», 190-1915 Unterhaltungsblatt öes Vorwärts was öie Schwestern erzählen. „Du, Schwester ?" „Du, Schwester, bist Du ledig?' „Ja, weshalb?" „Ja. Schwester, i Hab a Lieb zu Dir.* Dies redete ein vierzigjähriger Bayer, der schwerverwundet lag, ein paar Stunden vor seinem Tode. „Ich möchte nicht durstig sterben"— sagte ein Zweiter.„Tele- phonieren Sie meiner Frau"— ein Dritter. Man kann den Krieg von vielen Seiten sehen. Die Schwester sieht ihn von einer ganz besonderen Seite. Sie sieht Trauerbilder, vor denen die grausamste Phantasie erstarren würde. Aber wieviel Mut und Heroismus sieht sie auch. Wie mancher, der draußen im Sturm gemeinsamen Möllens tollkühn war, wird zaghaft und klein, wo er im nüchternen Operationszimmer des Arztes ganz auf sich allein gestellt ist. Die Schwester sieht dem Kämpfer am tiefsten ins Herz. Bor ihr gibt er sich ganz offen, ganz ohne falschen Stolz. Der Arzt steht über den Kranken. Die Schwester wandert leise zwischen ihnen— und wenn der Kranke im halben Schlummer oder Fieber» wahn zu reden beginnt, hört sie Dinge, die in die letzten Tiefen der Seele und des Krieges hinabreichen. „Jawohl," sagte die Oberschwester eines großen Kriegslazarettes, bei der ich neulich nachmittag während der Vesperpause im Hospital» garten saß—„ich habe in diesem Kriegsjahr viele Soldaten erzählen hören— Lustiges und Trauriges— aber immer habe ich ge- sunden, daß diejenigen am wenigsten erzählen, die am meisten erlebt haben." „Wie ist das Allgemeingefühl der Verwundeten gleich nach der Schlacht— wollen sie wieder zurück oder haben sie genug vom Krieg?*—„Das ist ganz verschieden", erzählt die Oberschwester. „Wir haben Leute, die innerlich so erschüttert sind, daß sie nur mit Grauen an ihre schweren Erlebnisse denken können. Andere hingegen reden nur vom baldigen Wiederauszug. Wir haben Leute gehabt, die selbst im Traum und trotz der schwersten Verwundungen geradezu auflebten, wenn sie von ihrer künftigen Wiederbeteiligung sprachen. Aber im ganzen werden die andern wohl in der Mehrheil sein." Die Krankenschwestern sammeln manche gute psychologische Beobachtung. So ist das Verhalten des Europäers gegenüber dem Schmerze ganz anders als das der kindlich schreienden verwundeten Inder und Neger. Aber auch zwischen Franzosen, Deutschen und Polen gibt es Unterschiede, ja zwischen den Deutschen selber. Der Bayer und der Allemanne z. B. haben ein ganz verschiedenes Ver- mögen, physischen Schmerz lautlos zu ertragen. Auch was die Bildungsstufe der Verwundeten angeht, gibt es Unterschiede. Die bildungslose Roheit, beim Neger wie beim Europäer, schützt nicht vor unmännlicher Feigheit gegenüber eigenen körperlichen Schmerzen. Aber ebensowenig kann man sagen, daß hohe Bildung dem phy» fischen Schmerze gegenüber unempfindlich macht. Nur durch straffste und geistige Willensanspannung kommt der gebildete Europäer über physisches Leid hinweg. Am besten wird der Schmerz ertragen von jener großen Masse unseres Volkes, die, in harter körperlicher Arbeit aufgewachsen, schon im Frieden erfahren hat, was physische Leiden und Strapazen sind. „Was helfts?"