Kr. 228.- 1915.
UnterhMungsblatt öes vorwärts
Dlellstag,28.Seplembtr.
Das völkergemifth öer Dalkanhalbinfel. Von Heinrich Tunow. II. Die im ersten Artikel geschilderte Rassen- und Völkermischung verhinderte denn auch, als sich im vorigen Jahrhundert verschiedene Balkannationen mit Unterstützung der europäischen Großmächte vov der Türkenherrschaft befreiten, die Herausbildung einheitlicher, in sich abgeschlossener Nationalstaaten. Während jeder dieser Staaten in sich fremde Volkselemente enthält, sind andererseits kleinere und größere Teile seiner Hauptnasionen außerhalb seiner Grenzen geblieben. Auch die letzten Balkankriege mit ihren neuen Land- eroberungen haben daran nichts geändert; sie haben im Gegenteil die nationale Zerrissenheit noch verschärft. Die verhältnismäßig größte nationale Einheitlichkeit besitzt der Bulgarenftaat; doch enthält auch er westlich vom unteren Ma- ritzaslutz und im nordöstlichen Küstengebiet beträchtliche osmanische (türkische) Elemente, während an seinem südlichen Küstensaum vielfach das Griechentum überwiegt. Zudem ist im nördlichen Teil des Landes, südlich der Donau , der mongolische Einschlag weit stärker als im südlichen. Andererseits leben groß« Teile des Bul - garentumS außerhalb der Staatsgrenze. So im südlichen und mitt» leren Rumänien , wo ganze Gegenden fast rein bulgarisch sind; selbst Bukarest hat bekanntlich sein eigenes bulgarisches Viertel (Jancu). Ferner in der Tabrudscha, die obgleich politisch zu Ru- mänien gehörend, im südlichen Teil größtenteils von Bulgaren und in zweiter Reihe von Osmanen bevölkert ist: nur im Norden tritt das rumänische Element stärker hervor. Selbst in Bessarabien findet man ausgedehnte bulgarisch« Kolonien. Die bulgarische Be- völkerung dieses Gebietes wird auf 70 Ol» bis 80 000 Köpfe geschätzt. Ebenso haben sich in Südungarn, im Banat , beträchtliche Bul - garengruppen niedergelassen, vielleicht 25 000 bis 30 000 Personen. Vor allem aber hat das heute zu Serbien gehörende Mazedonien bis westwärts zum Ochrida-See«ine fast rein bulgarische Bevöl- kerung, wenn auch in einzelnen Gegenden sich in diese Bevölke- rungsmasse inselartig griechische und besonders albanische Nieder- laffungen eingeschoben haben. Vornehmlich haben die Albanesen sich in den verschiedenen fruchtbaren Gebirgstälern am oberen Wardar und an der oberen Morawa eingenistet. Zumeist gehören die Bulgaren der griechisch-katholischen Kirche an. Früher unter der türkischen Herrschaft unterstanden sie dem griechischen Patriarchen in Konstantinopel ; als aber die neu- bulgarische Nationalbcwegung in der Mitte des vorigen Jahr- Hunderts mehr und mehr an Boden gctvann, trachteten ihre Leiter danach, Bulgarien auch in religiöser Hinsicht selbständig zu machen. Die Bulgaren lösten sich von dem Konstantinopeler Patriarchat los und schufen sich(1873) eine eigene nationale Kirche mit einem bulgarischen Exarchat, sowie eine bulgarisch« Synode für alle bul- garischen Gruppen auf der Balkanhalbinsel . Neben dieser National- kirche zählt der Islam in Bulgarien noch viele Bekenner. Nahezu eine Million der heutigen bulgarischen Staatsangehörigen dürfte der Lehre Mohammeds anhängen, denn nicht nur die im bulgari - schen Staatsgelnet verbliebenen Osmanen sind durchweg Jslamitcn. auch manche reine Bulgaren sind früher aus politischen und Wirt- schaftlichen Gründen zum MohammodanismuS übergetreten. Zur römischen Kirche gehöre« im bulgarischen Staatsgebiet nur viel- leicht 30 000 