Nr. 224.- 1915. Unterhaltungsblatt öes vorwärts Mittwoch, 29. September. Die Nutter. In den Versammlungen sah man regelmäßig ein alten, grauen Mann. Er war sehr ärmlich, aber' immer sauber gekleidet. Meist war er der Erste, der kam, sein Wahlvereinsbuch in Ordnung brachte, sich dann zu hinterst in eine Ecke setzte und aufmerksam dem Verlauf der Versammlung folgte. Kein Wort des Vortrages entging ihm. Nie freilich ergriff er das Wort. Still saß er da und still ging er nach Schluß der Versammlung weg. Der alle Genosse erregle meine be» sondere Aufmerksamkeit und so suchte ich eines Tages mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er gab mir gerne auf meine Fragen Antwort. Vor fünf Jahren war er aus dem Osten nach Berlin gekommen. Ein fallender Baum halte ihn beim Schlagen im Gulswalde getroffen und das Rück- grar verletzt, so daß er jetzt nur gebeugt und mühsam am Stock zu gehen vermochte. Die Unfallrente, die er zuerst erhielt, betrug 66 vom Hundert. Er war völlig arbeitsunfähig, nur so kleine Handreichungen konnte er leisten. Auf dem Gutshofe hatte man ihn nach seinem Unfall nicht besonders behandelt. Er war überflüssig geworden. Der Herr sah ihn als Simulanten an und sorgte dafür, daß er immer wieder Untersuchungen auf seine Arbeitsfähigkeit unterzogen wurde, und in der Tat, eines Tages wurde dem alten Reinhard die Rente um einige Prozent gekürzt. War es ihm zuerst schon schwer gewesen, durchzukommen seine Frau war krank und lag zu Bett schon seit Jahren so war es ihm jetzt ganz unmöglich. Er versuchte es ja da und dort anzufassen; aber, was er leisten konnte, war gering, und ebenso und noch geringer als die Leistungen war die Entlohnung dafür. Da starb seine Frau. Die Tochler, die mit ihrem Manne in einem Berliner Vorort lebte, kam zur Beerdigung der Mutter und nahm den Vater nachher mit. So kam llteinhold nach unserem Orte. Der Schwiegersohn war Genosse und brachte ihn mit zu Versammlungen, und da wurde der alte Reinhard auch bald Genosse. Wie er es meinte, soll er selbst erzählen: Ich versteh' das nicht mehr so recht, was man mit der Re- gierung machen will. Dazu ist»rein Kopf zu all, und es steckt vielleicht auch von dem Alten, was sie hineingepfropft haben, noch zu viel darin. Auch mit den Umänderungen sonst weiß ich nicht viel mehr anzufangen. Daß es schlecht mit uns Arbeitern steht, ob wir draußen auf dem Lande arbeiten oder hier in den Fabriken, das weiß ich, und daß es besser werden kann und muß, das versteh' ich wohl. Nur so im einzelnen kann ich es mir nicht recht klar machen, wie es gehen soll. Aber daß es gut ist. das begreif' ich. Ihr wollt das Gute. Denn ihr seid gut, schon weil ihr den Arbeitern eine große Hoffnung gebt und seinem Leben so erwas, waS erst Sinn hineinbringr. Ich weiß nicht, wie ich das so recht sagen soll. Am besten begreis' ich, wenn ihr sagt, daß wir Armen und die Arbeitsleut' zusammenhalten müssen, daß keiner des anderen Teufel sein soll, daß einer für alle und alle für den einen eintreten sollen und daß wir einander helfen und unterstützen sollen in aller Not und in unserem Elend. Weil ich das begreif', deshalb bin ich bei euch und ich niöchl' nur, daß ich der Sach�was tun könnt'." So erklärte der alte Reinhard seinen Sozialismus, und ich kann nicht sagen, daß der mir schlecht gefiel. Reinhards Schwiegersohn nahm eine Stelle iin Rheinland an und zog mit seiner Familie vom Orte weg. Der alte Reinhard war heimisch geworden und wollte nicht mit. Ein Genosse namens Staps bot ihin bei