ilt. 228.- 1915.

Unterhaltungsblatt öes vorwärts

Somltag, 3. Gktotirr.

Der Durchbruch.

Erlebnisse eines Kanoniers. Eben graut der Morgen. Durch die vom Regen aufgeweichte Landstraße und die von den Kolonnen willkürlich durch die Felder gebahnten Wege, aus denen schmutzigbraune Wasserlachen starren, trabt ein Artillcriemeldereiter. Staunend sieht er die frisch auf- geworfenen Batteriestellungcn, die in nie gesehener Dichte fast parallel mit den Schützengräben hinter dem nächsten Höhenrücke» eine zweite Front bilden. An einer niedergelegten Windmühle reitet er vorüber; das Holz der Mühle hat die danebenstehende Batterie in ihre Unterstände eingebaut. In ein Kornfeld biegt er ein, dort steht sein Regiment. Die Batterien sind so aufgestellt, daß sie von den Russen nicht gesehen werden können. Erste, zweite, dritte, vierte Batterie: das ist sein Ziel. Der Wachtmeisterleut- nant geht unruhig in der Stellung auf und ab.Verbindungsreiter mit den Protzen zur Stelle!" Ein zerstreutes Danken. Der Reiter geht� mit seinem Pferde fast hundert Meter hinter die Batterie, wo in Löchern große Mengen Munition lagern. Der Leutnant ist heute etwas nervös. Kein Wunder, denn gestern abend hatte der Hauptmann der versammelten Mannschaft erklärt:Morgen werden die russischen Linien in Breite mehrerer Armeekorps durchbrochen. Den Vorstoß leitet Exzellenz v. Gallwitz. Er. Exzellenz Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg wird von einem der rück- wärtigen Hügel aus den Turchbruch mit ansehen. Wir beginnen wm 3 Uhr 30 mit dem Schießen. Es wird genau und schnell gefeuert. Tie Infanterie stürmt um 8 Uhr 3V." Es ist dreiviertel vor vier, die Bedienung steht an den schuß- fertigen Geschützen, auf den Befehl zum Schießen wartend. Da, ein dumpfer Knall weit hinten, ein tiefes Surren, das näher kommt und sich in Richtung der russischen Gräben entfernt, dort ein be« häbiges, befriedigtes Grollen die 21- Zentimetermörser haben zu schießen begonnen. Nun wird cS überall lebendig. Eine 15- Zentimeterbatterie gibt bedächtig einen Schuß nach dem anderen ab, durch schnell folgendes viermaliges durchdringende? Krachen sprechen die Langrohre ihren Morgengruß, nebenan knallen kurz die Feldkanonen, deren Granaten mit schnellem Zischen enteilen, als wollten sie die Ersten bei den Russen sein. Dazwischen, wie die Pauke in einem Orchester, ruhig, kraftvoll die Schüsse der großen Mörser. Sämtliche Batterien feuern. Die Artilleristen arbeiten schnell, sicher. Ein neues Kommando läßt den Richtkano- uier an der Richtmaschine stellen, Kanonier drei reißt den Lafetten- schwänz von dem klebenden Lehmboden los, noch ein kurzer Ruck, das Rohr steht in der neuen Richtung. Die von einem anderen um- gestellte Granate wird mit grober Faust in das Rohr geschoben; klirrend klappt der Verschluß zu.Eine Gruppe I" Brüllend werfen vier Geschütze ihre tödliche Ladung in den Morgenhimmcl. Schneller, immer schneller soll gefeuert werden. Die Befehle des Batterie­chefs jagen sich im Telephon. Ter Leutnant kann kaum zwischen den Kommandos Atem schöpfen. Keuchend arbeiten die Mann- schaftcn. Wie Pflastersteine werden die Geschosse aus den Körben geschleudert. Sie fliegen von Hand zu Hand. Klirrend schnappt der Verschluß ein, zurück stößt das Rohr, seine Ladung in grellem Blitz und 5hiall freigebend. Ter Ladekanonier reißt den Ver- schluß auf, fauchend springt die leere Kartusche heraus, der ekel- bafte Geruch verbrannten Pulvers reizt die Riechnerven. Ein neues Geschoß, ein neuer Schuß. Keine Ruhe. Richten, laden, abziehen und wieder richten, laden, abziehen. Der Erdboden zittert. Noch zwei Stunden bis zum Angriff der Infanterie. Schon glühen die Köpfe, schlägt das Blut ungestüm in den Adern, schon versagen die Ohren, durch Gestikulationen verständigt man sich. Die Seitenrichtung wird stark geändert. Drei Mann strengen ihre Kräfte an, um den vom fortwährenden Rückschlag des Geschützes in den Boden gerammten Lafettenschwanz herumzubringen. Tie Räder stehen auf Scheunentorcn, sonst säßen sie schon bis zu den Achsen im Lehm.Batterie feuerbereit!" Wieder brüllen die Ge- schütze. Und sie brüllen immer wieder, bald im alten Tempo. Plötz- lich ein Doppelknall, schwarzer Rauch ballt sich vor der Rohrmün- dung am Boden, Schollen fliegen empor.Rohrzerspringerl" ruft die Bedienung erschreckt.Jemand verletzt?"Nein, Herr Leut- nant!" antwortet der Unteroffizier.Gott sei Dank!" Das Rohr ist gebaucht, zeigt große Risse. Da das Geschütz deswegen nicht mehr schußfähig ist, schießt die Batterie mit drei Geschützen weiter. Die Munition in den Geschützständen ist aufgebraucht; die Kanoniere schleppen die schweren Munitionskörbe aus den Munitionslöchern heran. Rauh lachend ruft ein Rekrut einem anderen zu:Beinah wie wir bei Siemens die Eisenstücke schleppen." Von den Schützengräben herübertönendes Geknatter zeigt an, daß der Sturm nicht mehr fern ist. Die Uhr zeigt die achte Morgen- stunde. Das Artillericfeuer ist zu einem wahnsinnigen Höllenkon- zert angewachsen. Die Kanoniere schwanken im Geschwindschritt mit den schweren Körben heran, taumelnd, mit verbissenen Ge-