— sagte ein junger Bursche, dem eben ein Arm amputiert war. zur Schwester, als er in den Saal gerollt war. „Do liegt ja die Scher', schneid' ihn gleich ab,"— meinte ein anderer, als er in das Operationszimmer kam, um einen Mittel- finger zu verlieren. Wie oft verzichten die Leute auf eine Narkose, weil diese ihnen feig vorkommt. Und was für merkwürdige Dinge reden sie manchmal, wenn sie doch chloroformiert sind. Da schimpft der eine mit dem französischen Korporal, der ihm sein Bajonett in den Oberschenkel gejagl hat— der andere mit seinem deutschen Kameraden, der ihm einen Riemen gestohlen hat— der dritte, ein Bayer, beginnt in der Narkose den schönsten und reinsten Jodler zu singen. Ueber die Heilwirkung deS Humors weiß niemand besser als die Krankenschwester Kescheid. In einem Saale liegt mitten zwischen Norddeutschen ein lustiger Württemberger. Allein durch seinen Dialekt hält er die gute Stimmung des Saales auch in den schwersten Stunden aufrecht. In einem andern humpelt ein Kölner von Bett zu Bett und verbreitet, wohin er kommt, mit seinem Galgenhumor derb-lustige Laune. Dieser Humor ist nicht immer salonfähig. Er ist auch ganz ander? als jener Halb- und Biertelhumor, mit dem sich in der Heimat unsere Kriegshumorfabrikanten über Schwächen unserer Gegner lustig machen. Es ist ein grimmiger Humor, der vor nichts Halt macht. Aber da er aus Leid stammt, kann er auch Leid lindern. Was den Schwestern ihren schweren Dienst hier draußen immer wieder leicht macht, das ist die rührende Dankbarkeit, für die ihre Pfleglinge, vom Oberst bis zum Kanonier, immer neuen Ausdruck suchen. Das Verhältnis fast aller Ver- wundeter zu ihrer Schwester wird umspielt von einem seltsamen Schimmer. Das vertrauliche Du, das sie ihr bieten, ist nicht plump, sondern ist das bittende, dankende Du, mit dem der Fromme sich dem Heiligen nähert. Diese Männer, die dem Tod von der Schwelle gerissen wurden, sind weich und aufgelöst und dankbar für jede Bagatelle. Alles, was die Schwester tut und sagt, empfinden sie als Güte, und indem sie nur da ist und umhergeht, verbreitet sie eine ruhige Freude. Der Dienst der Schwester steht jenseits der nationalen Zu- und Abneigung. Sie legen dem Gascogner genau wie dem Mecklen» burger das Eis auf den fiebernden Kopf und reden von der Willig» keit und Dankbarkeit des Acetonen, als ob er unser Landsmann wäre. Unsere Schwestern pflegen auch Schwarze und Inder. Das hört sich so selbstverständlich an. Aber man muß sehen, was das bedeutet: wenn unsere Töchter diesen primitiven Wesen jede Hand- reichung darbieten, wenn unsere Aerzte diese Halbwilden mit den letzten Methoden und Apparaten unserer Wissenschaft zu heilen be- strebt sind. Welche arme Kriegswitwe in Schlesien und Rheinland wird so verpflegt wie diese fremden halbwilden Hilfsbölker unserer Feinde? Man muß dies sehen, um zu erkennen: hier ist echte und große und mehr Humanität als in den tausend Phrasen, zu denen dieses vielgequälte Wort jetzt in Europa herbalten muß. Einst war der Dienst der Schwester religiös bestimmt und kirch» lich organisiert. Auch heute trifft man hinter der Front auf Ordens- schwestern beider Konfessionen. Aber die große entscheidende Masse der Berufsschwestern arbeitet in jenem schrankenlos menschlichen Geiste, aus dem heraus das Rote-Kreuz-Banner geboren ist, unter dem sie arbeiten. Ueber die Rolle, die die Religion im Kriegs- lazarett spielt und nicht spielt, auch darüber erzählen die Schwestern viele und merkwürdige Dinge, über die zu reden sein wird, wenn Europa wieder Gedanken statt Granaten dreht. Heute wetteifern alle Schwestern