sich ein linterkommen an. Das wurde angenommen unter der Bedingung, daß er alles bezahlen könne. Der Reinhard gab dem StapS seine Rente für Kost und Schlaf- stelle. Hier und da verdiente er noch durch eine gelegentliche Hilfe- leistung einige Pfennige. So hatte er immer ein kleines Taschen- geld, mit dem er sorgfältig umging. In Staps' Familie traf er gewohnte Verhältnisse. Frau StapS lag schwer an der Proletarier- kratikheit danieder. Staps war den Tag über aus der Arbeit. Da sah es denn im Haushalt nicht gerade zum besten aus. Die drei Kinder wuchsen so auf wie Blumen am Straßengraben. Wenn StapS abends nach Hause kam, räumte er wohl auf, auch seine Frau tat ihr Bestes. Aber was konnte sie bei ihrer Schwäche tun? Da griff der alte Reinhard ein. Keine acht Tage nach seinem Einzug war in Staps Wohnung alles blitzeblank. Die Kleider der Kinder waren ordentlich geflickt, und Reinhard verstand es, die acht Jahre alte Marie und den zehnjährigen Kurt zu diesen Arbeiten in Liebe und Freundlichkeit anzuhalten. Für das Kleinste sorgte er wie eine Mutter. Frau Staps erhielt eine gute Pflege und lebte fast ivieder auf. Staps selbst fühlte sich wohl, wenn er abends nach Hause kam, alles in Ordnung fand und auch sein warmes Essen auf dem Tische hatte. Tagsüber ging Reinhard, wenn die Schule aus war. mit den Kindern in den Wald, und der Wald erzählte den Kindern durch den alten Waldarbeiter gar viel. Zu Hause über- wachte er der Kinder Schularbeiten, lehrte dem Kleinsten Spiele; abends wurde der Tisch an Frau Staps Bett gesetzt, alle saßen daran herum und Reinhard erzählte Geschichten, und er erzählte so gut, daß die Kinder immer eine neue hören wollten. Aber um neun Uhr brachte er sie zu Bett. Reinhard war glücklich in seiner Tätigkeit als Mutter und sagte es auch Staps:Weißt Du, ich kann Dir gar nicht genug danken, Staps, daß Du meinem Leben einen Zweck gegeben hast. Ich kann jetzt was tun und kann helfen! Sag mal, Du bist ja gescheiter als ich, ist das nicht auch so bißchen was wie unsere sozialdemo- kratische Sach'?" Aber der Staps jagte nichts und drückte dem alten Reinhard nur still und kräftig die Hand. Und seine Frau wischte sich mit dem Kissenzipfel die feucht gewordenen Augen und meinte mit ihrer matten Stimme:Ach, jetzt wird's mir leichter -- ich weiß, daß meine Kinder mal eine Mutier haben." DasMal'' kam leider recht bald. Der Krieg brach aus. Staps mußte Mitte August als Landwehrmonn einrücken. Und im September begrub man seine Frau, die die Aufregung und Sorge nicht überwinden konnte. Ihr Mann hatte Urlaub erhalten, kam aber erst, als seine Frau schon begraben war. Reinhard berichtete: Sei still und sorg' Dich nicht. Ich Hab' es ihr in die Hand hinein gelobt es hätt's nicht gebraucht ich werd' ihnen Vater und Mutter sein, so lang Du weg bist, und wenn Du wieder kommst, bleib' ich ihnen Mutter, so lang Dir's recht ist." Staps ging wieder an die Front. Er wußte seine Kinder in bester Hut. Und es ging trefflich. Die Kinder hingen an dem alten Rein- hard, der ihnen Vater und Mutter war. Die Kinder sahen wohl und gesund aus. Reinhard, der fürchtete, daß der Keim der mütter- lichen Krankheit vielleicht in die jungen Körper gedrungen sei, brachte die Kinder viel an die frische Luft. Sonntags besonders war er mit ihnen den ganzen Tag draußen im Walde. Es war eine Freude zu sehen, wie er für sie sorgte, sich um sie mühte. So traf ich ihn im Walde. Er erzählte mir, daß man ihm die Kinder habe abnehmen wollen; sie sollten in ein Waisenhaus