Nr. 211.- 1915.Unterhaltungsblatt öes VorwärtsZltilslllg, 1�. Atplmber.Weißrußland.ILDie ivirtschaftlicken und politischen Bedingungen, unter denensich das Leben des weijzrusftschen Volkes gestaltete, das soziale Joch,das auf seinem Kern— der Bauernmasse— schwer lastete, habenes bewirkt, dah es hier lange Zeil an jeglichem nationalen Selbst»bewußtsein fehlte. Der entrechtete und mißachtete Weißrusse be-trachtete sich als ein niedrigeres Wesen, schämte sich all' dessen, wasihn von den„Herren" unterschied, verachtete seine„rohe",„bäuer-liche" Sprache und verleugnete sie. Und wenn diese Sprache so-wie die eigenartigen Volkssitten dessenungeachtet sich be-währt haben, so bedurfte es jedoch eines starken Stoßes vonaußen her, um eine nationale Wiedergeburt der Weißrussen hervor-zubringen. Diese Rolle kam eben der russischen Befreiungs-beweg ung zu.Freilich fehlte e§ auch vor der Revolution von 1908 nicht anVersuche», die seit Jahrhunderten verstummte weißrussische Literaturzu neuem Leben zu erwecken. Vom Ende des 18. Jahrhunderts anerscheinen in der Volkssprache verschiedenartige Schöpfungen, dieaber erst unter der talentvollen Feder des ersten bedeutendenwcißrussischen Schriflsiellers V i n c e n z Dunin» M a r c i n-k i w i c z ein wahrhaft künstlerisches Gepräge erhalten. Seine Werkewurden in einer kürzeren Spanne Zeit, in den ersten„liberalen"RegierungSjahren des Zaren Alexander II. herausgegeben, als eserlaubt wurde, Bücher in weißrussischer Sprache zu drucken, weilman eben damit die Weißrussen zu ködern hoffte, um sie gegen denpolnischen Aufstand<1863—64) auszuspielen. Diese kluge Berechnungwurde ober zuschanden; so hat z. B. Marcinkiewicz, statt den„Zaren-Befreier" zu verherrlichen, die größte polnische National-dichtung, den„Poii Tadeusz" von Mickiewicz ins Weißrussischeübertragen; die Uebersetzung ist jedoch gleich nach ihrem Erscheinenvon der Zensur konfisziert worden. Auch die polnischen DichterS y r a k o m l a und Korotynski bedienten sich der weißrussi-schen Sprache in ihren Dichtungen. Es wurde denn auch nach derbarbarischen Erdrosselung des polnischen Ausstandes wieder verboten,irgend etwas, seien es auch Gebetbücher und Katechismen, in derweißrussischen Sprache zu drucken. Der populäre Dichter FranzBokuszewicz wurde so gezwungen, seine Gedichtsammlungen,darunter auch die volkstümlichste, den„Weißrussischen Dudelsack"(„Bielaruskaja Dudka") im Auslande zu verlegen, von wo aus sienach Weißrußland eingeschmuggelt wurden.Erst im Jahre 1992 wird in Petersburg zur Propagierung derweißrussischen nationalen Wiedergeburt die„WeißrussischeB o lk s b i l d u n g s- G e s e l ls ch a f t" gegründet. Innerhalbdieser Organisation, die sich rein- kulturelle Aufgaben stellte, wurdebald eine andere Richtung bemerkbar, die diese Aufgaben mit derpolitischen Selbstbetätigung und dem wirtschaftlichenKampfe der breiten Volksmassen in Zusammenhang zubringen suchte.Diese radikale Richtung konstituierte sich bereils rm Jahre 1993 alsdie erste weißrussische politische Organisation, als illegaler„ W e i ß r u s s i s ch e r S o z i a I i st i s ch e r B u n d", der eine poli-tische und ökonomische Befreiung der weißrussischen arbeitendenMassen sowie eine national-kulturelle Autonomie allerdie nordwestlichen Gebiete des russischen Reiches bewohnenden Völkerzu seinem Programm machte.Die Revolution von 1993 hat diese vornehmlich aus Intelligenzbestehende agrar- sozialistische Gruppe den