in der schönen Aufgabe unparteilicher Taten. Dr. Adolf Köster, _ Kriegsberichterstatter. kleines Zeullleton. Die stärkste Njemen-Zestung. Drei Bollwerke, Kowno , Olita und Grodno , hatten sich die Ruffen am Njemen geschaffen, drei Festungen, die sie mit allen Hilfsmitteln neuzeitlicher FortifikationSkunst ausgerüstet hatten. Wo die Wilija in den schiffbaren Njemen einmündet, da grüßt die Stadt Kowno freundlich von den hohen.Ufern herab, die die alte Festung anmutig umsäumen. Wie Warschau , Riga und andere Orte, die jetzt vom Kriege umbrandet sind, zerfällt auch die Njemenstadt in zwei Teiles Eng drängt sich die winkelige, schmutzige Altstadt an den Fluß heran, während sich die Neustadt, der„Neue Plan", fluß- aufwärts hinzieht. Weit über 100 000 Einwohner zählt die Stadt heute, wovon ungefähr die Hälfte Juden sind. Daher kommt, daß Kowno nicht weniger als 5 Synagogen und 16 israelitische Bet- schulen aufzuweisen hat. Was an alten Bauwerken in Kowno erhalten ist, das ist von geringer Bedeutung. Architeklonisch eindrucksvoller als die Gotteshäuser in Kowno ist das turmgekrönte Rathaus am Marktplatz. Es ist ein denkwürdiger Zeuge aus alter Vergangenheit Rotes vlamenblut. Von Pierre Broodcoorens . Berechtigte Uebersetzung von Johannes Schlaf . Erster Teil. Mit einem schallenden Lachen erschien der Mann aus der Schwelle der Kate. Hohen Wuchses mußte er, um sie zu über- schreiten, sich bücken. Hinter ihm gab es in dem niedrigen, kleinen, verräucherten Zimmer ein lautes Geklirr der Gabeln auf den Tellern. Die überschäumende Lustigkeit einer vlämischen Schlingerei schallte zu den schwarzen Deckenbalken empor. Durch die Fenster konnte man die über die Tische gebogenen Rücken erkennen. Er war ein wahrer Riese, stark und vierschrötig, mit mächtigen Schultern. Seine breiten Füße, die in nägel- beschlagenen Schuhen staken, stampften derb auf den Boden auf. Er hatte einen grauen Anzug an und einen Filzhut mit einer in die Schnur gesteckten Pfauenfeder auf, der über das rechte Ohr gezogen war. Uebermut lachte in seinen von Gesundheit und Kraft blitzenden braunen Augen. Vierzig Jahre mochte er alt sein. Mit der Stirn be- rührte er das von grünen Moospolstern durchfressene, die aus ihrem wurmstichigen Fachwerk hervorquellenden Lehm- wände überragende Strohdach. Die fahlrote, mit licht- blonden Stellen durchsetzte Farbe seines hängenden Schnurr- hartes hob sich von seinem sonnverbrannten, energischen Gesicht ab, das hervorspringende Backenknochen hatte. Und er hatte riesige, blutgefüllte Hände mit roten Haarbüschelchen, die sich auf der rauhen Haut der Fingerglieder kräuselten. Er zog einen Pfeifenstummel hervor und steckte an seiner Velourshose ein Schwefelhölzchen an. Dann zog er die Backen ein, beugte sich vornüber, bog die Hände um die hoch aufschlagende Flamme und setzte den feuchten Tabak in Brand, der aufquellend einen scharfen Rauch gab. Winzige, wie brennende Haare gekrümmte Flöckchen fielen auf den schmutzigen Erdboden herab. Er setzte sich in Bewegung. Das Schwein schrie und stieß mit der Schnauze gegen die kotbespritzte Tür seines Kobens. Im Dunkel des Kuh- stalles bewegten sich die unbestimmten Umrisse der Rücken. Ein Dunst von frischem Kuhmist strömte aus, der sich mit dem kräftigen Geruch der Streu mischte und mit dem Aroma des Heues, das die Mäuler kauten. Der Mann vernahm