gebracht werden.Aber ich Hab' um sie gekämpft. Und als sie die Gemeindeschwester zum Nachsehen schickten, und wie sie gesehen hat, wie ich's daheim habe, da hat sie gesagt:Ja, Reinhard, Sie sind die reinste und beste Mutter für die Kinder. Die können nicht besser auf- gehoben sein." Da Hab' ich sie behalten und krieg' jetzt die 36 M. im Monat für sie ausbezahlt. Dazu meine 28, SO M. monatlich huh, das langt ja nicht, besonders nicht für die Miete. Aber weißt Du, Genosse, davon freilich darf nichts heraus- kommen, sonst kürzen sie mir wieder die Rente wenn die Kinder in der Schule sind, trag ich für den Kaufmann Preuß aus und krieg dafür 7S Pf. und abends, wenn die Kinder schlafen, flick ich Säcke und mach' sonst etwas, was es gerade gibt und da kommen auch noch ein paar Groschen zusammen. Und so langt's, wenn auch knapp." Er lachte vor sich hin, dann sagte er zum Abschied:?lber weißt Du. was man mir auf dem Amte gesagt hat? Das sei ja recht schön, WaS ich an den Kindern täte, sagten sie. Aber, was denn das sei, ob ich Sozialdemokrat sei? Da Hab' ich aber gerade heraus- gelacht und Hab' gesagt: Ja freilich, Herr, das ist es ja gerade, weil ich ein bißchen Du weißt ja, ich begreif nicht alles weil ich Sozialdemokrat bin, kann ich den Kindern eine Mutter sein. Da haben sie nichts mehr gesagt, sondern mich nur groß angeschaut." __ S. kleines Feuilleton. vie Revolution üer?ung-Mormonen. Es kriselt im Mormonenstaate: bei der Eröffnung des neuen Studienjahres der Universität Utah hat ein Student vonnot- wendigen Neuerungen" gesprochen und diekonservativen Theorien des Mormonenstaates" einer ganz unverblümten Kritik unterzogen. Die Jugend, die am Salzsee heranwächst, ist nämlich überaus feiste- lustig, seit den Regenten von Utah eine für die übrige Welt ziemlich komische Geschichte passiert ist. Sie spielte sich folgendermaßen ab. Die Mormonenhäupter haben in naiver Gutgläubigkeit ihr heiliges Buch, das sogenannteBuch Abrahams", ihrem Bischof Speiding ausgefolgt, um es durch Aegyptologen vom Fach einer Prüfung unterziehen zu lassen. DasBuch Abrahams" soll, wie es in seiner Vorrede heißt, aus ägyptischen Katakomben stammen und enthält nach der durch den Gründer der Mormonenkirche, Joseph Smith , angefertigten Uebersetzung, die Geschichte Abrahams, von ihm selbst erzählt und, was noch mehr ist, von seiner eigenen Hand geschrieben. Nun war aber die Aegyptologie in der Zeil , in der Smith seine Uebersetzung anfertigte, noch nicht weit genug entwickelt, um Hieroglyphenschriften fließend zu lesen; es erhoben sich daher jetzt Zweifel an der Richtigkeit seiner Uebersetzung, und um eine Textrevision zu ermöglichen, wurde Abrahams angebliches Autograph durch Vermittelung des Bischofs zuständigen Gelehrten unterbreitet. Das Ergebnis der Prüfung war vernichtend: auf den ersten Blick stellte es sich heraus, daß die angebliche Uebersetzung ein Werk der Einbildung sei. Die Handschrist Abrahams befindet sich nämlich nicht, wie erwartet werden sollte, auf Papyrus, sondern auf Tontafeln; was den Inhalt der Hieroglyphen anbelangte, so stelle es sich heraus, daß er in einigen höchst durchschnittlichen Geneten an den Sonnengott bestand. Alles in allem entpuppte sich die Mormonenbibel als eine Reihe von Scherben, wie sie die Aegypter ihren Mumien gern als Kissen unterlegten, und wie sie heutzutage beinahe stündlich freigelegt werden. Natürlich hat dieses Ergebnis die Gläubigkeit des Mormonennachwuchses arg erschüttert. Die Universität Utah ging zur Freigeisterei