Personen. Dagegen bekennen sich die bulgarischen Kolonien in Ungarn meist zum römischen Katholizismus. Noch weit mehr als die Bulgaren sind die Rumänen zer- splittert, die au» den Nachkommen der Vlachen(Walachen) und der Moldauer bestehen. Ihre Gesamtzahl wird auf mehr als 10 Mil- lionen geschätzt, von denen etwa 5)4 Millionen in Rumänien selbst, über 2% Millionen in Ungarn , eine viertel Million in der Buko- wina und-«ngefähr eine Million- in Bessarabien leben. Sie bilden also keineswegs, wie oft in der Tagespresse angegeben wird, die große Mehrheit in beiden letztgenannten Gebieten. In Bessarabien stellen die Rumänen(meist Moldauer) nur ungefähr die Hälft« der Bevölkerung, in der Bukowina gar nur ein Drittel. Die von den Rumänen geforderte Angliederung jener Gebiete an das rumänische Königreich würde demnach nichts anderes bedeuten, als Unter- drückung der Nationalität der einen Bevölkerungshälfte zugunsten der anderen. Auch im Nordosten Serbiens findet man sehr viele Rumänen. In der sogenannten serbischen Kraina bilden sie die Mehrheit; und selbst in Südbulgarien, Mazedonien , Thessalien , EpiruS und Albanien ziehen zahlreiche Viehzucht treibende rumänische Wander- Horden umher. Sie führen jedoch dort meist nicht den Namen Rumänen, sondern werden von der eingesessenen Bevölkerung spöttisch Crnovunci(schwarzwollige) Zinzaren(Leute, die statt c stsch) ein z aussprechen). Vlasi(Walachen), Kutzovlasi(hinkende
Walachen), Vlahopimeni, Kolbani usw. genannt. Alle diese ver- sprengten Rumänengruppen sprechen rumänisch, wenn auch ver- schieden« Mundarten. Die meisten Rumänen gehören zur griechi- schen Kirche, an deren Spitze in Rumänien ein heiliger Shnod mit zwei Metropoliten(Erzbischöfen) und sechs Bischöfen steht, ein anderer, weit kleinerer Teil ist römisch-katholisch . Daneben spielt in Rumänien das Judentum(mehr als eine viertel Million Köpfe) eine bedeutende Rolle. Von den serbischen Südslawen, meist ethnographisch Serba - kroaten genannt, da man zwei Hauptzweige: die eigentlichen Ser- ben und die Kroaten unterscheidet, ist nur etwas mehr als ein Drittel zu eigener selbständiger Staatenbildung gelangt— im heutigen Serbien , das ungefähr 3 Millionen Serben umfaßt, und in Montenegro()4 Million Serben). Die übrigen Südslawen leben in Kroatien , Bosnien , der Herzegowina, Dalmatien . Selbst die Bevölkerung Jstriens besteht zu ungefähr zwei Dritteln aus Serbokroaten. Die Dialektverschiedenheiten zwischen den einzelnen Gruppen sind verhältnismäßig gering, um so mehr sind diese aber durch ihre Lebensgcwohnheiten, Religion und Schrift getrennt. Die Serben bekennen sich meist zur griechisch-orthodoxen, die Kroaten zur römisch-katholischen Kirche , in den südlichen Gebieten, be- sonders in Bosnien und der Herzegowina, auch teilweise(mehr als eine halbe Million) zum Islam. Selbst die Albanesen, eine Mischrasse aus den Nachkommen der alten Illyrer, Rumänen, Osmanen und Slawen, bewohnen nicht nur das heutige Albanien . Einzelne Teile haben sich mehr- fach in Mazedonien und in Griechenland eingeschoben, bis hin- unter zum Peloponnes . Die Landbevölkerung von Megara, Ar- golis und Attila besteht z. B. größtenteils aus Albanesen. Und auch dieser Volksstamm ist nichts Einheitliches, sogar nicht in Albanien stlbst. Die Albanesen zerfallen in eine Reihe Stämme und Geschlechtsgenossenschaften, die sich bis in die jüngste Zeit oft blutig genug befehdet haben, zumal ein Teil der griechisch-ortho- doxcn, ein anderer