jh. 210.— IM». Llnterhaltungsblatt öes Vdrwärts s«--'°s.l2-s-?ww..................................................................................■im........................ i imWeißrußland.LMan konnte mit Recht behaupten: erst der Weltkrieg hat vielenMm Bewußtsein gebracht, daß das mächtige, weitausgedehnte russischeReich eigentlich ein N a t i o n a l i t ä t e n st a a t ist. Schon dieersten Ereignisse des Deulsch-Russischen Krieges, die Kongreßpolen undLstgalizien zum Schauplatz hatten, haben die polnische undukrainische Frage in den Vordergrund des politischen Lebensgestellt. Die weiteren Vorgänge, die sich bereits im laufenden Jahreabspielten, wandten unser Interesse der Bevölkerung Litauens, Kur-lands und Livlands— den Litauern, Letten und E st e n zu.Wennman abervon all diesen Nationalitäten wenigstens eine verworreneVorstellung auch vor dein Kriege haue, so sind die jüngst vonden deutschen Truppen okkupierten Gebiete, Teile des GouvernemcnlSG r o d n o, den breiten deutschen Leserkreisen ethnographisch so gutwie unbekannt, obwohl sie zum größten Teil von Angehörigen einesüber 8 Millionen Köpfe starken, d. h. sowohl die Litauer, als dieLetten und Esten an Zahl überragenden Volkes bewohnt sind.Es leben die Weißrussen, die sich nach den einzelnenGouvernements wie folgt verteilen(laut den Berechnungen desbekannten Erforschers Weißrußlands, Prof. Karsky): im Gou-vernement Wilna, das sie außer ein paar Kreisen durchweg be-wohnen, 1076 435; im Gouvernement Witebsk 976 633;im Gouvernement Grodno, wo sie die Mehrheit bilden, 861640;im Gouvernement Minsk 1 7öS 069; im GouvernementMohilew, dessen Hauptbevölkerung sie vorstellen, 1660 069; indem angeblich großrussischen Gouvernement S m o I e n S k 947 326;in dem zum Teil ukrainischen Gouvernement Tschernikow700 000. Ferner find kleinere Splitter des weißrussischen Volkes inden Gouvernements Kowno, Suwalki, Kurland und sogarin den„echtrussischen" Gouvernements Orel, Pskow und Twer— in den letzteren über 100 000— zerstreut.Die Weißrussen zerfallen heute in zwei ungleiche konfessionelleGruppen: die griechisch-orthodoxe und die römisch-katholische, deren Zahlcnverhältnis ungefähr 3: 1 beträgt(genau bestimmen lassen sich die betreffenden Ziffern schwerlich, daseit dem Tolcranzerlatz von 1905 der Uebertritt der früher zwangS-weise zum Orthodoxentum bekehrten Weißrussen zurück zum Katho-lizismus eine masienhafte Erscheinung geworden ist). Diese kon-sessionelle Spaltung muß man deswegen besonders hervorheben, weilfeine Folgen sich im gesamten Geistesleben des weißrussischen Volkesgeltend machen: die katholischen Weißrussen fallen mehr dem Ein-flusse der polnischen Kultur anHeim(sie benutzen auch daspolnische Alphabet), während ihre griechisch-orthodoxen Volksgenossenleichter den großrussischen kulturellen Einrichtungen zugäng«lich sind.Die Polen und die Großrussen spielen erst seit den letztenJahrhunderten eine wichtige Rolle im Leben Weißrußlands. In derferneren Vergangenheit waren es die Litauer, die seine Schicksalebestimmten. Im 12. bis 14. Jahrhundert hat dies kriegerische Volkdie westrussischen Stämme unter seine Gewalt gebracht, jedoch der-nichtete der neue litauisch-russische Staat, der nur zum kleinsten Teilvon den Litauern bewohnt war, keineswegs das selbständige kul-turelle Leben der unterjochten Stämme, sondern fiel selbst gänzlichihrem Einflüsse onheim. So wurde die Sprache der meisten dieserStämme— eben die weißrussische— unter der Regierungdes Fürsten O l g e r d(1344— 1377) zur