«Ir. 151.- 1915.
Unterhaltungsblatt ües vorwärts
Dienstag, 6. Juli.
hus. Ein halbe» Jahrtausend nach seinem Feuertod(6. Juli). Ungezählt sind die Menschen, die durch Gewalt ihr Leben der- loren. Mit höchstem Ruhm ist die Tapferkeit im Kriege, der Tod in der Schlacht geehrt. Der kollektive und legitime Mut im Dienste einer Gemeinschaft, aus Geheiß einer Obrigkeit wird ge- feiert. Dennoch all die Millionen, die so auf dem der- fchlungenen � Wege der menschlichen EntWickelung fielen, sind rasch vergeffen. Es� bleibt� nichts übrig als dürre Jahres- zahlen über namenlosen Massengräbern. Blut uird Tränen trock- neu schnell. Und der Ausschwung der Gefühle, der in Sieg und Untergang berauscht, hinterläßt, nachdem er sein Werk verrichtet, keine Spuren. _ So rasch verweht der Ruf ruhmvollen Sterbens. Anders aber erhält sich die Erinnerung an ehrlosen Tod, an das Martyrium des einzelnen, � der � aus eigenem individuellen Entschluß wider Macht und Gesetz sich opferte, beschimpft, verleumdet, Verslucht— hin einer Ueberzeugung willen. Die tiefen politischen sozialen Ursachen, aus denen solche Aufrührer der Idee erstanden, schwinden aus dem allgemeinen Bewußtfein und werden zum Gegenstand geschichtlicher Forschung. Gemeingut der Menschheit aber wird das Gedächtnis an den Bekenner, der fiel, weil er die einmal erkannt« Wahrheit nicht verraten wollte. Dieser Ruhm steigt durch die Jahrtausende, diese Helden werden niemals vergessen. ES lebt in der Menschheit, zuzeiten verdunkelt, aber niemals ganz erloschen, dennoch der Glauben, daß das Größte und Fruchtvarste aller menschlichen Leistung, die einzige Gewähr für den Aufstieg der Kultur, die uneingeschränkte Freiheit des Gedankens und unbeug. same persönliche Tapferkeit des Bekennens ist. Dieser geistige und sittliche Wahrheitsdienst steht über allem Leben; denn er ist die Voraussetzung eines Lebens, das wert ist, gelebt zu werden. Als «unklare Ehrfurcht vor dem Gewaltigsten lebt dieser Heldenkult triebhaft in jedem gesunden Menschen. Kaum zu ermessen aber wäre es, auf welcher Höhe heute die Menschheit stände, wenn der gleiche Todesmut, der als gebotene gesetzliche Massenerscheinung auf jedem Blatt der Geschichte verzeichnet wird, als individueller Entschluß, im Dienste einer Ueberzeugung, wider alle herrschende Gewalt, von allen gewagt würde; wenn das Sterben für die selbst- gewählte Idee, für die eigene Sache jedem als heilige Pflicht er- schiene. Dann erst könnten wir die Märtyrer einer dunklen Ver. gangenheit, � die erhabenen einzelnen vergessen, deren wir heute mehr denn je bedürfen, um die Seele der Menschheit nicht zu ver- lieren. So gedenken wir heute, in bedeutsamer Bewegung, des armen tschechischen Bauernsohnes Johann Hus , der am 6. Juli 1415 zu Kostnitz(Konstanz ) während desselben Konzils verbrannt wurde, das drei Gegenpäpste absetzte, einen vierten Papst erwählte, eine neue Heilige Brigitta— schuf und die Hohenzollern feierlich mit der Mar! Brandenburg belehnte. * Klerikale Geschichtsschreiber der Gegenwart, wie Janssen, führen die ganze sozial« Revolution des 16. Jahrhunderts auf die Lehre des Johann Hus zurück. Daran ist richtig, daß die geistige Beweisführung der Reformation, mit der die sozialen Kämpfe in- tellektuell ausgefochten wurden, von Hus übernommen wurde, wie Hus selbst sich an die Lehren des Engländers Wiclif anlehnte. Daß die revolutionäre Bewegung der Zeit in der Maske dogmatischer Ketzereien erschien, war natürlich nur äußerer Schein. Um Dogmen hatte man sich niemals die Köpfe gespalten, wenn hinter ihnen rächt die Lebensfragen kirchlich-weltlicher Macht, weltpolitisch- nationale Konflikte und tiefste soziale Gegensätze verborgen