sichtern zerren sie an den Richträdern, an den Stellschlüsseln, Schuß auf Schuß entflieht dem Rohr, klatschend fliegt in den kurzen Pausen ein nasser Sack darauf, daß der heiße Stahl zischt. Es stinkt nach Pulver und Schweiß. Ein Rad des dritten Geschützes ist von der hölzernen Unterlage herunter in den Lebm gesunken. Fieberhaft schaufeln die Kanoniere eine Rinne. Ein Kurztau um die Rad- nabe.Hau ruck Hau ruck!" Das Tau spannt sich. Widerwillig kraucht die Haubitze aus ihrem selbstgewühlten Loch heraus. Schußfertig steht sie, ein letzter Blick durch das Rundblick- fernrohr:Drittes Feuer!" Das Geschütz stimmt wieder ein in den Höllenreigen. Plötzlich verlegt der Batteriechef das Feuer zwei Kilometer weiter, ein Zeichen, daß die Infanterie vorgeht und die Artillerie die russischen Reserven aufs Korn nimmt. Eine Batterie nach der anderenstopft". Zu plötzlich hat die Spannung nachgelassen, die Leute hocken stieren Blicks, abwesend an den Geschützen. Langsam nur beginnen die Gedanken wieder zu arbeiten, die Glieder zu gehorchen. Und schon kommt Befehl: Fertig machen zum Stellungswechsel". Ein Wink dem Ver- bindungsreiter, der sitzt auf, drückt dem scheuen, verwirrten Gaul die Schenkel an den Leib und jagt in scharfem Trabe zu den Protzen. Der Hauptmann telephoniert von der Beobachtung im Schützengraben:Unser Feuer hat, soweit festzustellen, große Wir- kung gehabt; Infanterie stürmt schon die zweite russische Stellung." Durch das gelbe Korn kommen die Protzen heran. Gereizt und ab- gespannt, wie die Kanoniere sind, geht das Aufprotzen langsam. Viel zu langsam dem Wachtmeister, der mit den Protzen aus dem Quartier gekommen ist. Fertig aufgeprotzt wartet die Batterie auf Marschbefehl. Während sie fertig stehen, kommt der Hauptmann von der Beobachtungsstelle angeritten. Er gibt Befehl; die Batterie marschiert. An der niedergelegten Windmühle geht es vorbei, an einem einzeln«» Gehöft vorüber, das jetzt die Rotekreuzflagge und die AufschriftHauptverbandplatz" trägt. Die Sanitäter mit den Bahren gehen dort aus und ein. Der Wind weht den Karbolgeruch bis zum Weg herüber. Rechts ab biegen die Gescknibe in ein Hafer­feld ein. Auf der Höhe entlang zieht sich der Schützengraben, der fast ein halbes Jahr lang Deutsche und Russen trennte. Die Pio- nier« schaufeln noch an dem breiten Damm, den sie durch ihn auf- geführt haben, damit Artillerie und Kolonnen hinüber können. Die Drahtverhaue sind schon teilweise in der Nacht vorher fortgeräumt worden. Nur schwache Reserven halten die Gräben noch für alle Fälle besetzt, Sanitätssoldaten verbinden in ihnen Schwcrver- mundete, Artilleristen bauen ihre Beobachtungsstände ab. Alles macht, daß es vorwärtskommt.Kanoniere aufgesessen!" Die Be- dienung springt auf und in schlankem Trabe zieht die Batterie in das bisher von den Russen besetzte Land ein. Im Sonnenglanz liegt es da; die russischen Gräben braune, von Ricsenhänden durch- siebte, auseinandergeworfene Sandwallbrocken; die russischen Draht- verhaue wie Gerümpel hier zusammengeballt, dort auseinander- gerissen. Zwei zusammengeschossene ausgebrannte Dörfer liegen dicht hinter ihnen; am Horizont lecken an zwei Stellen trübe Flam- men zum Himmel, von dicktem, grauem Qualm eingehüllt. Dort- hin bewegt sich eine punktierte Linie über ihr zeitweise weiße Flatterwölkchen: russische Schrappnclls. Die punktierte Linie ist die vorderste deutsche Schützenkette. Ihr folgen Infanteriekolonnen und die Feldartillerie, bereit, einzugreifen, wenn es nottun sollte. Tele- phoniften bleiben zurück, um den Leitungsdraht aufzurollen, der vom Schützengraben zur Batteriestellung gelegt ist. Von der vierten Batterie machen sich zwei Mann an die Arbeit. Am Abend endlich haben sie den ausgelegten Draht auf die Spulen gewickelt und wandern der längst aus dem Gesichtskreis entschwundenen Batterie nach. Auf der Höhe des Schützengrabens schauen sie rückwärts, westlich. Vom Grunde herauf ziehen in grauen Schwaden die Re- serven, Sanitätsfahrzeuge eilen vollgeladen rückwärts, Kolonnen fahren in die Depots, Nahrung und Munition zu holen. Die Wagen sind von Leichwerwundeten besetzt. Langsam sinkt im Westen die Sonne. Ein brauner Wurm kriecht den Weg lang nach Westen, ein Gefangenentransport.