der römisch-katholischen Kirche angehört, die Hauptmasse sich aber zum Islam bekennt. Wie man sieht: überall ein buntes Durcheinandergcwürfel der Rassen und Volksstämme, überall volkliche und religiöse Verschieden- heiten, zu denen sich noch vielfach allerlei wirtschaftliche Gegensätze gesellen, die hier, da dazu mehrere besondere Artikel nötig wären, nicht geschildert werden können. Wer diese Verhältnisse unbefangen, ohne Rücksicht auf verschrobene Nationalitätstheorien, prüft, der kommt bald zur Erkenntnis, daß das Streben der heutigen Balkan - staaten, sogenannte Nationalstaaten zu bilden und sich die außer- halb ihrer Grenzen lebenden Volksteile anzugliedern, immer wieder zu neuen blutigen Konflikten führen muß, zumal jeder dieser Staaten wohl die zu andern Staatsgebieten gehörenden abgesprengten Gruppen eigener Nationalität annektieren möchte, aber nicht die geringste Neigung verspürt, die in seinem Gebiet vorhandenen fremden Volksbestandteile freizugeben, sondern ge- waltsam deren Nationalitäten zu unterdrücken sucht. Der immer wieder den Balkanvölkern erteilte Rat, sich doch zu verständigen und einen Balkanstaatenbund zu bilden, ist sicher gut gemeint; aber eine große Frage ist, ob sich dieser wohlgemeinte Rat in An- betracht aller der aus der geschichtlichen Entwickelung hervorgegan- genen verschiedenartigen nationalen Gegensätze ausfuhren läßt. Wahrscheinlicher ist, daß auf dem Balkan der Hader andauern wird, bis auch dort das Recht des Stärkeren siegt und die Staatsgrenzen festsetzt._ kleines Feuilleton. Komööienhaus:»Die 5rau von vierzig �ahren�. Schauspiel von Sil-Bara. Im allgemeinsten Umrisse gesehen, behandelt das Schauspiel des österreichischen Verfassers das nämliche Sujet wie Kysers im Vor- jähre aufgeführte„Erziehung zur Liebe": das Verhältnis einer gereiften, in ihrer Reife immer noch reizvollen Frau zu einem jungen Burschen. Aber während bei Khser, nicht durchweg, so doch in einer ganzen Reihe von Szenen, ein starker Strom lebendiger Empfindung rauscht, schleppt sich der Vorgang hier im dürren Rahmen eines billig konstruierten Schemas fort. Anschauung und Phantasie gehen bei der Abwickelung des Programms leer aus. Dort gärte im Ge- blüt des jugendlichen Schwärmers ein ungebärdig kraftvoller Ueber- schwang und eine Sehnsucht, die für die Zukunft einen Mann, der eigene Wege gehen wird, erwarten ließen und darum interessierten. Der Zwanzigjährige Sil-Varas aber ist nur ein junger Herr von elegantem Aeützeren. Er pendelt zwischen süßer Zärtlichkeit und Brutalitäten, ein armseliger Patron, bestimmt sein Leben lang am Gängelbande hübscher Frauen und
Mädchen herzulausen. In novellistischer Form hätte der Kursus, den der Verfasser ihm bei der schönen Tante zudiktiert, sich vielleicht ganz nett erzählen lassen. Da konnten Uebergänge, Zwischen- glieder, vermittelnde Nuancen eingeschalret werden, die� der Geschichte einen Anstrich wenigstens der Möglichkeit gegeben hätten. In der szenisch geschlossenen Zusammendrängung, die die Bühne erheischt, verrenkt sich indes so ziemlich alles zu krasser Unnatur, die auch die zart diskrete Kunst Helene F e h d- m e r s nur stellenweise zu mildern vermochte. Mit welcher unwahr- scheinlich groben Nacktheit ist beispielsweise � in der Szene, die die beiden einander in die Arme treibt, die Angst der ledigen Frau, er könne an käufliche Geschöpfe geraten, ausgesprochen! Dabei soll sie ein Wesen von höchstem Feingefühl sein. Und dieses