gc- Wesen wären. Es ist das Zeitalter der Kirchenspaltung, der Gegenpäpste. Das Papsttum wird ualwnal zerklüftet: Frankreich . England. Italien , Deutschland ringen um seine Dienste. Das damalige Papsttum selbst ist der unersättliche Steuereinnehmer der christ- lichen Welt. Er beutet den mittellosen Bürger und den zinsbe- lasteten Bauern aus. Er nimmt sein Geld und spendet ihm dafür den Ablaß seiner Sünden. Die Kirche ist eine mächtige. Wirtschaft- liche Organisation, unter deren Ausbeutung die Massen leiden und die die erstarkenden Nationalstaaten als Hemmung empfinden. Die Gegnerschaft gegen das Papsttum erstarkte zuerst in England, das den hundertjährigen Krieg mit Frankreich führte und den mit dem Feinde verbündeten, in Avignon sitzenden Papst bekämpfen uiutzte. Dieser Opposition lieh Wiclif, unter der Duldung und Förderung der Herrschenden Englands, seine ketzerischen Lehren. Er berief sich auf die Heilige Schrift, erkannte nur ihre Gebote an und hob, in schneidender Schärfe, den Gegensatz christlicher Armut
mit dem Reichtum und der Pracht des Papstes und der Kirche hervor. Damit griff er den Besitz und das Steuerrecht der Kirch> an. zur großen Genugtuung der weltlichen Gewalthaber, die da mit Anwartschaft auf die kirchlichen Güter erhielten. Wiclif ent» wurzelte auch geistig die Autorität der Kirche durch die Aufstellung des Satzes, dem Hus dann die Prägung gab,„daß ein von Ewig- keit her Verdammter oder ein in Todsünden Lebender keine Rechts- gewali über Christen haben solle". Das war die fürchterliche Ketzerei, die Hus vor allem den Scheiterhaufen schichtete. Es war auch in der Tat die Anfechtung aller Kirchenmacht. Denn indem er über alle Hierarchie das christliche Sittengesetz stellte, in seiner Reinheit und Nrsprünglichkeit, hatte kein Papst und kein Bischof, übrigens auch kein König und Herzog mehr Sicherheit und Bestand. Er stand unablässig vor dem Gericht urchristlicher Sittenlehre und mußte jedem Volksprediger weichen, der ihm die Verletzung der christlichen Gebote nachwies. So wurde die öffentliche Meinung, der schlichte Sinn ernsthafter Christenmenschen, die Frömmigkeit der geistig und weltlich Armen höchste Autorität und Richter über die herrschenden Autoritäten— eine höchst demokratische An- schauung. Wiclifs Lehren drangen nach Böhmen und bildeten sich dort nach den eigentümlichen wirtschaftlichen, sozialen und nationalen Verhältnissen um. Böhmen war im 14. Jahrhundert das Wirt- schaftlich entwickeltste Land des Deutschen Reichs geworden. Die Silbergruben brachten großen Reichtum, belebten Gewerbe und Wissenschaft, ließen aber auch die sozialen Gegensätze um so schärfer aufeinanderprallen, als sie national gesondert waren. Die EntWickelung des Landes geschah durch deutsche Einwanderer, die bald den hohen Klerus, die Universität— Prag wurde als erste deutsche Universität nach dem Vorbild von Paris gegründet—, den adligen Grundbesitz, das städtische Patriziat beherrschte, wäh- rend die tschechische Urbevölkerung aus den kleinen Leuten der Städte und den im tiefsten Elend schmachtenden ausgebeuteten Bauern bestand. Damit ergab sich, daß die Deutschen rechtgläubig, päpstlich gesinnt waren, während die Tschechen im Papsttum und Kirche den Unterdrücker haßten. Die Krone schwankte und suchte zu vermitteln. Ein Teil des ärmeren Adels, den der Kampf gegen den ungeheuren Besitz lockte, stand zur Opposition. Der Wort- führer des ländlichen und städtischen Proletariats aber wurde Hus. Johann Hus war am 6. Juli 1373 zu Hussiuecz in Böhmen geboren, als Sohn geringer Bauern. Seine große Begabung hob ihn empor. Er hungerte sich als mittelloser Präger Student durch. Mit 27 Jahren ist er Professor