das Knirschen der Zähne, das Geklirr der Ketten, die sich am Futtertrog scheuerten. Und er erkannte die Kuh Duc an ihrem blauen Vorderkopf mit seinem weißen Stern. Er schritt an dem Strohschuppen vorbei, wo unter den Schubkarren, den Ackergeräten, zusammengerollten Tauen, einem Haufen Dachziegeln und Gipssäcken der Hund Baartje kampierte. Die Schnauze zwischen den Pfoten schlummerte der schwarz und weiß gefleckte Stöber vor dem Faß ausge- streckt, das ihm zur Hütte diente. Als der Mann bei ihm vorbeikam, wedelte er leise mit dem Schwänze. Zwischen seilten scharfen, weißen Zähnen hervor zischte er dem Hunde ein munteres„Kß! Kßl" zu. Mit rundem Auge und vorgerecktem Hals fuhr unter feindseligem Gezisch um das Jaucheloch herum ein Gänserich auf ihn los. Er verscheuchte ihn, indem er mit Erdklumpen nach ihm warf. Als er aber an der Scheune vorbeikam, fuhr ihm glucksend eine von ihrer Brut gefolgte Glucke zwischen die Beine. Darüber entfiel ihm die Pfeife und er stieß einen Fluch hervor. Es war ein Sonntagnachmittag im September. Es wehte ein leichter Wind. Das graugrüne Laub der Nuß- bäume, die über die dichtbelaubten Hecken hinausragten, rauschte ununterbrochen in einen leis getrübten blaßblauen Himmel hinein. Die Sonne überkräuselte sie mit einem linden Gold- schimmer. Und in diesem sehr sanften Licht hingen die zahl- losen Früchte in prallrunden, grünen Büscheln. Ein Ruch von reifen Aepfeln ging mit der Luft, der sich mit dem kräfti- geren Hauch des feuchten, von Gräben durchzogenen Wiesen- grases vermischte. In den Obstgärten wandten die geraden Baumreihen ihre gewundenen Stämme, die einen regen- verwaschenen Kalkanstrich hatten, alle nach der gleichen Seite. Zuweilen trug der Wind den berauschenden Duft des ge- mähten Grummets herüber. Der Mann blähte dann die Nüstern und sog mit weiten Lungen das wie mit Moschus verfetzte Aroma der Erde ein. Er brach eine Haselnußgerte von einem Zaun. Das dichtbelaubte Reis in der Hand schritt er, sich in den Hüften wiegend, vorwärts. Die mächtigen Schläuche seiner Bein- kleider flatterten um seine etwas gespreizten Beine. Er griff mit der Rechten auf eine Barriere, stieg über und gewann einen Fußsteig. Am Vormittag hatte er sich von dem Dorffigaro das Ge- ficht schaben lassen. Und durch die Gläser aufgemuntert, die er, der selten ausging, nach der Mesfe bei dieser Gelegenheit getrunken hatte, entschloß er sich zu einer Verlustierung. Er überschritt die endlosen Wiesen, die sich zu beiden Seiten der unter einem stellenweise undurchdringlich dichtem Laubgewölb dahinfließenden Schwalm ausdehnen. In tiefer Betäubung schlummerten in ihrer Ferne die vereinzelt liegenden Gutshöfe, zwischen Baumgruppen verborgen, im lichten Sonnendunst an den Flanken der Hügel. Das zarte Grün der Getreidefelder wechselte mit dem lebhaften Rot der frischgepflügten Ackervierecke. Ein rostroter Farbton belebte die Gründe, und als er die Wasserkunst von Saint-Martin passiert hatte, machte an der nach Renair hinführenden Chaussee hin das königliche Blut des Herbstes bereits das blasse Gold der hundertjährigen Ulmen leuchten. Der Mann setzte seine friedliche Wanderung jetzt auf der Chaussee fort. Die Glocke der kleinen weißen Kirche von Obrakel schlug zwei Uhr. Er ließ sie zur Linken der Böschung. Eine tiefe Stille betäubte das Gefild. Wie die Bauern, die es