Unvermögen. andeutend zu entwickeln, dies Entgleisen ins schreiend Grelle geht durch die parfümierte Atmosphäre des ganzen Stückes. Darum schließt sich nach einem Weltstreit zärtlichster Beteue- rungen die Tür, läßt sich der Jüngling schon durch eine andere Vierzigjährige, eine unausstehliche Person, zu einem Kusse provo- zieren. Die edle Patronin tritt im selben Augenblick ins Zimmer, erwacht aus ihrem schmerzlich kurzen Glückstraum, und schritt sofort zu einer jugendschöncn Nichte in den Gedanken, sie mit dem un- getreuen Lieblinge baldmöglichst zu verheiraten. Daß die Nach- folgerin sich als wahres Schreckbild von süffisantem Backsischtum ein- führt, tut nach des Autors Ratschluß dem Plan und der ersorder- lichen Rührung keinen Abbruch. Die Darstellung durch Agda Nilsse n unterstrich noch doppelt das naseweis Fatale des RettungscngelS. In Herrn Kastner hatte Frau Fehdmers seines Spiel einen intelligenten und gut aus- schauenden Partner, der in den verzwicktesten Situationen noch eine Tonart unbefangener Natürlichkeit behielt. üt.
Künstler-Theater: Zwischenspiel von Schnitzler. Offenbar aus dem Bestreben, etwas Leichtes und doch Literarisches zu geben, das zugleich als geistreiche Plauderei über ein immerhin interessantes Thema(mit Beispielen) gelten könnte, hat das Künstler- Theater Schnitzlers nun zehn Jahre altes„Zwischenspiel" neu einstudiert. Indes das„Zwischenspiel" erwies� sich wirk- lich als Zwischenspiel, das allein nicht tragkräftig genug ist, um einen Theaterabend zu erfüllen. Diese Künstlerehe, die auf dem Umwege üher eine Freundschaftsepoche mit gegenseitigen Frei- heiten, in dem Augenblick wirklich zergeht, in dem der Mann sie durch neuen'Licbesrausch zu befestigen glaubt, ist weder menschlich bedeutend, noch in ihren Trägern(vor allein in dem Mann nicht) zu wirklich interessierenden Persönlichkeiten ausgestaltet. Möglich, daß Schauspieler wie Kainz und Bassermann dem Kapell- meister Amadeus vorübergehend zum Leben zu verhelfen verstanden, Herr Götz zeigte uns aber nur einen zappeligen Jüngling. Seine Partnerin Fr. Lina Lossen lich als der Künstlersgattin alle vornehme Fraulichkeit, sie hatte einen wunderbaren Moment, da sie von der Lockung der Freiheit schwärmte. Aber eine leichtere Note hätte der Komödie vielleicht mehr geholfen. Dem Erklärer de? Stückes, dem geistreichelnden Vertrauten des Amadeus, wollte Herr F o r e st neue Reize abgewinnen. Er übersetzte ihn ins ruppige Galizische oder Slowinische und vertrieb den Teufel einer ab- genutzten Salonfigur durch den Beelzebub eines Bohömelackls.
Stuttgarter Kinöerbrief.., Heute haben wir zum erstenmal Flieger, und die haben Bomben herunlergeworfen und wir in der Schule haben sie gehört. Dann hat unsere Lehrerin gesagt, wir sollen unter die Schulbänke herunterschlupfen und die Lehrerin hat sich in den Kasten, wo sie Kleider darin hotte, versteckt. Aber die Kinder haben alle geweint. Bloß drei Kinder haben nicht geweint. Und ich. Die haben gesagt: O Mamale, o Mamale. Ich habe Kopfweb bekommen, mein Herz hat so arg geklopft und zittern Hab ich auch müssen, aber nicht ge- weint. Dann haben die Kinder gebetet und die Lehrerin auch. Ich wollte auch, aber ich konnte doch keines. Wir sind alle gesuitd ge- blieben, Großmutter und Großvater auch. Als ich zum Essen heim- kam, war ich noch weiß vor Angst, daß Großmutter, die sich doch nicht schnell verstecken kann und nicht bücken und unter das Sofa und unter alles zu dick ist, schon tot wäre,...