an der Universität, zu- gleich einflußreicher Prediger und Beichtvater der Königin. Er ging von Anfang an von den Satzungen der Kirche zu den Lehren des Urchristentums zurück, wie er sie in der Bibel fand. Als er dann mit den Schriften Wiclifs bekannt wurde, bekamen die längst in ihm lebenden Gedanken Richtung und Form. Er schrieb und predigte nun mit wachsender Leidenschaft und großem Erfolg gegen Papsttum und Kirche, gegen widerchristlichen?lberglauben, willkürliche Gebräuche, vor allem gegen den Ablaß, der nichts wie eine drückende Besteuerung der Besitzlosen war. Zum ersten tief- gehenden Konflikt kam es über die Machtverhältnisse an der Uni- versität Prag . Sie war in vier Nationen gegliedert, von denen die Tschechen nur eine Stimme hatten. Hus gelang es, beim König durchzusetzen, daß die böhmische Nation die Mebrheit der Stimmen erhielt. Darauf verließen die deutschen Professoren und Studenten Prag und gründeten 1409 die Universität Leipzig. Hus wurde nun Rektor der Universität. Als er Wicliftche Schriften übersetzte, würde er aus Denunziation vor den Erzbischof von Prag Zbynek von Hasenberg geladen, der sich aber mit seiner Er- klärung begnügte, wenn er aus Uebereilung etwas gegen den christlichen Glauben gelehrt haben sollte, so sei er bereit, es zu verbessern. Die Katastrophe aber führte die Kühnheit herbei, mit der Hus 1411 gegen den Krieg und die Kriegsmittel agitierte. Papst Johann XXIll., dem man den Beinamen des„einge- fleischten Teufel" gegeben hat, rief die Christenvölker zum Kreuzzug gegen den König von Neapel auf, der einen der Gegenpäpste unter- stützte. Als die päpstlichen Gesandten nach Prag kamen und das Volk zur Entrichtung der Kriegssteuern auftiefen— in der Form des Ablasses— predigte Hus ungestüm dawider, und das erregte Volk entriß den Boten des Papstes die Bulle und ver- brannte sie, nachdem man sie in höhnendem Umzug durch die Stadt geschleift hatte. Inzwischen war ein neuer Erzbischof nach Prag gekommen, wie es heißt, ein Analphabet, der die Prager Begeben- heiten dem Papst denunzierte. Hus wurde in Bann getan, seine ketzerischen Lehren verflucht. Der König konnte ihn nicht mehr schützen. Er verließ Prag , fand Asyl aus den Burgen adliger Gönner und predigte furchtlos weiter im Volke. Im Jahre 1414 berief Kaiser Sigismund jenes Konzil nach Konstanz , das drei Jahre lang die kleine Stadt am Bodenfee zum
Heerlager aller Mächtigen in der Christenheit machte. An hundert- tausend Menschen sollten sich dort versammelt haben: Päpste, Fürsten , Kardinäle, Bischöfe, Ritter, Gelehrte, Abenteurer, Hand- werker(unter anderen allein 72 Goldschmiede— und Händler aus allen christlichen Ländern, nicht zu vergessen die lieblichen Zierden, von denen der Chronist berichtet:„Ueber 799 öffentliche Dirnen in den Frauenhäusern und solche, die eigene Häuser gemietet hatten, dazu noch die heimlichen, deren Zahl man gar nicht angeben kann." Das Konzil wollte nicht nur den Streit der Päpste beendigen, sondern auch die Ketzerei ausrotten. Hus wurde nach Konstanz geladen. Kaiser«Sigismund gab ihm einen Geleitsbries. Die Ge- lehrten streiten sich, ob dieses freie Geleit nur einen einfachen Reisepaß darstellte oder ihm Sicherheit für Freiheit und Leben verbürgen sollte. Jedenfalls war das Konzil der Meinung, daß einem Ketzer überhaupt keine Verpflichtungen zu halten seien. Am 3. November 1414 kam Hus in Konstanz an. Er wurde von einem Ausschuß verhört, dann für ein halbes Jahr in einem morastigen Kerker begraben. Am 8. Juni 1415 wurde er herausgeholt, damit er sich vor der Gesamtheit des Konzils verantworte. Er ver- teidigte sich mit aller Glut seiner Ueberzeugung, in dem Wahn, daß es die Wahrheit