Amtssprache des„Groß-fürstenwms Litauen" und sie blieb es auch nach der Errichtung dervolnisch-litauischen Union bis Stefan Batborh. In der weißrussi-schen Sprache wurden die„Statuten" oder Gesetzbücher Litauensherausgegeben, daneben aber haben die Religionsstreite zwischenden Orthodoxen und Katholiken Ende des 16. und am Anfang des17. Jahrhunderts eine Anzahl weißrussische Literaiurwerke hervor-gebracht.Die Berührung mit der höheren polnischen Kultur, die damalsgerade in Blüte stand, wurde für die Entwicklung der weißrussischenNation verhängnisvoll: zwar bewahrten die Massen des weiß-russischen Volkes ihre eigenartigen Sitten und ihren Glauben, ihreSprache und ihre mündliche Literatur, die besitzenden Schichrenjedoch, vornehmlich der Adel, wurden polonisiert. Wennaber diese Assimilierung sich auf natürlichem Wege voll-zog, so bezweckte die Politik deS neuen Eroberers, derzarischen Regierung, da? weißrussische Volk als solches gewalt-s a m zu russifizieren. So ist im Jahre 1839 die griechisch-katholische(uniierte) Konfesston, die im Laufe der Jahrhundertezum Volksglauben der Weißrussen wurde, von der Regierung ab-geschafft worden. Man hat auch das Drucken der Bücher in weiß-russischer Sprache verboten. Zu gleicher Zeit peinigte man dieRotes vlamenblut.20� Von Pierre Broodcoorens.Obgleich ihr das Gewerbe Aryn Klips unbekannt war,wußte Hilla z. B., daß die Wilddieberei eine unerlaubte undgefährliche Handlung ist, ebenso wie der Mord und der Dieb-stahl mit bewaffneter Hand. Doch dürfte der Mörder, fürdessen Schuld der Gerichtshof keine formellen Beweise auf-dringen konnte, nicht verachtet werden. Warum ihm eineFreveltat so streng anrechnen, für die er einzig dem Gerichtverantwortlich ist, und die noch dazu vielleicht irgendwelchenUnglücklichen die Möglichkeit gibt, zu erben und sich eineExistenz zu machen? Ihn ins Gefängnis stecken? Aber erwürde darin erst recht böse werden. In der Gegend lebten wie inKorsika viele Verbrecher, die die Gendarmerie niemals belästigthatte. Jedermann wußte, daß sie diese und jene Räubereienverbrochen hatten; es fehlte sogar nicht an Beweisen dafür,doch niemand hätte gegen sie Zeugnis abzulegen gewagt;zynisch genossen sie die allgemeine Achtung. Der kenn-zeichnendste Fall war der eines Wilderers, der am hellichtenTage in Audenhove-Saint-Goorix mitten in einer Schar vonHeuern kurzerhand einen Menschen niedergeschossen und sichdarauf, das Gewehr über der Schulter, langsam ent-fernt hatte.Der Katechismusunterricht war über HillaS Gehirn hin-geglitten wie fließendes Wasser über einen Stein. Sie gingSonntags in die Messe, weil alle Bauern diese besuchten,außer zwei, drei Juden und einem Viertelhundert Vagabunden,auf die man mit dem Finger wies, wenn man sie nicht inder Abenddämmerung in irgendeinem Wiesenwinkel gründlichverwamste. Wenn sie die Missionsmönche auf ihrer Kanzelgegen die Tanzvergnügen und die traurigen Verirrungen,die deren Folge sind, hatte donnern hören, so hatte sie daskeineswegs verhindert, die Anträge der nachlässig an denSchiffspfählen lehnenden jungen Bursche mit feurigemAeugeln zu erwidern. Sie hatte nicht einen Schot-tischen oder eine Mazurka weniger getanzt. DieHauptsache war, den Schein zu wahren und ge-wissenhaft die gelvohnten Anstandsregeln zu befolgen. Umgesellschaftlich obenauf zu bleiben und mit der allgemeinengroßen, gleichartigen Mehrzahl zu leben, waren alle Nieder-trächtigkeiteu, wahre Scheusäligkeiten, die aber nicht alssolche angesehen wurden, erlaubt. Und was bedeuteten diewiderspenstigen