über, und das in so radikaler Weise, daß sich die Häupter des Staates dazu entschlossen, alle nicht mormonischen Universitätsprofessoren zu entlassen. Ihre mormoni- scheu Kollegen haben dagegen Verwahrung eingelegt, 14 Tage auf ihre Lehrstühle verzichtet, und von feiten der Studenten ist es zu lärmenden Kundgebungen gekommen. Teilamputation ües Gehirns. Die moderne Kriegschirurgie leistet heute dank der fortge- Berlin große Zugkraft ausübte. Modischer Operettenschund ver- unmöglich" in der medizinischen Wissenschaft kaum noch gibt. Ein Fall, der kürzlich in einem französischen Feldlazarett zur Behand- lung kam, ist wie geschaffen, diese Tatsache erneut zu erhärten. Die Krankheitsgeschichte des in Frage kommenden Patienten wurde denn auch der Akademie der Wissenschaften in Paris als ungewöhn- licher Fall unterbreitet und beschäftigte sie in einer ihrer letzten Sitzungen. Es handelt sich um den 21jährigen Soldaten R., den ein Granatsplitter am Kopf getroffen hatte. Er wurde sterbend mit einem schweren Schädelbruch am Hinterkopf ins Lazarett ein- geliefert. Bei der sofort vorgenommenen Operation entfernte der Chirurg die hervorgetretene Gehirnmasse und zog drei Knochen- splitter aus einem im Mittelteil der Gehirnmasse befindlichen Ge- schwür. Der Operierte wurde bald wieder hergestellt. Ein paar Tage später erlitt er einen Rückfall, der eine zweite Operation nötig machte. Wieder wurden Teile der Gehirnmasse entfernt, ein neues Geschwür im Gehirn aufgestochen und abermals Knochen- splitter beseitigt. Der Soldat R. verlor infolgedessen ungefähr ein Drittel seiner linken Gehirnhälfte. Ueberraschenderweise wurde er nicht nur wieder völlig gesund, sondern es war auch keine bc- merkenswerte Störung weder seiner motorischen und sensitiven Nerven noch seines Geistesvermögens wahrzunehmen. Der Patient wurde so vollständig hergestellt, daß der Arzt nicht einmal eine Minderung seiner Felddienstfähigkeit zu entdecken vermochte. Das trotz der erheblichen Verkleinerung des Gehirns restlos wieder er- langte Vermögen seiner Gehirntätigkeit ist ganz dazu angetan, unsere bisherigen Kenntnisse über die Rolle de? zentralen Nerven- orgaus zu verwirren. Notize«. Theaterchronik, In der Volksbühne geht als nächste Erstaufführung ShakespearesSturm" in Szene. Max Schillings neue OperMona Lisa " er- lebte in Stuttgart unter des Komponisten Leitung ihre Uraufführung mit starkem Erfolg. Die sich in den Bahnen Wagnerscher Jnstrumentationskunst bewegende Musik ist, wie der Musikkritiker der MünchenerN. N." schreibt, farbenprächtig, thematisch und melodisch sogar bis zu einem gewissen Grade erfindungsreich gehakten und enlspricht völlig dem Gehalt der Dichtung, deren etwas brutale Wirkung stellenweise durch die Vornehmheit der Schillingsscheu Ton- kunst gemildert und verklärt wird. Ein Eßbesteck für Einhändige. Zu den technischen Hilfsmitteln, die den einhändigen Menschen über die Mängel der zweiten Hand hinweghelfen sollen, gehört ein neu konstruiertes Gabelmesser, das Dr. Franck nach Versuchen in einem Reserve- lazarett in den Medizinisch -technischen Mitteilungen der Zeitschrist für ärztliche Fortbildung warm empfiehlt. Das Gabelmcsser besteht aus einem gabel- und messerförmigcn Teil, die wie Branchen einer Schere ineinander greifen. Beim Schließen des Instrumentes gleitet das Messer zwischen die Zinken der Gabel und zerschneidet mit Leichtigkeit die Speisen. Sind diese zerkleinert, so kann von dem Einarmigen mit einem Griff das Gabelmesser auseinander- genommen und die Gabel benutzt werden, um die Speisen zum Munde führen. Ebenso kann das Besteck mit einer Hand wieder zusammengefügt werden. Rotes vlamenblut. 