Rotize». — Die Lessing-Hochschule veröffentlicht soeben das Herbstverzeichnis der ab 11. Oktober beginnenden Vorlesungen. Ausführliche Programme kostenfrei in Buchhandlungen, Bibliotheken, Lesehallen usw. sowie durch die Leitung, Kurfürstendamm 16.
Rotes vlamenblut. 33� Von Pierre Broodcoorens . Er hatte sie ergriffen und hob sie unwiderstehlich vom Boden empor. Sie fühlte, wie sie in seinen Armen leicht wog wie eine Feder. Und erschreckt, medusenstarr betrachtete sie dieses schreckliche, dicht an das ihrige geschmiegte Gesicht mit seiner furchtbaren, zornig schmerzlichen Verzerrung. „Du könntest mich verlassen, könntest von mir gehen?" schluchzte er. indem er sie schüttelte.„Eher erwürgte ich Dich I Du bist das einzige Weib, das ich im Herzen getragen habe. Versteh wohl: ich ertrüg' es nicht, daß Dich ein anderer hätte. Es würde ihm und Dir ans Leben gehen." Sie hatte ein gezwungenes Lachen. »Esel! nur gut, daß ich das weiß." „Gut. Du weißt es", versetzte er, noch murrend, indem er sie, die von seiner Umarmung halbtot war, wieder auf den Erdboden stellte. In der Tiefe des Gartens rief eine spitze Stimme: „Schwarze I" „Jannah", flüsterte sie. Tatsächlich hatte die Schwester, von der langen Dauer der Unterhaltung beunruhigt, sich aufgnmacht, das Liebespaar zu suchen. Hilla rief: „Ich komme!" „Gut, es eilt nicht", antwortete die andere beruhigt und entfernte sich wieder. „Das sollst Du wissen", sagte Flohil noch mit tiefer Stimme,„ich bin nicht so einer, den man auf die Probe stellt. Es gibt Dinge, die man mir nicht bieten darf. Ich würde mich nicht mehr kennen. Mein„Ohr"') würde sich nur hier in meiner Tasche öffnen." Er schickte sich an. es hervorzuziehen. Sie sprang ihm an den Hals. „Sei doch still l Ich gehöre ja Dir." „Für immer?" ") Wohl ein Wortspiel.„EusUche" bedeutet die Eustachische Röbre un Ohr und zugleich ein Handmeffer, Taschenmesser mit Holz- gnff.«nm. d. Ueb.