Volksmassen nähergebracht. Die weißrussischen Bauern und Arbeiter begannen sich ausGrund ihrer wirtschaftlichen Interessen selbständig zu organisieren.Es bildete sich der. W e i ß r u s s i s ch e Bauernbund", dieweißrussischen Bauern verlangten von der ersten Reichsduma dieAutonomie Weißrußlands mit einem Landtag in Wilna, sowie einnational-weißrussisches Schulwesen. Die revolutionäre Literatur er-reicht ihren Gipfel in der im Jahre 1996 in Wilna erscheinenden legalenweißrussischen Zeitung. Nasza D ola" sllnser LoS), die, um in gleicherWeise den katholischen und den orthodoxen Weißrussen zugänglichzu sein, in zwei Ausgaben<mit den lateinischen und russischenLettern) gedruckt wird. Leider erliegt sie aber nach kurzer Zeit,obwohl von ungeheurem Ersolg begleitet, der Willkür der zarischenVerwaltung. Ihr folgt aber bald daraus eine neue, die unier demNamen„Narza Niwa" l.Unser Ackerfeld") bis heute erscheint.In demselben Jahre wird in Petersburg ein weißrussischer Volks-Verlag gegründet, der eine Reihe Lehrbllchlein veröffentlicht.Inzwischen setzte die Konterrevolution ein und machteeine öffentliche Selbstbetätigung der breiten Massen unmöglich.Unter diesen Verbältnissen bekommt die kulturelle Richtung allmählichdie Oberhand. Die weißrussischen Volksschullehrer organisieren sichin einem.Weißrussischen L e h r e r v e r b a n d", es tvirdferner eine Reihe von halblegalen Privatschulen mit weißrussischerIlnierrichtssprache gegründet. Auf diesem Boden stellt man sich jetztden immer intensiveren Russifizierungsversuchcn entgegen, denn auchdie russischen Nationalisten geben besondere Volksblätter für die weiß-russischen Bauern heraus, obwohl sie in einem fort behaupten, daßdiese— echte Russen sind und keiner Nationalliteratur bedürfen, dasie ja die„herrliche russische Literatur" zur Verfügung haben.Diesen Versuchen zum Trotz schreitet die weißrussische Kultur-bewegung immer vorwärts, ihr Organ gewinnt an Verbreitung, inder weißrussischen Literatur treten neue, frische Kräfte hervor, vondenen nur die talentvollen Volksdichter Jakob Kolas— einVolkslehrer— und Janka Kupala— ein einfacher Arbeiter—genannt seien. Diese Bewegung, die vor dem Kriege in steter Eni-ivicklung begriffen war, wird gewiß auch die jetzigen schweren Zeitenüberdauern, die Lehren des Krieges aber dürften das politischeBewußtsein bei den weißrussischen arbeitenden Massen kräftig erwecken.S. Rudnianski.kleines Zeuilleton.Künstlertheater:»König Salomo� von Ernst haröt.Nicht in Hardts preisgekröntem, berühmt gewordenen„Tantris",wohl aber in seiner„Gudrun" schien sich ein entschiedenes drama-liicheS Talent anzukünden. Dort hatte er nur einen lyrisch-balladen-haften Arabeskenschmuck um die alle Tristansage gewunden, doch inder„Gudrun" war die Heldin mit eigenem Auge gesehen, zu einemneuen eigenartigen Typus spröden und heldenmütigen Mädchen-stolzes ausgestaltet, der durch die freie Umformung der epischenUeberlieferung ein auch dramatisch äußerst wirksames Relief erhielt.Man hatte den Eindruck eines dichterischen Willens, der was zusagen hatte und dessen Intentionen eine bildhaste, bühnenmäßigePhantasie zur Seite stand. Im„König Salomo" ist nichts der-gleichen. Das Schauspiel bat eine nur mit ganz äußerlicher, lang-weiliger Theatralik aufgeputzte Leere, eine forcierte Ummalung, wiesie ähnlich schon in der Koslümkomödie„Gertraude" und„Schirin"hervortrat.Im Buch der Könige wird erzählt, daß der achtzigjährigeDavid das«iechtuin