unierten Nonnen und peitschte die Bauern, die demGlauben ihrer Väter lrcu blieben, massenweise aus. Die zahlreichenaus Jnnerrußland gebrachten Beamten durchsetzten Weißrußland vonoben bis unten mit amtlich-russischem Patriotismus.Die anormalen politischen und kulturellen Verhältnisse beeinflußtenauch die wirtschaftliche Lage des Landes. Während diegroße Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung(76 Proz.) Ackerbautreibt, hatten sie nur 47 Proz. des Bodens in ihrem Besitz. Es fehltweiterhin den Bauern an Geld, der Kredit ist leuer, Mcliorations»kredit gibt es überhaupt nicht, obwohl er gerade dem sumpfreichenLande(auch P o l e s j e gehört zum Weißrußland) unentbehrlich ist.Zwar sind in den letzten Jahren in den weißrussischen Gouverne-mcnts die S e m st w o s, das heißt ländliche Selbstverwaltungeneingeführt worden, aber die Bauern wurden in ihnen von vorn-herein jedes nennenswerten Einflusses beraubt. Wenn sich jedochtrotz dieser ungünstigen Verhältnisse ein Fortschritt in derBauernwirtschaft bemerkbar macht, so z. B. der liebergang zuder Vierfclderwirtschaft, Benutzung vollkommerer Geräte, Kunst«düngung u. dergl., so sind dabei die Nähe der deutsch-russischenGrenze sowie die Handelsbeziehungen mit W e st e u r o p a, die sichfeit einigen Jahrhunderten dank den bequemen Verkehrswegen—den Flüssen Nj e m en und Dwina— entwickelt haben, ferner auchder i n n e r e H a n d e I, der in den jüdischen Händen liegt, zu be-rücksichtigen. Die Großindustrie ist leider in Weißrußland,ähnlich wie in Litauen, wenig verbreitet: die Produktion, derenWert kaum 70—80 Millionen Rubel jährlich beträgt, kann auch nichtganz 10 000 Arbeiter beschäftigen.kleines Feuilleton.Seltsames Gelö.Das eiserne Geld, das Deutschland jetzt in eiserner Zeit prägenläßt, stellt beinahe ein Unikum in der Geschichte der Münzen dar,denn außer bei einigen afrikanischen Ncgerstämmen der Kongo-gegend wurde Eisen nur im alten Griechenland eine Zeit lang alsZahlungsmittel verwendet. Bei dieser Gelegenheit ist es wohl vonInteresse, noch anderer merkwürdiger Erscheinungen aus der Geld-Historie zu gedenken. Das schöne Lied:„O welche Lust, Soldat zusein", nebst ein paar anderen Gesangsvorträgen, brachte der! Sängerin Fräulein Zölie, die das Abenteuer unternommen hatte, inden 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Konzertreise durchden Stillen Ozean zu machen, aus einem Eiland der Freundschafls-inseln folgende etwas unhandliche Einnahme: Der Häuptling Makeabezahlte mit schön gravierten Kokosnußflaschen; das dunkelfarbigePublikum erlegte für seine Eintrittskarten im ganzen 3 Schweine,23 Truthähne, 44 Hühner, 600 Kokosnüsse, 1200Ananas, 120 Maß Bananen, 120 Kürbisse und 1600Orangen... Sie fand sich notgedrungen in gutem Humormit der Sache ab.„Man sagt mir," schrieb sie ineinem Briefe,„das ein Spekulant von der benachbarten InselMangea morgen kommen soll, um mir Kaufofferten in klingenderMünze zu inachen. Inzwischen geben wir unseren Schweinen, umsie am Leben zu erhalten, die Kürbisse zu fressen, die Puter unddie Hühner verzehren die Bananen und Organgen, so daß ich.um den animalischen Teil meiner Einnahme zu erhalten, denvegetabilischen opfern muß."Dos ist noch völlige Naturalwirtschaft; Anfänge einer richtigenMünzwirtschast aber sind es, wenn wie in Melanesien, so auf denMarshall- und Gilbertinseln aus Muscheln geschnittene Schcibchen,deren Gewinnung und Herstellung ein Privileg der Häuptlinge ist,als Geld dienen, unseren kleinsten Kupfermünzen entsprechend, währendauf