kleines Feuilleton. Die Uniform. Mit Grauen und Entsetzen ist überall die Aufdeckung des Weißenseer Frauenmordes aufgenommen worden. Ein 21jähriger Hausdiener, dessen freiwillige Meldung zum Kriegsdienst zurück- gewiesen worden war, weil er in körperlicher und geistiger Hin- ficht nicht im geringsten den militärischen Anforderungen entsprach, ist deswegen zum Mörder geworden, weil er auf keinem anderen Wege in den Besitz der heißersehnten Uniform gelangen zu können glaubte als dadurch, daß er kalten Blutes eine alleinstehende Frau

erstach und dann die Ladenkasse beraubte. Von dem Gelde kaufte er sich eine OffizierSuniform und prunkte damit vor seiner Mutter und vor seinen Bekannten. Freilich war es der kleinen kümmcr- lichen Gestalt in der Fliegeruniform mit Offiziersabzeichen ohne weiteres leicht anzusehen, daß ihr ein derartiger Rang nicht zukam; der junge Mann wurde deshalb auch mehrfach von Holizeibeamten und selbst Militärpcrsonen angehalten, man schenkte aber merk- würdigerwcise seinen Versicherungen Glauben. Zum Glück steht ein derartiger Fall vereinzelt da; der jugendliche Mörder ist geistig nicht normal. Und doch bietet uns diese Mordtat mit ihren ent- setzlichen Begleiterscheinungen eine Lehre, die gerade jetzt sehr zu beherzigen ist. Die Kriegszeit ist auch auf die leichtempfängliche und mit reger Phantasie begabte Jugend natürlich nicht ohne Ein- fluß geblieben. Tie Kriegsspiclc der Knaben arten zu manchen Roheiten aus, denen man nicht energisch genug entgegentreten kann. Besonders häufig aber macht sich in der Knabenwelt die Sucht geltend, eine Soldatenuniform zu tragen. Von den Be- Hörden ist mehrfach das unberechtigte Tragen von Uniformen mit Strafen bedroht worden; noch immer sieht man aber in den Straßen der Städte Knaben, die ganz vorschriftsmäßige Offiziersuniformcn mit Offiziersachselstücken, mit Degen, Schärpe und Helm tragen. Solche kleine Gernegroße dünken sich dann turmhoch erhaben über ihre Altersgenossen, deren Eltern ihnen keine so teure Uniform kaufen Die Eltern, die diesen unvernünftigen Wunsch der Kinder erfüllen, müßten sich eigentlich selbst sagen, daß sie dadurch in ihnen geradezu die krankhafte Sucht großziehen, mehr scheinen zu wollen, als sie in Wirklichkeit sind. Außerdem aber ist unsere Zeit für solche Spielereien viel zu ernst. Die Ursache ües Peberzuftanöes. Das Fieber, ob es nun als Einzelerkrankung oder als konstante Begleiterscheinung anderer Krankheiten auftritt, geht immer auf eine nur beschränkte Anzahl von Bedingungen zurück. Die Art der Be- dingungen aber und die Deutung ihrer Auslösung in der Gesamt- hcit dieser Fälle hat schon viele Theorien veranlaßt. In denNatur- ivissenschaslen" wird nun über einige Versuche von G. ManSfeld berichtet, die auf Grund ihrer exakten Durchführung und Verwertung geeignet sein dürften. Endgültigeres zu bieten. ES ist schon vor langem gezeigt worden, daß Verletzungen bestimmter Punkte im Mittelhirn, die man als Würmezentnun bezeichnen kann, einen fieberhaften Zustand nach sich ziehen, d. h. eine Temperaturerhöhung und eine vermehrte Zersetzung der Eiweißstoffe zur Folge haben. Aeußerlich wird dadurch eine starke, auch durch Geruch wahr- nehmbare Konzentration stickstoffhaltiger Substanzen im Harne veranlaßt. An diese Kenntnis