gelte, während doch die Interessen von An- beginn das Urteil entschieden hatte. Hus lehnte jeden Widerruf ab. Hus wurde als wahrer und oftenkundiger Ketzer und Verführer des Volkes befunden. Seine geistlichen Richter rissen ihm das Priestergewand herunter, dann übergaben sie ihn der weltlichen Gerechtigkeit. Auf Ketzerei stand der Feuertod. Das Urteil wurde sofort voll- streckt. Hus trug, so erzählt der Konstanzer Bürger Ulrich von Richental in seiner Chronik des Konzils(die unlängst in einer leicht lesbaren Bearbeitung in Vogtländers„Quellenbüchern" er- schienen ist), eine weiße Bischofsmütze auf seinem Kopfe, auf der waren zwei Teufel gemalt, und zwischen beiden stand Heresiarcha, das heißt soviel als Erzbischof aller Ketzer. Die von Konstanz führten ihn mit mehr als 1999 gewappneten Männern hinaus. Infolge des großen Gedränges mußte man einen Umweg machen, und es wurden immer mehr der gewappneten Leute, gegen 3999 ohne die unbewaffneten und die Frauen. Auf der Brücke am Geltinger Tor mußte man die Menschen zurückhalten, nur trupp- weise wurden sie über die Brücke gelassen, weil man fürchtete, daß die Brücke zusammenbräche. Während er hinausgeführt wurde, betete er beständig. Als er auf das äußere Feld kam und das Feuer, Holz und Stroh bemerkte, fiel er dreimal auf seine Knie und sprach laut: Jesu Christe, du Sohn des lebendigen Gottes, der du für uns gelitten hast, erbarme dich meiner. Danach fragte man ihn, ob er beichten wolle. Er sprach: Gern, obgleich es hier sehr enge ist. Es war ein Priester da, Ulrich Schorand. Dieser ging zu Hus hin und sprach zu ihm: Lieber Herr und Meister, wollt ihr dem Unglauben und der Ketzerei, um derentwillen ihr leiden müßt, entsagen, so will ich gern eure Beichte hören. Wollt ihr das aber nicht tun, so wißt ihr selbst wohl, daß in den geist- lichen Vorschriften steht, daß man keinem Ketzer die Beichte hören soll. Da erwiderte Hus : Es ist nicht nötig, ich bin kein Todsünder. Als er darauf anfangen wollte, deutsch zu predigen, wollte das Herzog Ludwig nicht leiden und befahl, ihn zu verbrennen. Da ergriff ihn der Henker und band ihn in seinem Gewand an einen Pfahl. Er stellte ihn auf einen Schemel, legte Holz und Stroh um ihn herum, schüttete etwas Pech hinein und brannte es an. Da begann er gewaltig zu schreien und war bald verbrannt. Dann führte man alles, was man von der Asche fand, in den Rhein ." Die Legende fügt hinzu, daß ein Bäuerlein und ein altes Weib herbeigehastet seien, um eine Tracht Holz zu dem Scheiterhaufen beizusteuern. Da habe Hus wehmütig gerufen: O sancte sim- plicitas! Heilige Einfalt! Es war aber vergebens, die Asche in den Rhein zu streuen, damit nichts von dem Ketzer übrigbliebe. Soll man ihn doch auch deshalb an seinem Geburtstag verbrannt haben, damit sym- bolisch auch seine Geburt ausgetilgt werde. Von dem Scheiter- Haufen waren dennoch Funken über die Lande geflogen, die ent- zündeten jenen Volkskrieg der Hussiten, einen Bauernaufstand, der von Böhmen aus mit schrecklicher Wildheit verheerend über Deutschland brauste. Neunzig Kilometer von Paris . Armeeoberkommando...., 25. Juni. Neulich hielt ich in einem zerschossenen Aisnedorf an einem Wegweiser, auf dem stand: Paris 191 Kilometer. Von diesem Wegweiser waren unsere Grabenlinien noch zwei Kilometer weit vorgeschoben. Das war Chausseentfernung. Gestern stand ich in
