinittag als am Abend, wo er sich jedesmal dum Wogen mieten muß, um wieder nach Hause zu kommen. Auch die Kinotheater
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Aeberfluß.
Von Martin Andersen Nexö . „Nu— im!" erwiderte der Kandidat gedehnt. „Wieviel, wenn man in diesen Wänden eine so materielle Frage stellen darf?" „Zweitausend Kronen." „Tod und Teufel, ist das wahr?" Das(Zesicklt des Pfarrers schob sich vor Erstaunen in die Höhe.„Und von Ihnen!" Der Kandidat ging an seinen Schreibtisch und holte eine Quittung, die er dem Pastor reichte. „Q, ich zweifle ja nicht," sagte dieser, durchforschte aber trotzdem die Quittung.„Das ist ja ein rechtes Aktivum für die Kirche, selbst wenn man kein Geld darauf erheben kann, und Gottes Haus muß auch einen gewissen Eindruck von Wohlstand macheu. Und doch, inan könnte versucht sein zu sagen: die Armen zuerst. Es klingt profan in eines Pastors Munde, aber Sie, der Sie nicht in allen Punkten ein Mann der Kirche sind, werden es verstehen! Und die Armut, mein Lieber, der große Empörer... Heut bin ich von Pontius zu Pilatus gelausen, ohne einen kleinen Vorschuß austreiben zu können, womit sich das Samariterwerk beginnen ließe. Wunderlich, wunderlich! Zweitausend Kronen— hm, hm, hm! Und von einem Wohlwollenden, einem Beobachter!" „Wieviel ist notwendig?" fragte der Kandidat, durch die letzte Bemerkung des Pastors etwas verlegen gemacht. „O, etwa fünfhundert.Kronen auf die gezeichneten Bei- träge als Sicherheit— erstklassige Sicherheit— hä!" Rast ging ins Nebenzimmer und schrieb eine Anweisung auf die Sparkasse aus. „Sie sind ein beneidenswerter Mensch mit diesem lounderbaren Willen, stets zum Guten bereit. Das macht es einem auch so schwer, zu ihnen zu gehen, weil Sie sicherlich mißbraucht werden. Ich will Ihnen offen sagen: noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, Sie zu den Unfern zu zahlen. Aber Sie sind zu reich ausgerüstet, materiell und geistig, das Christentum ist ja eine Religion für die Armen und Bedürftigen, ja— und nur die Anspruchslosesten von den Begünstigten kommen zu uns. Nun. ich predige nicht Bekehrung, das liegt mir nicht, ich bedauere nur das Faktum aus aufrichtigem Herzen. Nicht wahr, gnädige Frau" �— er legte den Arm um ihre Schulter—,„Sie und ich, wir beklagen tief, daß wir nicht teilhaben an dem Besten in dem Manne dort, aber vor allem beklagen wir doch ihn, weil ihm dauernd alles verloren geht. Und wir wollen einander versprechen, ihn vön Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß das herrlichste Geschenk doppelten Wert crbält, wenn das Herz mit dabei ist, und daß niemand mehr gibt als derjenige, der
sich selbst gibst" Halb scherzend reichte er ihr die Hand und besiegelte den Bund mit der anderen. „Vielleicht komme ich eines Tages ganz von selbst," sagte der Kandidat ernst. „Sie sollen willkommen sein, mein Lieber! Und möchten Sie kommen als einer, der einmal uns nötig hat; das würde uns um so fester verbinden. Hn der Not erkennt man seine Freunde!-- Apropos, Freunde, es soll Ihrem Freund da draußen, dem Herrn Bauder. sehr mäßig gehen. Ich habe heute mit dem Arzt gesprochen; er meinte, er hätte nicht mehr lange zu leben." „Ich habe schändlicherweise gar nicht nach ihm gesehen," erwiderte der Kandidat. „Dann können Sie sich die Mühe sicher sparen, denn es wird niemand mehr zu ihm gelassen. Ich habe neulich auf dem Heimweg vom Kirchhof bei ihm vorgesprochen, aber er war ganz aufgebracht über meinen unschuldigen Ornat, und ich bin schleunigst wieder gegangen, um nicht schuld an seinem Tode zu sein. Hä! Er war übrigens witzig. Als ich fragte, ob ich nichts für ihn tun könne, antwortete er: Beten Sic, Pastor, daß ich regelmäßig Oeffnung bekomme für die Zeit, die mir noch bleibst Ich antwortete ihm, daß man hohe Buße zahlen müsse, wenn man dem Apothekerprivileg zu nahe trete. Gut pariert, nicht wahr? Man muß ja mit den Vögeln singen, unter denen man ist. Na, leben Sie wohl, Herr- Wohltäter. Leben Sie Wohl, gnädige Frau!" „Wollen Sie nicht bleiben?" fragte Frau Rast.