3i] Von Pierre Broodcoorens . Da die Straßen gesperrt waren, so mußte man mit der Schaufel einen Weg hindurchbrechen. Förmlich schwarz zog sein Zickzack wie ein schmales Band durch das unschuldsweißc Vließ, das bis zu den Fensterborden reichte. Eine Glätte überkrustete das Pflaster, die zur Vorsicht nötigte. Im Gänse­marsch bewegte sich die Hochzeit vorwärts. Hilla, die Faust- Handschuhe anhatte, hob ihr Kleid bis zu den Waden in die Höhe. Die Männer hatten die Kragen ihrer schwarzen Röcke emporgeschlagen, die Köpse gesenkt und die Hände in den Taschen. Alle verhielten sich schweigend; ihre tränenden Augen, die zusammengekniffenen Lippen, die Fingerspitzen, die harten Nägel, die Ohrläppchen vom schneidenden scharsen Wind zerbissen. Als sie bis ins Mark hinein erstarrt beim Bahnhof anlangten, kam ein langes, schlottriges Weib ans einer Kneipe hervor und blieb stehen, sie vorübergehen zu sehen. Hilla erhob sich beleidigt und warf der Dirne ein ge- meines Schimpfwort zu. Aber Ftohil zuckte die Achseln und zog sie schnell davon. Habt Ihr sie gesehn?" schrie sie, vor Wut außer sich, die Zeugen an. Wen denn?" fragte Vicus Mannevel von Michelbeke. Na, Nille! Nille von Montagne-aux-Faucons!" Kenn' ich nicht," antivortete er friedlich. Sic hatte verächtlich gegen sie hin ausgespuckt. Dann aber, als Souhe scharf zu ihr hinsah, hatte sie boshaft hin- übcrgeschiclt und ihr die Zunge ausgestreckt. «Wenns erlaubt ist... Ein Jammerding, wie die!" Achten Sie nicht auf sie," sagte Mil Borst, um sie zu beruhigen. Sie nahmen bei Dussart einenKlaren" und eilten dann, ihre Fahrscheine zu lösen. Es besteht auf dem Lande die Gewohnheit, daß jede Hoch- zeit, so arm sie auch sein mag. einen Tag in der Großstadt verbringt. Sie kannten dort keinen Menschen. Aber Borst, der bei der Linie gedient hatte, führte sie an gute Orte. Sie langweilten sich nicht. Zuerst führte er sie zumGrab­gewölbe", einer Kellerkneipe der Place Rogier, wo sich die Dienstmädchen und beurlaubten Soldaten trafen. Kellner mit weißer Schürze und Glanzscidejacken gingen zwischen den lärmenden Tischen umher, von denen dicke Wolken beizenden Tabakrauches zur verräucherten Decke aufstiegen. Ein Alkohol­dunst schwebte in der Luft, der sich mit dem Karbolgeruch der nahen Abtritte einte. Und in dieser Schwitzkastenatmosphäre grinsten die roten, durch Trunk und Unterhaltung belebten Gesichter. Die Hochzeit, die die sie umbrandende Unterhaltung wie ein Echo ihrer ländlichen Schwätzereien anmutete, setzte sich gemütlich fest. Weiber im bloßen Kopf lachten über Sol- baten, die sich den Rock aufgeknöpft hatten und denen die Mütze im Genick saß. Flohil und die anderen blinzelten ein- ander verständnisinnig zu, ermutigt durch das freie Betragen ihrer Umgebung. Zuweilen lärmten die dicken Laute ihres eigenen groben Platts zu ihnen herüber. Dann hoben sie bewegt, das Herz von einer Zärtlichkeit geschwellt, die sie nicht zum Ausdruck bringen konnten, die Köpfe, reckten die Hälse und hätten diese Leute, die in ihrer Sprache mit ein­ander plauderten, kennen lernen und sie freihalten mögen. Nachdem sie ein, zwei Krüge geleert hatten, stärkten sie sich mit harten Eiern und Krabben. Borst erhob sich plötzlich und schlug vor, über die Boulevards nach der Mitte der Stadt zu gehen. Sic hatten ihre friedliche Haltung und die langsame, rollende Gangart von