seines Alters durch Abisag von Sunem, einjugendschönes Mädchen, aufzufrischen suchte, und daß Salomo,sein jüngster Sohn, den er unter Uebergehung des älteren,des aufrührerischen Adonai zum Erben eingese�t, den Bruder,als derselbe Abisag zum Weib begehrte, töten Ireß. Aus diesenBestandteilen— hat der Autor kalkuliert— müßte, wenn man beiSalomo, wie naheliegend, als das Motiv der Tat eigene eifersüchtigeVerliebtheit in das Mädchen unterstellt, eine reichliche Effekt- undBombenszene zu destillieren sein. Man lasse beide Söhne, die umdie Gunst der Schönen werben, im Schlafgemach David! zugegensein, als Abisag, die ihr Herz schon Salomo geschenkt hat, zumDienst des Kranken herbeigeführt wird; lasse den Vater vor Salomossehenden Augen in ihrem Schöße ruhen und sterbend in jäh er-wachler Eifersucht jeden feierlich verfluchen, der Abisag in Zukunft jeberühren werde— was will man mehr? Wie steht der jungeMann nun da? Was nützt es ihm, daß er die Firma erhält, wenner auf sie, die Einzige, verzichten muß? Es fehlt dann bloß nochder Schlußakt. Aber auch dafür ist Rat zu schaffen. War Salomonicht auch der weise Salomo? Was also einfacher, als ihn, nach-dem die Schöne infolge jenes auf ewig trennenden FluchsSelbstmord verübt hat und der brüderliche Rivale um-gebracht ist, im Glänze einer neugebackenen Weisheit, dieaus dem großen Unglück in der Liebe aufgegangen,auf der Bühne zu präsentieren? Hoheitsvoll begibt er sich nachseiner Krönung schnurstracks ins Burgverließ zu den Gefangenen.überliefert einige dem Schaffott, läßt andere laufen und fällt vorjenen beiden biblischen Müllern, die miteinander streiten, welchervon ihnen das neugeborene Kindlein zugehöre, den bekannten Salo-manischen Schiedsspruch.Auch eine tadellose Aufführung— die des Künstlertheaters,von Eloesser inszeniert— litt vielfach unter starker Undeutlichkeitdes Deklamierens— hätte dem verstiegenen Schwulst des Ganzennichts abgewinnen können. Die Hauptrollen lagen in den Händenvon Adolf Klein<David>, Theodor LooS(Salomo) und FräuleinBinder(Abisag). Der famose Schlafstilbenakt brachte es talsächlichzu erheblichem Applaus.__Wie englische Kriegsbilöer entstehen.Im Berner„Bund" entwirst der militärische Berichterstatter desBlattes an der italienischen Front, Oberleutnant HeS, die folgendereizende Charakteristik eines älteren Engländers, der für ein Londonerillustriertes Blatt als Zeichner tätig ist c„Er war als Kavallerie-Volonteur in Südafrika dabei gewesen, hatte im Sudan als ZeichnerKamel geritten, war im Schlitten über den Baikalsee und im Auto nachMulden gefahren; aber daß er mitten in Europa zu Fuß im Alpen-gebiet herumklettern sollte, paßte ihm absolut nicht. Da ich einmaleinen Einblick erhalten lvollte, wie das Kriegszeichnen vor sich geht,postierte ich mich plaudernd neben ihn und zeichnete mit. Als wirfertig waren, hatte ich eine kleine Skizze in Händen, die da? vomFeinde aus sichtbare originell gebaute HauS, das in den gesprenkeltenFarben der Felsen mimikryartig von den Soldaten bemalt wordenwar, wiedergab. Und er? Ein Skizzenblatt. Größe 13 X 13 om.mit den Umrissen des Hauses, Kreuz- und Querstriche, menschlicheFiguren, wie sie der kleine Moritz macht, Pfeile und Inschriften;Window, Gun, Bersaglieri. TrencheS usw." Oben und unten ver-schiedene Inhaltsangaben der Tätigkeit der Leute. Als der Zeichnermein erstauntes Gesicht sah. zeigte er mir noch eine Menge ähnlicherBlätter und erklärte mir, daß diese Zettel nach England wandern;dort würden sie zu verschiedenen, oft doppelseitigen Bildern verarbeitet.Der Künstler dort hat dann jedenfalls an Hand von Uniform-büchern, Photographien usw. das schöne Werk zu vollenden. Jetztbegreife ich endlich die schönen Bilder, auf denen Kavallerie überSlacheldraht springt und gleichzeitig von unten mit Maschinen-gewehren und von oben mit Haubitzen geschossen wird..."Leider kommen auch in deutschen illustrierten Zeitungen Ab-bildungen vor, die aus der bloßen Phantasie stammen.Notize».