„Für immer!" Es blieb ein kurzes, drückendes Schweigen. Mit einem Male aber fielen sie sich einer dem andern tn die Arme und drückten einander lange, wortlos. Mit einem wilden Stoß traf der Wind die mächtigen Zweige der Apfelbäume. 18. Gegen den 15. Dezember hin hatte es Regengüsse gegeben. Sie hielten ununterbrochen zehn Wochen lang an. Der durch- träntte Erdboden vermochte das Wasser schließlich nicht mehr aufzunehmen. In gelben Gießbächen stürzte es die Abhänge herab, machte in den Gründen die Gräben anschwellen. Die Schwalm trat über ihre Ufer, überschwemmte die Wiesen. Die ganze Gegend war unter dem furchtbaren Grau des Himmels, von dem es unaufhörlich Katarakte goß, ein ein- ziger endloser See. Eine Anzahl Häuser wurden von der Schwalm fortgerissen; und mitten in der Nacht mußten sich die Bauern, auf Flößen und in Fässern zusammengedrängt, zwischen die Pappeln retten. Man erfuhr, daß die Dcndre unterhalb Ninove übergetreten war. Das Gelände sank, Häuser stürzten zusammen. Aber das war nur der Vorbote eines größeren Unglücks. Die große Scheide selbst brach mit einer furcht- baren Flut durch die Dünen. Tausende von Hektaren des Polders und der Landes von Wars wurden überschlvemmt. Die Zeitungen veröffentlichten die Listen der Opfer. Jäh änderte sich dann das Wetter. Es gab einen Graus wie den der Sintflut. Ein Nordwestwind hatte sich erhoben und machte die Luft riesig erstarren. Und der Schnee voll- endete das Werk des endlosen Platzregens. Er kam in Windhosen, mit einem düsteren Geheul. Von Saint-Felix bis Mardi-Gras wirbelten ununterbrochen drei Tage lang diese Lawinen und durchfegten schief die Lust. Mittwoch früh erwachte die Erde unter einer weichen Schnee- decke. Ein erschrecklicher Frost war eingetreten. Es wehte eine schneidend eisige Brise. Der frei gewordene Himmel zeigte in seinem bleichen, starren Azur, den der rosige Schimmer des Sonnenaufgangs nicht erwärmen konnte, eine kristallisch kalte Klarheit. Und wenn die orangefarbene Scheibe der endlich aufgegangenen Sonne ihren am Horizont von den roten Dünsten bedrängten Bogen hindurchzeichnete, zitterte über dem Elend der Welt ein Glanz.
Ins Unendliche dehnte sich die Ebene, in eine einen halben Meter dicke Schneedecke gehüllt. Ein unsägliches Schweigen lastete, wie in der eisigen Oede des Poles. Nichts mehr schien unter dieser von einem goldigen Staub funkelnden Eispracht zu leben. Und die bis an die Ränder bedeckten Wege verschwanden, daß nur hier und da die Bäume ihre hohen, weißen und tintenschwarzcn Kronen hervortreten ließen. Es geschah, daß in dieser Hcrmelinpracht aus Opal und Kupfer eines Sonnabends vormittags die Hochzeit von Souhc Flohil und Hilla Cittcrs die Kirche verließ, um nach dem Bahnhof zu gehen, von wo der 7Vz-Uhr-Zug sie nach Brüssel führte. Am Abend vorher hatte der zweite Schöffe, seines Zeichens ein Sattler, die Ziviltrauung vollzogen. Er verttat seinen Kollegen und den Bürgermeister, die unpäßlich waren. Der Stadtvater hatte eins zu viel hinter die Binde gegossen. Und da es die erste Trauung war, die er vollzog, stammelte er hochrot und schwitzend den Text, eine abgenutzte Schärpe um den Schmcrbauch. Ohne weitere Umstände hatte er seine Leute nach der Feierlichkeit zum Gasthaus„Zum Brumnibär" geführt. Ganz stolz auf seinen Ruhm hatte er die Schärpe umbehalten. Man beglückwünschte ihn. Er bezahlte aus- gicbig die Zeche, aber als irgendwer aus Bosheit hinsichtlich seiner Fähigkeit einen Zweifel geäußert hatte, benutzte er die günstige Gelegenheit und wettete eine Lage Schnaps, daß er „die Sache" so richtig wie nur möglich vortragen würde. Man lief und holte aus der Maine das Gesetzbuch herbei. Er setzte sich an den Tisch und erregte, indem er die gesctz- lichen Formeln noch einmal vortrug, einen Spaß und ein Gelächter, an dem sich sogar die Aufwartung des Gasthauses beteiligte. Souhe Flohil und die andern lachten noch am nächsten Tage über die Sache. Das Städtchen schien unter seiner Schneehülle in einen Abgrund des Schweigens versunken. Hier und da blinzelte ein Licht und hellte das fahle Leichentuch der Dinge. Der Tag war noch nicht angebrochen. Unbestimmte Lichter durch- zitterten den dichten Nebel. Und dort, wo der Schnee seine durch den Frost erstarrten Kristalle nicht aufgehängt hatte, spannten Graupeln ihre Netze, die seiner waren als Spitzen- Werk. (Forts, folgt.)