„Wir erwarten heut abend Gäste, Sörensens aus dem Abstinenz- lerheim." „Ah, wahrhaftig, vortreffliche Leute! Es wird übrigens von verschiedenen Seiten darüber geklagt, daß er der Sache nicht mehr so eifrig diene. Aber bei der Geschichte mit der einfältigen Dienstinagd hat er sogar ungewöhnlich brav ge- handelt. Ja, Sie wissen wohl, daß sie in gesegneten Um- ständen ist?— Hä! So ein armer Idiot. Aber kriegen wir das Vieh zu fassen, das sich ihre Beschränktheit zunutze ge- macht hat, dem Kerl soll seine Strafe nicht geschenkt werden!" „Mein Mann gerät ganz außer sich, wenn er daran denkst Er nimmt es sich immer so zu Herzen, wenn etwas Häßliches gescbieht. Aber er meinst den Schuldigen könne das Gesetz nicht treffen." „Seien Sie ruhig, mein Lieber," sagte der Pastor und legte die Hand auf die Schulter des Kandidaten,„er kann getroffen werden. Wüßten wir bloß, wer es ist. Ich habe gerade vorhin mit dem Schulzen über die Sache gesprochen, und der sagte, es gebe allerdings keinen Paragraphen für den vorliegenden Fall, aber wenn eine Strafe auf unzüchtigen Verkehr mit betrunkenen Leuten ausgesetzt sei. wieviel mehr dann in diesem zehnmal so anstößigen Verhältnis. Leider kommt ihre Unzurechnungsfähigkeit dem Schurken ja zur
Hilfe.— Aber ich will Sie nicht länger mit diesem Thema quälen, das wahrhastig sebr, sebr unappetitlich ist. Adieu!" Er sang das Wort volltönend hinaus, ihnen den Rücken zu kehrend, und ging seiner Wege, ohne sich umzudrehen. Der Kandidat beeilte sich, ihn hinauszubegleiten.„Adieu!" sang der Pastor unten auf der Treppe noch einmal, ohne jedoch einen Blick hinaufzuwerfen.„Hä! Hä, hä!" hörte man, als er die Haustür öffnete. Der Kandidat war beim Abendbrot düster und trist; alles hing an ihm herab, alle Linien in ihm wiesen abwärts. „Lieber Louis," sagte seine Frau und erhob sich mit Mühe, um über sein Haar zu streichen.„Sei nicht so traurig. Du kannst Dir doch keinen Kummer über all das Häßliche in der Welt machen." „Ich mache mir auch keinen Kummer über das Häßliche, sondern über das Tragische. Der betreffende Verbrecher kann sehr wohl ein vortrefflicher Mensch sein, der Tag für Tag die härteste Strafe erleiden inuß für das, was er in der tiefen Erniedrigung eines Augenblicks begangen bat. Selbst die Juristen sind ja in unseren Tagen der Ansicht, daß man versuchen soll, die Seeleuzustände zu verstehen, die eine Hand- lung erzeugen; liegt aber die Handlung vor, so vergessen die Menschen alles schöne Gerede von Verständnis nnd rufen nach der Obrigkeit und dem Strafgesetz. So seid ihr alle— Du auch; und das tut mir leid." Er zitterte, so angegriffen war er. „Aber Louis, ich habe ja gar nicht begriffen, daß man es ans die Weise betrachten könnte. Für mich war es bloß eine häßliche Schweinerei." „Natürlich ist es das— in seinem Ergebnis. Aber, nicht wahr. Mädchen, wir alle begehen ja Handlungen, die, wenn die Behörde daniit zu tun bekäme, zu Verbrechen gc- stempelt werden müßten, während sie unserem eigenen Be- wußtsein nur als verhängnisvolle Unglücksfälle erscheinen. Das Unglück kann in seinem Ergebnis sehr wobl verbreche- risch erscheinen, aber beim Verbrechen ist der A Uschlag das Entscheidende, ohne Rücksicht darauf, ob es glückt oder nick». Und bedenke, der wahre Mensch ist doch ein Doppelwesen, das mit seiner ganzen Haltung emporstrebt, aber die Füße im schmutz behält. Gerade die Besten fallen manchmal ihrer ganzen Länge nach in den Schmutz— vor Verzweiflung über das Unvereinbare der beiden Gegensätze. Alle Großen des Alten Testaments legen Zeugnis ab für diese tiefmens-Ä- liche Auffassung— David, alle Propheten. Was lesen wir von ihnen! Und doch waren sie die Netter ihres Landes. Heutzutage würde man sie ins Zuchthaus gebracht habe»! Ich verlange nicht, daß Tu den historischen Ueberblick haben sollst, aber es wundert mich— und tut mir ein wenig weh—, daß Dein Herz Dich nicht ans die richtige Seite führt." (Föns, folgt.)