— Musikchronik. Professor Jrrgaug veranstaltet amDienstag, den 14. September, 8 Uhr, ein Domkonzert. Programm29 Pfennig.— Ersatz Wiener Volksbühne. Nach der Auflösungder Wiener Freien Volksbühne hat nunmehr die Zentrale für dasBildungSwesen der deutsch- österreichischen Sozialdemokratie eineTheaterabteilung errichtet, die gegen einen Monatsbeitragvon einer Krone den Mitgliedern eine Sonntaznachmittagvorstellungin der Neuen Wiener Bühne bietet.— Deutsches Theater in Belgien. Unter diesemNamen gründet im Anschluß an daZ von ihm geleitete Gastspiel inBelgien der Rhein-Mainische Verband für Volksbildung ein ständigesdeutsches Theater für Belgien. SS werden so den deutschen Besatzung-:-truppen auch in Zukunft gute deutsche Theateraufführungen gebotenwerden.— Gastspiel des Deutschen Theaters in Stock-Holm. Das Deutsche Theater wird unter Leitung von Max Rein-Hardt Ende Oktober eine Reihe klassischer Vorstellungen in derköniglichen Oper in Stockholm veranstalten.— Schutz französischer Kunstwerke. Wie die„Norddeutsche Allgem. Zeitung" in einer Erwiderung auf französische Ver-dächtigungen mitteilt,'sind drei Skulpturen des berühmten srau-zösischen Bildhauers Linier Richier, die sich in der Kriegs-zone befanden, des besseren Schutzes wegen nach Metz ge-bracht worden. Nach Schluß des Kriege? werden sie wiederzurückgegeben werden. Da? Hauptwerk RichierS, die Grablegung inSt. Mihiel, ist durch Sandiackwälle gegen französische Granaten ge-schützt. Auf Wunsch französischer Eigentümer sind ferner zahlreicheKunstgegenstände aus den Bezirken Longwy und Briey nach Metz inSchutzverwahrung gebracht worden.— Die Hysteriler der sran-zösischen Presse bezeichnen diese kulturerhaltendc Tätigkeit der„Bar-baren" natürlich als Diebstahl.— Wie alt werden die Eisenbahnfabrzeuge-Eine Statistik über das Alter der von den preußisch-hessischen Eisen-bahnen verwendeten Fahrzeuge ergab, daß die Lokomotiven im all-gemeinen nach 18 Jahren, die Personen- und Güterwagen mit24 Jahren ausgemustert werden.Rotes vlamenblut.Von Pierre B r o o d c o o r en?.Im Sommer waren sie von 4 Uhr morgens an bei derArbeit, im Winter von 6 Uhr an. Während der guten Jahres-zeit konnte der hohe Mittag draußen die Knospen schwellen,die Früchte reifen und den Weizen bräunen: sie hätten es nichtmal bemerkt, wenn die weiß auf das Dachstroh und die Lehm-wände herabglühende Hitze des Tages sie nicht genötigt hätte,die Fenster zu öffnen und daran zu denken, daß mit seinemheißen Odem der Erntemont gekommen war.Um 10 Uhr, zu Mittag, um 4 Uhr, dann am Abendschlangen sie ein Stück mit Schweineschmalz bestrichenes Brot oderein paar Kartoffeln, bei denen eine Schnitte fetten ameri-konischen Speckes lag. Da Hillas Magen sich gegen dieseNahrung gesträubt hatte, war sie auf einen perversen Appetitgekommen. Sie konnte die Kartoffeln nur stark gepfeffertessen. Einmal erbrach sie sich, da Mutter Citters aus Ver-sehen ihr Butterbrot mit Oel gestrichen