Die Crweckung öer Maria Carmen. 42] Von Ludwig Brinkmann. Zudem verbrachte ich ja fast den ganzen Tag draußen im Walde, in den Bergen. Es ist hier oben so klar, so kühl, so mild, wie in einem erfrischenden Junimorgen in der Heimat. Da drunten in der Tiefe, woher ich gekommen, treibt die Sonne, die über unserem Scheitel ihre Flammengarben brennt, als glühender Dämon und mörderischer Würgeengel, der alles Leben bereits im Keime verdorrt oder doch, wenn es zunächst stärker sein sollte als seine Macht, in seinem Innersten versengt und so es trotzdem überwindet, ihr furcht- bar Wesen. Aber hier oben im Hochgebirge ist die Sonne die holde Lichtbringerin und Trösterin, die beste Kameradin, die uns auf allen unseren Wanderungen begleitet, die sich neckisch im Laubgezweige des Waldes verbirgt oder gar, wenn sie schmollt, sich hinter eine Wand von weißen oder rosigen Wolken verkriecht, um doch bald wieder hervorzukommen, Freundin zu sein, die mir das Lager aus dichtem Moose wärmt, mich mit ihren Strahlenkissen zudeckt und, wenn ich einschlafe, mich mit ihren warmen Händen streichelt, daß ich zu träumen anfange.-- Im ständigen Umgange mit ihr, im Zwiegespräche mit den murmelnden Bächen der Berge, beim Geflüster der Blätter, wenn ein Luftzug durch den Wald hinwogt, in all dem Glück und dem seligen Gefühle der Gesundheit erwachte so vieles wieder, von dem ich glaubte, es sei mir längst ver- loren, schlafen gegangen, vielleicht sogar gestorben, das Ge- fühl und die Witterung von Dingen, die über uns hinaus- liegen, jenseits von allen uns durch ihre allzu große Nähe bedrückenden Angelegenheiten, dem Wasserwerke, der Silber- mine.— Mit unendlichem. Genüsse pflegte ich eines meiner Lieblingsplätzchen aufzusuchen, eine schattige Moosbank unter dem Gezweige einiger mächtigen Korkeichen, wo sich ein weiter Ausblick auf die Gebirgszüge nach Süden öffnet, auf die Höhen und Täler, die sich allmählich in Terrassen hinabsenken. bis sich der Ausblick auf die Unendlichkeit in feinem Dunste verschleiert. Mit wieviel reinstem Entzücken nahm ich dort meine Bücher vor, schwere, ganz schwere Dinge, allerlei Philosophisches und Mathenmtisches über den Gegenstand meines besten Interesses, die Urformen der Materie und der Kräfte und alle Theorien, uns diese klar und zugänglich zu inachen. Was ist Materie, was ist Energie, was ist Kraft? Und da wir daraus keine Antwort wissen, wie vermöchten wir
etwas über die komplizierteren Dinge auszusagen: was ist die Erde, darauf wir stehen, was sind wir selbst, was unser Leben, was die Triebe, die uns beseelen, was ist es mit unse rem Wollen, unserem Schaffen? Was ist nur die Elektrizität, mit der wir schon so lange arbeiten, die uns ein so guter, starker, nützlicher Diener geworden ist, die all unsere Arbeiten verrichtet und uns das Silber aus dem Berge holen soll und von der wir doch so gar nichts wissen? Je einfacher, alltäglicher ein Ding ist, desto schwerer, unmöglicher wird es für uns, es begreifen zu wollen.— Das waren meine Muße- und Erholungsstunden. Die Arbeit hat darunter nicht gelitten. Und die Erfahrungen, die ich beim Holzfällen gesammelt, die damals gemachten Aw knüpfungen kamen mir sehr gut zu statten. Ich war kaum im Dorfe erschienen, hatte meinem Wirte, der früher auch mein Agent war, auseinandergesetzt, worum es sich handelte, als sich mir. sogleich Leute in genügender, ja überreicher Anzahl zur Verfügung stellten; fast das ganze Dorf meldete sich noch bei mir am gleichen Abend. Nun, gar so viele konnte ich nicht gebrauchen, höchstens zwanzig Mann, und da ich sie fast alle kannte, war es weiter kein Kunststück, die geeignetsten und besten auszuwählen, so daß mir von dieser Seite aus keine Schwierigkeiten entstanden. Zunächst handelte es sich ja um Erd- und Zimmer- arbeiten. Die etwa fünfzehnhundert Meter lange Rohrleitung muß teilweise tief in die Erde eingebettet, muß an anderen Stellen über Schluchten und zerrissene Felsbildungen geführt und durch Dämme und Balkenkonstruktionen gestützt