jahraus, von Kowno , wenn es auch bei einer Erneuerung im 17. Jahrhundert manche seiner früheren Schönheiten eingebüßt hat. Die Stadt Kowno soll schon im 11. Jabrhundert gegründet worden sein. Das litauische Kauna war eine befestigte Niederlassung des Litauerstammes der Samaiten, die im Jahre 1380 vom Deutsch- Ritterorden unterworfen wurden. Vom Jahre 1384 bis 1398 in den Händen dieses Ordens wurde Kowno zu einer Befestigung ersten Ranges erhoben. Noch heute kann man in der Nähe der Stadt die Ruine der vom Deutschen Orden im Jahre 1391 erbauten Burg Ritters- Werder finden. Schon damals war Kowno ein heißumstrittener Ort, und es fiel im Frieden von Thorn , den der Deutsche Ritter - orden im Jahre 1411 nach der unglücklichen Schlacht bei Tannen- berg schließen mußte, an die Polen . Unter der polnischen Re- gierung gewann Kowno bald solches Ansehen, daß es Heinrich von Balms bei einer Durchreise im Jahre 1574 mit Recht„die Zierde der Republik " nennen konnte. Aber schlimme Heimsuchungen blieben der Stadt am Njemen nicht erspart. Immer wieder suchten die Moskowiter den wichtigen Handelsplatz in ihre Gewalt zu be- kommen. Fürchterlich wüteten die russischen Mordbrenner nach der Einnahme Kownos im Jahre 1655 unter dem Zaren Alexei. Die Bewohner wurden ausgeplündert, ihre Häuser verbrannt. Als Kowno bei der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 an Rußland kam, da war es mit seiner Leidenszeit noch nicht zu Ende. So brach im Jahre 1306 ein entsetzlicher Brand in seinen Mauern aus, der drei Viertel der Stadt in Asche legte, so daß ganz Kowno noch lange Zeit danach nicht mehr als zweihundert Häuser gezählt haben soll. An den Ufern deS Njemen, ein wenig oberhalb der Stadt, fand auch in den Junitagen des Jahres 1312 die Jagd der Russen hinter der napoleonischen Armee ihren Abschluß. Die Blütezeit Kownos be- gann erst, als es im Jahre 1842 bei der Neueinteilung Polens zur Hauptstadt des neu errichteten Gouvernements Kowno er- hoben wurde. Die natürliche Lage der Stadt an dem schiffbaren Njemen verhalf ihr nicht wenig zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, und Kowno wurde bald ein Hauptstapelplatz für den Handel nach Preußen. Besonders wurden Holz und Getreide, Flachs, Mehl und Spiritus gehandelt. Heute ist der Handel bedeutend zurückgegangen. Dagegen zeugen zahl- reiche Metallfabriken, Drahtziehereien und Brauereien von dem gewerbs- tätigen Sinn der Bevölkerung. In der Nähe von Kowno liegt auch das Poshaiky-Uspenski-Kloster, die.Friedensburg", die der litauische Großkanzler Christoph Paz im Jahre 1674 unter einem Aufwand von 2 Millionen Gulden hat errichten lassen. Nujststhes IlüchtlingselenS. Alles, was die Geschichte von der Völkerwanderung berichtet, wird weit in den Schatten gestellt durch die Sturmflut der russischen Flüchtlinge, die sich zu gleicher Zeit aus Polen und Kurland ergießl. Nach einer Schilderung im„Rußkoje Slowo" war der Andrang auf dem Warschauer Bahnhof vor Abgang des letzten ZugeS ganz un- geheuer. Dicht bevor die Deutschen in Warschau einzogen, am Donnerstag, verließ der letzte Zug am Mittwoch die Stadt mir Flüchtlingen, die den ganzen Tag über in Erwartung der Extra- züge, die fast jede Minute abgelassen wurden, auf dem Bahnhof standen oder auf ihren Gepäckstücken sahen. Allmählich war so unermeßlich viel Bagage aufgehäuft, daß kaum noch