hatte, was sie nichtvertragen konnte.Zur Sommerszeit legten sie sich schlafen, wenn sich derWirtschaftshof zur Ruhe begibt; im Winter konnte man sieoft noch um 11 Uhr an ihrer Maschine antreffen. Sie hattendrei Maschinen, die ihnen von der Unternehmerin geliehenivaren. Für Allsbesserungen kam diese selbst auf, doch Petro-leum, Nadeln und Zwirn mußten die Näherinnen sich selberbesorgen. Wenn jede von ihnen 15 Stunden arbeitete, sobewältigten sie ungefähr zwei Dutzend Handschuhe. Je nachQualität und guter Ausführung machten sie sich zusammen2,50 Frank bis 2,70 Frank den Tag. Sie hatten indessenauch viele Handschuhe mit Einsätzen zwischen den Fingern zubesorgen, wozu eine übrige Näharbeit von 72 Lcderdreieckenauf das Dutzend sich nötig machte, was ihnen nur 2 Sousmehr eintrug.Manchmal passierte auch ein Unglück. Wenn sie Oel aufdie Lampe goß. so verschüttete Mutter Citters ein paarTropfen davon auf die Platte einer der Maschinen. Und sahman dann die Paare, bevor man sie dem Magazin ablieferte,nochmal nach, so fand Hilla zu ihrem Schaden, daß eins vonden Paaren Flecke hatte. So gering der Schade war, so warein Paar zurückzubehalten und daS bedeutete zwei, dreiFrank, die der Arbeiterin auf das Konto gesetzt wurden. Sieiveinten dann vor Wut. Mehr als 30 Stunden hatten sieumsonst gearbeitet. Aber am Sonntag hatten sie den Trost,behandschuht zur großen Messe gehen zu können.Zwei, dreimal in der Woche begab Hilla sich zu derUnternehmerin ans dem Marktplatz von Nedcrbrakel.o Jahren mit einem Kapital vonAver schon lieh sie deren mehrDie Dame hatte vor 1523 Maschinen angefangen.als 100 aus und hatte sich zahlreiche Besitzungen angekauft,während ihre Arbeit lediglich darin bestand, als Vermittlerinzwischen den Brüsseler Fabrikanten und den Arbeiterinnendes Bezirkes zu dienen, ein Unternehmen, das kein Risiko einschloß.Ihr im Rokokostil gebautes Haus sah mit seiner Fassadenach dem Kirchenportal hinüber. Das Erdgeschoß war in zweiAbteilungen geteilt: Das Geschäft, das nebenbei einen Waren-kleinhandel betrieb, wo die Arbeiterinnen gegen einen guten Preissich den Vorrang streitig machten, das Wohlwollen der Dame zugewinnen; und im Cafs, wo die liberalen Honoratioren des Ortesdie Geivohnheit hatten, mittags ihr Appetitanregerchen zunehmen.Eine würdige Person, die Madame Hasewind! Dick undgesund, nicht zu glauben. Kein Handelszweig, aus dem sienicht ihren Vorteil zog. Sie lieferte Wein auf jede Nach-frage, verkaufte Tabak und Zigarren. Und nicht genug mitdiesen Geschäftszweigen, hatte sie auch noch einen Tuch- undStrumpfwarenhandel hinzugefügt.Das Jahr 19... war für sie im Kalender schwarz an-gestrichen. Von den Regengüssen eines rasenden Unwetters,das mehrere Tage andauerte, übermäßig angeschwollen, wardie Schwalm übergetreten und hatte ihr Heu überschwemmt,das der Wassermühle von Meganck, gegenüber trocknete.Außerdem waren die dreitausend Handschuhnäherinuendes Landes von Audenarde in einen Streik ein-getreten, hatten Meetings abgehalten, in denen wechselseitigsozialistische Redner lind christliche Führer das Wort er-griffen und syndikalistische Organisationen sowie Kollektiv-widerstand gegen die Unterdrückung der Arbeitgeber gepredigthatten. Die Pfarrer Beerblock und Schinkel suchten die Be-wegung zwar zu hemmen, doch sie mußten weichen und büßtenfür ein paar Monate ihr Ansehen und ihre Autorität bei demWagnis ein. Man mußte eine Lohnerhöhung von sechs Sousfür das Dutzend bewilligen. Zum Glück