der Insel Pelan einzelne alle Glasperlen auS der Zeit derersten Entdecker heute den Wert großer Goldstücke oder Banknotenhaben und als kostbare Juwelen einzeln bekannt sind, sodaß sie nichtmit modernen Perlen verwechselt werden können. Auf der Karolinen-insel Aap gibt es ein altes Steingeld, das die Größe ansehnlicherWagenräder erreicht; zwei Proben davon befinden sich in der ozea-nischen Sammlung des Berliner Museums für Völkerkunde. Ein füruns recht merkwürdiges Geld ist Salz, das an der chinesisch-birma-nischen Grenze wie im Innern Afrikas verbreitet ist. Bei den Ma-dingoncgern fand ein Reisender den Wert einer Salztafel von derungefähren Größe eines Backsteins gleich 20 M., und in Darkullahatte nach RillerS Geographie von Afrika ein vierzehnjährigerSklave den Wert von 12 Pfund Salz. Auch in Abessinien werdennach Wirlh noch Salzbarren und in Hochasien Tceziegel als Geldgebraucht. Die Chinesen verwandten sie zuerst als Truppensoldfür die tibetischen Grenzvölker. Die alten Mexikaner gebrauchtenKakaobohnen in Säckchen zu 24 000 Stück für größere Zahlungen.paar tausend schweren Uebertretungen, zu deren Unter-drückung die Justiz ihre stolzen Paläste, ihre Gefängnisse unddas zahllose Heer von Männern des Gesetzes und Gendarmenhat, gegenüber den Millionen von unbestraften Verbrechen,die tagtäglich in den öffentlichen Einrichtungen, am häuslichenHerd, in den traurigen Arbeitshäusern, in denen nicht alleinder Mann, sondern sogar Weiber und Kinder ohne Gegen-wehr unterdrückt und aus daS schändlichste ausgebeutetwurden, sich� ereignen? Wie hätte Hilla Citters die wahreNatur des Schlechten verstehen sollen, da weder die Gesetz-geber noch Sittenlehrer, noch die verschiedenen bestehendenKirchen über seinen Begriff sich einig sind— vielleichtaus dem Grunde, weil sie das, was sie täglich vor Augenhaben, nicht sehen wollen?Hilla hatte immer daS vegetative Leben der Bauern ge-lebt und lebte es noch, jenes Leben, das in Flandern daSgleiche ist wie in Irland, in Nußland und überall, woMenschen sich U bis 15 Stunden täglich abschinden für einenLohn, der Christus weinen machen würde, wenn er wieder vonden Toten aufwachte.Nonnen, die von dem Sweatingsystem lebten,. daS sie denSpitzenklöppelcrinnen der Gegend auferlegt hatten, denen sieauf Rechnung der großen Brüsseler Arbeitshäuser Arbeitgaben, hatten in einem Nebengebäude ihres Klosters eineSchule eingerichtet. Hilla und Jannah hatten sie zusammenbesucht. Die ältere war damals sieben Jahre alt. Aberwenn die Mutters CitterS einen Geschäftsgang hatte, so be-kamen die Nonnen die Kinder nicht zu sehen an dem Tage.Unter dem nichtigsten Vorwande zwangen die Eltern sie fern-zubleiben, manchmal wochenlang. Aber das tat nichts: � derPfarrer Beerblock hatte in der Predigt erklärt, es genüge füreine Bäuerin, soviel zu wissen, daß sie mit einemRechencxempel zurechtkommen und die Litaneien inihrem Gebetbuchs lesen könnte. Am Tage ihrerersten Kommunion— ein Datum, das im allgemeinen fürdie Bauernkinder Flanderns das Ende des Elementarunter.richts bedeutet— kannten Hilla und Jannah noch nicht maldie vier Rechnungsarten und die einfachste Orthographie.Dafür aber wußten sie das„Ave", den„Pater", das„Credo"und die tausend anderen Formeln des Andachtsrepertoires,die den Bauern zu einer vorschriftsmäßigen Leichenwache, zurBeerdigung, zu Prozessionen und zum Vollzug der anderenüberlieferten religiösen Zeremonien dienen, von Grund- aus.Außerdem hatten sie das Nähen und Häkeln gelernt, Beschäfti-gnngen, die außerordentlich