ein Durchgang möglich war. Parallel mit den Eisenbahnzügen gingen TrambahnwaggonS, die in einer Entfernung von einer halben Werst einander folgten, überfüllt mit Passagieren. Einige Tage vorher war auf dem Bahnhof in Warschau eine Be- kanntmachüng zu lesen, daß alle, die fortzureisen wünschen, kostenlose Fahrkarten erhalten können. Es wurden vielleicht 70 000 derartiger Fahrkarten verteilt. Die Züge gingen ohne Glockenzeichen ab, so- bald sie überfüllt waren. Die alten Männer, Frauen und Kinder weinten meistens beim Verlassen der Heimatstadt. Und doch sind diese aus Warschau , Sjedlez, Brest und anderen nahe von Warschau gelegenen Orten Geflüchteten noch nicht so schlimm daran gewesen wie die aus entlegeneren Städten, von wo sie vielfach erst nach qualvoll verlebten zwei bis drei Wochen ans Ziel gelangten. In Moskau haben sich schnell Hilfskomitees gebildet, die den ankommenden jahrein umwühlten, hatte es den Trieb, auch seinerseits seine Ruhepause zu genießen. Er erreichte die Häuser. In den mit großen Flecken von Stengelbohnen und Hopfen gefüllten Gärten saßen, friedlich rauchend und die Hände um die einwärts gebogenen Knien gefaltet, auf aus- gerodeten Baumstümpfen die Bauern. In mißtrauischem Schweigen preßten sie hartnäckig ihre geschwärzten Zahn- stumpfen auf das verräucherte Mundstück ihrer Pfeifen, an dem sie brodelnd sogen. In die regungslose Luft stieg steil- auf wie der�Weihrauch der kirchlichen Räucherpfannen der Qualm der Schornsteine. Hinter den Kneipen aber erhob sich Gelärm. Laute Rufe begrüßten den Donner der Kegel, die unter dem Ansturm der polternden Kugel zusammenbrachen. Der Mann wurde fröhlich. Er trat ein. Unter dem Schild des„Hasen", bei Leo de Hoogh, machten ein Dutzend Burschen ihr Spiel, den weichen Filz im Genick, die Gesichter schon von dem frischen Hopfentrank belebt, den sie Hinuntergossen. Auf den grauen Steinplatten standen sie zuhauf, die rechte Hand ausgestreckt, die geballte Linke auf dem Schenkel. Ein gegen das Ziel hin verengerter Kreis hatte sich gebildet. Tie Hälse reckten sich, aufmerksam waren die Augen dem Zeichen der kupfernen Spielmarken zugewandt. „Hei, Flohil!" rief einer der Burschen fröhlich. Und gleichzeitig wandten sich aller Gesichter gegen den Ankömmling herum._,. � „Ja, wahrhaftig: Souhe ist da!"/ Einige von den Bauern lösten sich von der Gruppe ab, kamen zu ihm hin und streckten ihm die groben Hände ent-, gegen. Man drückte ihm die Hände, schlug ihm freundschaft- lich auf die Schulter. Und als guter Kerl ließ er stchs ge- fallen und hatte lächelnde Geduld für das zu lebhafte Ge- bärdenspiel und die für Leute, die„Geld in den Strümpfen haben", ungewohnte Gesprächigkeit. „He, Bruder, und wo hast Du so lange gesteckt?" „Du bist also von Villeparis zurück, Souhe?" „Gehts Aryn Klip gut?" „Und was macht die Stute?" „Und das Trinkgeld?" „Wie stehts. Lämmchen? Noch nicht bezecht?" „Kommst Du mit nach La Houppe?" „Vielleicht komm ich mit." „Du spielst doch eine Partie mit?" „Wirklich nicht, lieber Mensch?" „Wirst wohl erwartet?" „Ja und nein." „Also?"■;■ „Nein." „Ah bah, Souhe Flohik!" „Bei seinem Alter!" „Er braucht eine wallonische Katze, der Duckmäuser!" „Ach, sicher hat er schon eine!"(Forts, folgt.)
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32 (20.8.1915) 190
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