für die Unternehmerbeeilten sich die Arbeiterinnen, nachdem dies Ergebnis erzieltwar. die im Entstehen begriffenen Organisationen wieder auf-zulösen. Schon bei dem Meeting von Ncderbrakel, wo derPfarrer beinah verhauen worden war, hatten sich selbst dieErregtesten erschreckt angesehen, als von Beiträgen für dieGewerkschaftskasse in Form einer wöchentlichen Beisteuer von2 Sous vom Lohn die Rede gewesen war.Nach Hingang der Mutter Citters hatte Hilla die Nach-folge in der Wirtschaft übernommen. In den Zwischenpausenzwischen ihrer Näharbeit hatte sie die Strümpfe zu stopfen, Hosenund Röcke auszubessern und für das Mittagessen zu sorgengehabt. Immer alS die erste auf den Beinen, melkte sie dieKuh, gab ihr ein warmes Mahl und besorgte dann das Feder-> schlechtes.Vieh. Wenn Saucipanne und ihre Schwester außerdem ver-dricßlich, die Augen noch vom Schlaf geschwollen, aufstanden,war schon das Zimmer gefegt und das Frühstück stand bereit.Der harte Arbeitstag konnte beginnen.Sie lernte bis zu dem Tage, au dein Jannah. Aurä,Florine und Palmyrc sich tätig dem Beruf widmen konnten,nichts anderes kennen. Tann aber begann sie das nachzu-holen, was sie die„verlorene Zeit" nannte, alle ihre schönenVon der Arbeit in Anspruch genommenen Jugendjahre. Sicwar 27 Jahre alt. Es war in ihr ein Plötzlicher Geschmackan wilder Ausgelassenheit, ein Wille, da? Leben zu genießen.Zur Liebe geschaffen mit ihren breiten Hüften und ihrenfesten Brüsten, hatte sie von dem Tage an, wo das Ge-schlecht in ihr erivacht war, den Trieb in sich zurück-drängen, die roten Wallungen ihres Blutes unterdrückenmüssen. Das war nicht ohne Leid und Pein abgegangen.Im Frühling wurde sie von Schwindelanfällen überrascht.An strahlend heißen Sommertagen hatte sie sich oft einerdüsteren Traurigkeit hingegeben. Zuweilen erhob sie sich,ganz bleich, und stürzte in den Garten hinter der Hüttehinaus; und dort warf sie sich unter dem grünen durch dasLaub dringenden Lichtschein platt auf den Bauch in das dichte,fette Gras und iveinte, beide Fäuste vor die Augen gepreßt,heiße Tränen. Alles rings brauste, sang, sproßte um sie her.Wie sumniende Smaragdbällchcn rannten die dicken Fliegengegen die Baumstämme; die Hummeln dämmerten, trunken vonHonig und Licht, ini süßen Herzen der Petunien und in dengrellen Kelchen des Mohns. Die wilde Sonne traf mit ihrenStrahlen die Hecken und Wände, sprenkelte mit ihrem dionysischenGlanz die grellen Mauern des Waschhauses und der Scheuer.Eine Würze arbeitete in dem HumuS, schwellte die fauligenDiingerhaitfen und machte die stinkenden Jauchclöcher gären.Das Gcröchel der Tiere stieg auf mit dem Ruck der Dinge.ein fader Lufthauch, mit dem sich der Duft von Moschus undKrauseminze einte.Der Vater überwachte seilte Töchter nicht weiter. TerTod seiner Frau hatte ihm seine schöne Freiheit wieder-gegeben, der er am Tage ihrer Hochzeit hatte entsagenmüssen, und er machte in einer verspäteten Jugendanivandlinu,ausgiebigen Gebrauch von ihr. Sonntags gingen Hilla undihre Schtvestern ans, während er sich ohne Scham in denKneipen der Umgebung betrank. Es war dabei vereinbart,daß jedesmal zwei von ihnen zu Hause bleiben mußten.Die Liebe brachte Hilla nichts als Enttäuschungen undLeid. Doch nach Wochen der Enthaltsamkeit verführte sie dasFleisch uni so stärker zu Rückfällen. Eine neue Raserei be-mächtigtc sich ihrer, und sie erlag, ohne daß sie sich davonRechenschaft gab, den unwillkürlichen Gewalten ihres Ge-(Forts. folgt.)