einträglich waren, besonders fürBaumwollenzeug und Goldstaub in Federkielen, hatten aber auchZinnbarren in Form eines?. Erwähnt sei in diesem Zusammenhangnoch ein französischer Parlamentsbeschluß vom 19. Mai 1883,durch den der Kriegsmin ister ermächtigt wurde, der Expedition desMarineoffiziers de Brazza, des Begründers von Französisch-Kongo,100 000 alte Steinschloßgcwehre zu überlassen, weil solche imForschungsgebiet als Geld gälten... AuS dem Osten Deutschlandsund den angrenzenden Slawenländern, in denen jetzt der Kriegtobt, sei noch das Leinwand- und Lcdergeld erwähnt. Der weit-gereiste jüdische Maure Ibrahim Jbn Jakub, der 965 am Hofe KaiserOltoS weilte und bis Böhmen und in die Ostseeländer vordrang,erzählt, in Böhmen habe er ganze Kisten voll kleiner, dünn ge-wobener„Tüchelchen" gesehen, die„eigentlich gar nichts taugten, dieaber von allen als Geld genommen wurden", weiter in Rußlandaber gab es richtiges Pelzgeld„Kuni", das dort den Umlauf be-herrschte und dessen Namen von dem des Schwarzmarders,„Kuna",herrührt. Eigentliches Ledergeld hat es sonst nur als Notmünze ge-geben, zuletzt im Unabhängigkeitskriege der Niederländer.De? Gelehrte im Irrenhaufe.Im jüngsten Heft des„Strand Magazine" wird die merkwürdigeGeschichte eines amerikanischen Gelehrten erzählt. Wenn der ver-storbene Lexikograph James Murray, der berühmte Verfasser des„Neuen englischen Wörterbuches", sich an den Artikel über ein neuesWort machte, so pflegte er bei dem ganzen Heere seiner freiwilligenMitarbeiter herumzuschicken, die ihm dann die von ihnen gesammeltenStellen mitteilten. Im Laufe der Zeit entdeckte Murray, daßregelmäßig die wertvollsten Mitteilungen, die bei ihm_ eingingen, in der Regel begleitet von höchst gehaltvollen wissen-schastlichen Erläuterungen, von einem gewissen W. C. Minor her-rührten, der in einem kleinen Dorfe in Berkshire wohnte. DieserDr. Minor war Murray ganz unbekannt, und er interessierte ihnmehr und mehr. Schließlich empfand Murray das Bedürfnis, demUnbekannten feine und der Universität Oxford Dankbarkeit irgendwiezum Ausdrucke zu bringen, und er vcranlaßte die Universitäts-behörden dazu, Dr. Minor in aller Form eine Einladung zu über-senden, nach der er eine Woche lang unter allen Ehren Gast derUniversität fein sollte. Die Antwort war zur UeberraschungMurrays eine höfliche, aber entschiedene Ablehnung; undals der Oxforder Professor nach dem Grunde der Ablehnungfragte, erwiderte Dr. Minor, er sei in körperlicher Behinderung zusuchen; wenn aber Murray ihn besuchen wollte, so würde ihm dieswillkommen sein. Murray beschloß, der Einladung Folge zu leisten,reiste nach Berkshire— aber wie erstaunte er, als der Wagen, derihn an der kleinen Eisenbahnhaltestelle erwartete, den Weg nachBroadmoor, einer bekannten Anstalt für geisteskranke Verbrecher.einschlug! So war es wirklich: der gelehrte Mann, der 6 bis 8000höchst wertvoller Zitate zu dem großen englischen Wörterbuche bei-gesteuert hatte, war Insasse dieser Anstalt, wo er jedoch die Freiheitgenoß, sich seiner Bibliothek nach Belieben zu bedienen.Auf nähere Erkundigung erfuhr Murray über seinen seltsamenKorrespondenten, daß er von Geburt ein Amerikaner war und daßer eine? Abends einen Heizer aus einer benachbarten Brauereikurzerhand über den Haufen geschossen hatte. Seinen Angehörigenin Amerika gelang es, die Eröffnung des Prozesses gegen ihn solange hinauszuziehen, bis sie selbst nach England gekommen waren;und sie konnten dann erweisen, daß Dr. Minor schon seit frühenTagen an Wahn- und Versolgungsideen litt. Er wurde freigesprochen,aber in die Anstalt von Broadmoor verwiesen, wo er zu einemwertvollen Mitarbeiter des Wörterbuchs geworden ist.Notizen.