werden. Dazu ist am oberen Ende ein Stauwerk und ein kurzer Kanal, der das gesamte Wasser des Baches sammelt und in das Rohr einführt, zu bauen, am unteren Ende der Mühlteich zu schaffen, um das abfließende Wasser aufzunehmen. Die größten Arbeiten waren natürlich die Fundanientwerke für die Turbinen und für das Gebäude. Aber alles ging glatt von der Hand; die Pläne hatte ich ja bereits zu Hause vor- bereitet, und wenn natürlich gar manches an Ort und Stelle noch zu entscheiden blieb, so war das nicht weiter schwierig, da meine Tolteken so ausgezeichnete Handwerker sind. Mein wackerer Baumeister Tozo, der bereits im vorigen Jahre die allerdings viel simpleren Arbeiten des Holzfällens geleitet hatte, wird in Bälde das Maschinenhaus gut aufge- führt haben; dessen bin ich durchaus sicher. Mit einem Blicks verstand er die Zeichnungen. Er hat bis jetzt noch nichts gebaut als das unscheinbare Kirchlein von Juquila; dennoch erkennt er sofort, worum es sich handelt, wenn man es ihm nur einmal zeigt. Mich wundert wahrlich nicht, daß hier so wunderbar gebaut worden ist, von den uralten Tempeln von
Mitla angefangen bis zur Kathedrale von Stadt Mexiko ; niemals hatten Bauherren ein besseres Material zur Ver- fügung, bessere Zimmerleute, Steinmetzen und Maurer. Diese Kunst steckt dem Volke der Tolteken im Blut. So will die Arbeit jetzt glatter von statten gehen als wie vor einem Jahre; das Holzfällen hat meinen Leuten nicht so gefallen wie nun das Bauen. Allerdings kenne ich die rotbraunen Gesellen jetzt auch besser wie damals und weiß sie zu nehmen. Es ist ja für einen Europäer niemals ganz leicht, eine andere Rasse richtig zu behandeln; wir messen eben alle nach unserem eigenen Maße und vergessen zu oft, daß es in der Welt noch Dimensionen gibt, von denen wir nichts wissen und über- Haupt nichts wissen können. Nur das Problem der beiden großen Transporte bleibt mir noch zu lösen. Da ist zunächst die Verfrachtung der unge- Heuren Röhrenmassen vom Bahnhofe zu Taviche in unser entlegenes Hochgebirgstal, diese dreißig Kilometer lauge Reise durch die Wüste über zwei Flüsse und durch ungangbare Felsen. Ich fürchte fast, es wird mich viel nützliche Zeit, Ver- druß und Anstrengung kosten das zu bewältigen; nun, ich muß dieses unangenehme Geschäft sofort angreifen, sobald ich zum Minenhause zurückgekehrt bin. Viel Zeit habe ich nicht mehr zu verlieren; denn die Maschinen sind schon auf dem Wege. Dann ist aber vor allen Dingen der Transport der zwölshundert Masten für die Oberleitung auszuführen. Mein geplünderter Wald wird nichts dazu hergeben; die paar Stämmchen, die nach dem zweimaligen Raube mir noch ge- blieben, sind eine Notreserve für die Bedürfnisse der Maria Carmen. So habe ich die gewaltige Sendung im Westen von Britisch-Columbia bestellt, die zunächst nach Saliua Cruz verschifft werden soll. Dann aber will ich ein kühnes Projekt ausführen, nämlich die ganze Ladung zu einem Flosse zu- sammengebunden wieder auf dem Meere nach Westen bis zur Mündung des Rio Verde schwimmen lassen, in dessen sumpfigem Flußbette die Stämme durch Boote hinaufgezogen werden müssen. Wenn ich mir die Einzelheiten eines solchen Zuges ausmale, wird mir wohl nianchmal etwas unheimlich zu Sinn; mir scheint der Aufmarsch des großen Cortez von Veracruz nach Mexiko eine kleine Aufgabe im Vergleiche mit der meinen gewesen zu sein, und dennoch erfüllt sie mit ihrem Ruhme alle Zeiten I Allerdings ging damit ein altes Reich zugrunde, wurde ein neues ausgebaut, während hier nur eine technisch-wirtschaftliche Aufgabe gelöst wird, die ihren Sänger nicht findet. So stehen mir für die nächsten Monate herku- lische Arbeiten bevor.— (Forts, folgt.)