Bauern beibehalten, die feiernd in ihnen fremder Umgebung wie Enten auf festem Lande gehen. Wenn sie an ihnen vorüberstreiften, hatten die elenden, nervösen Städter, für die außer der Stadt nichts existiert, ein superkluges Lächeln. Doch sie geioahrten nichts von der ironischen Unduldsamkeit dieser Beamten und Emporkömmlinge. Uebrigens hätten sie sich nicht verstanden, und sie würden sich auch über sie lustig gemacht haben, ohne Rücksicht auf das Publikum und was man dazu sagen würde. Die Nase hoch, die Hände in den Taschen, schritten sie daher und pflanzten sich zuweilen, von seiner Pracht angezogen, vor einem Schau- fenster auf, ohne Scheu und unter lauter Unterhaltung. Sicher, zur Frühlingszeit hätte Souhe der Gafferei eine Partie durch die Felder vorgezogen, und gern hätte er ge- wüßt, wie die Stadtleute sich dann benehmen würden: im Vergleich zu den Brüdern vom vlämischen Lande sind die Bauern der Bannmeile ebensogut Herren. Nur Landarbeiten interessierte den Riesen Flohil. Er hatte in Paris , obgleich er immer nur in den frühen Morgenstunden es durchquert hatte, einen noch weit lebhafteren Verkehr kennen gelernt als hier in Brüssel . Immerhin war er ganz betäubt. Der fieberhafte Strom ermüdete ihn auf die Dauer, und seine Ohren dröhnten von dem Rauschen der Automobile, dem endlosen Rollen der Kutschen mit ihren spiegelblanken Rädern. Hilla hatte be­ständig Mund und Augen weit auf, sie>var noch nie in ihrem Leben weiter als bis nach Grammont gekommen. Borst freute sich über ihr Erstaunen und versprach ihr noch mehr. Er fühlte sich in seiner Eigenschaft als Führer, obgleich er von der Stadt nichts weiter kannte als die grellen Wirtshaus­schilder von ein paar Kneipen und die vielen Kasernen. Er führte sie hinter das Stadthaus, damit sie sich den aufgestutzten Speier und etwas weiter von ihm entfernt, zwischen zwei Mauern, im Halbkreis durch ein Gitter ge- schützt, das Bronzemännchen ansahen, das oben von seinem Sockel herab mit unzweideutiger Schamlosigkeit den Wasser­strahl auswirft, der seine einzige Anziehungskraft bedeutet. Vicus und Flohil grunzten vor Vergnügen und schlugen sich mit einer Heiterkeit, die erst jetzt ein Schauspiel nach ihrem Geschmack gefunden hatten, auf die Schenkel. Hilla heuchelte eine schämige Zurückhaltung und wandte das Gesicht ab. Aber ein inneres Lachen schüttertc ihr die Kehle, und um nicht herauszuplatzen, biß sie sich in die Lippe. Dann bummelten sie aufs Geratewohl lvciter, wobei sie hinter der Hand manchmal ein gelangweiltes Gähnen ver­bargen. Der eigenartige Charakter und die Schönheit der Architektur hielt sie nicht iveiter ans. Selbst die Vergoldung und die altersgraue Patina der Giebel der Grande-Place ließ sie gleichgültig. Das Haus des Senators Bernaeyge zu Nederbrakel und das des Gerichtsvcrwalters Vanderlinden er­schien ihnen schöner und vielleicht hundertmal prächtiger als die großartigen Gildengebäude, dem wunderbaren Bogen gegenüber, den mit zornentflammtem Flug Sankt Michael auf dem Drachen beherrscht. Die Höhe der Wolkenkratzer versetzte sie dann aber doch in Staunen. Mit weit auf­gerissenen Augen und Mäulern betrachteten sie die vielen Stockwerke. Wieviel Leute mochten wohl in diesen Höhen wohnen? Sic ivären da oben vor Angst ge- starben. Außerdem niußte das beengt, unbequem und gefährlich sein, besonders wenn Feuer ausbrach. Und von Mitleid für die Stadtleute ergriffen, die dazu ver- dämmt waren, wie die Eichhörnchen und Dohlen zu hausen, schüttelten sie den Kopf. (Forts, folgt.)