— Musikchronik. Die Neue freie Volksbühne eröffnet amSonntag, den 26. September, ihre musikalischen Veranstaltungen imTheater am Bülowplatz mit einem Konzert des PhilharmonischenOrchesters unter Leitung Steinbachs. Beelhovens Leonoren-Ouvertüre,Achte Symphonie und BrahmS Zweite Symphonie gelangen zurAufführung,— Theaterchronik. DaS Friedrich-Wilhelm-städtische Thealer eröffnet am 24. September unter derDirektion Gustav Friedrich die Winterspielzeit mit einer Ncueinstudie-rung der Zellerschen Operette„Der Vogelhändler" mit KurtFrederich in der Titelpartie als Gast.— Noch eine Fachschule für Frauenkleidung. InErgänzung unserer Meldung über die Gründung einer Fachschule fürFrauenkleidung in Magdeburg wird uns geschrieben, daß in Berlin-Schöneberg, angegliedert an die„Schule Reimann", bereits seit demJahre 1910 eine besondere Modenabteilung in Verbindung mit einerLehrwerkstatt für künstlerische Frauenklcidung besteht. Diese Ab-teilung ist in letzter Zeit besonders ausgebaut worden.die guten Schwestern, die ausdrücklich darauf hielten, ihrenSchillern deren Anfangsgründe einzuprägen, um sich eine Er-gänzung ihres Arbeiterinnenbcstandes zu versichern.Trotzdem zählten die vier Jahre, die sie die Schule be-sucht hatte, zu den glücklichsten ihres Lebens. Sobald dieGlocke des Klosterturms vier Uhr geschlagen hatte, öffneteder große Torweg seine beiden Flügel und ließ die Schwärmemunterer Schüler auf die sonnige Straße heraus.An Graswegen, zwischen Getreide-, Raps- und Klee-feldern hin kehrte der Schwärm nach Hause zurück. GrelleBlumen, Kornblumen, Klatschrosen, Heckenrosen boten sich darnach Herzenslust. Hilla machte große Sträuße davon. Ehesie nach Hause zurückgekommen war, ließen die schon verblühtenBlumen ihre Kelche auf die verwelkten Stengel hängen. Siestreute sie in den Bach und verfolgte die kleine Flotte derzarten Blumenblätter, wie sie zwischen hohen Gräsern, Schilfund Brennesselbüschen dahintrieb, mit ihren Blicken solangesie konnte. Eine andere Freude bot zu ihrer Jahreszeit dasSammeln der Erdäpfelfrüchte. Diese runden, grünen Bällchenließen sich auf die Spitze einer Gerte spießen, und es kamdarauf an, loer mit einer geschickten und kräftigen Arm-bewegung die seinen am weitesten schleudern konnte. Warensie wieder zu Hause, so zog die Mutter ihnen die Strümpfeaus, und sie mußten die Kuh hüten.Schon webte der Abendnebel. Unter den Zitterpappelnwechselten Gesänge. Die Hirten riefen einander an, mitihren Stimmen oder mit dem Horn. Und diese tiefen,schwermütigen Töne mischten sich im strahlenden Untergangder Sonne mit dem langgezogenen Gebrüll des Weideviehes.Wenn das Gestirn, bevor es unter dem Horizont ver-losch, in violetten Tönen zerrann, zündeten Hilla mit denanderen Hirten, die nackten Füße vom Abcndtau benetzt, einFeuer aus welken Blättern an und rösteten sich, drum herumkauernd, Bataten. Dabei überraschte sie der Abend und blähtedie Backen, die knatternde Glut zu schüren. Der Angelusläutete. Man mutzte ins Dorf zurücklehren, mit Gertenhicbendie Herde vor sich hertreibend.Mittlerweile waren Aure, Florine und Palmyre heran-gewachsen. Die beiden älteren mußten mit an die Arbeitheran.Sie lernten Papierblumen machen, Kindermäntel undDeckbetten austrennen, im Viereck die Fäden verschiedener be-liebter Häkelmuster zusammenfügen, später auf der MaschineLederhandschuhe nähen.(Forts, folgt.)