angeschlossene Versuche an Kaninchen, die an jenen Hirnstellen künstlich verletzt wurden. zeigten, daß die Herzzellen dieser Tiere mehr Zucker verbrauchen als das Herz unbeeinflußter Tiere; der Unterschied beträgt 1,6 Milli- gramm pro Gramm und Stunde. Da eine fortdauernde nervöse Reizung durch Isolierung vom Nervcnapparat ausgeschlossen worden ist, kann die Ursache für die Fortdauer de§ früher ausgelösten Zu- standes nur in den Zellen selbst liegen. Bei einer anderen Art von Versuchen, bei denen den Tieren die Schilddrüse entfernt wurde, zeigte sich, daß jene Kennzeichen des AieberzustandeS nicht eintraten. Es liegt also der Schluß nahe, daß die Bedingungen des Fiebers an die Wirksamkeit der Schilddrüse gebunden sind, die ihrerseits nervös beeinflußbar ist. Die Schilddrüse gibt bei fiebererregenden Einflüssen Absonderungen an das Blut ab, die eine chemische Um- formung der Körperzellen herbeiführen. Die so veränderte chemische Struktur der Zellen bedingt nun wiederum einen größeren Zucker- verbrauch, eine stärkere Zersetzung des Eiweißes und eine Steigerung der Wärmebildung._ Notize». Theaterchronik. Das Charlottenburger Schiller- Theater führt am Montag, zur Feier des 50. Geburtstages von M a x H a l b e. des Dichters Schauspiel I ü g e n d" zum ersten Male auf. In der Volksbühne findet die Erstaufführung von ShakespearesSturm" unter der Regie von Max Rein- Hardt am Freitag, den 8. dieses Monats statt. Vorträge. In der Urania wird am Montag Prof. Deckert aus Frankfurt a. M. einen durch Karten und Lichtbilder illustrierten Vortrag:Das Weltreich der Briten " halten und denselben am Mittwochabend noch einmal wiederholen. Der Verein für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse nimmt am Montag, den 4. Oktober, 8>/z Uhr, in der Neuen Philharmouie, Köpenicker Str. 30/07, seine Vereins- tätigkeit mit einem RezitationS- und musikalischen Abend wieder auf.' Rezitationen von Heine, Lenau , Verhaeren, Eichendorff und anderen wird Nora Zcpler vortragen. Musik: Beethoven , Schumann, Klavier: Susanne Friedburg, Violine: Paula Bock. Gäste, Männer und Frauen, willkommen.

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Rotes vlamenblut. Von Pierre BroodcoorenS .

Sie langten im flandrischen Viertel an. Auf den schmalen, holprigen Fußsteigen der Straße, auf der ein gräulicher, von Radspuren durchfurchter, von Schritten zertretener, mit kupsergrüncn Flecken frischen PfcrdcurinS gesprenkelter, langsam auftauender Schnee lag, legten die durchsichtigen Schilder der Tingeltangel ihre gelben Licht- Vierecke. Scharfe Dünste von Karbolsäure und Harn, von gebackcncm Fisch und Hammelfett mischten sich innig mit der eisigen Feuchte der Atmosphäre. Zwei fahle Häuserwand- reihen zogen sich unter dem bleifarbenen Himmel mit ihren nußgrünen Fensterläden, ihren geteerten Grundmauern, ihrer abgeblätterten, weißen Tünche hin. Leere Konservenbüchsen lagen in der Rinne zusammen mit aufgeweichten Zeitungen, zweifelhafte Pakete und Orangeschalen. Ein feuchtes Nebel- gerinsel verdunstete den Abend, das sich mit dem von den Schornsteinen des schwarzen Landes ausgeworfenen unsicht- baren Nuß mischte. Mit bäuerisch gespreizten Beinen, die Mütze auf dem Ohr, vcrlustierten sich Bursche an den Straßen- ecken nnd machten von dem rauhen vlämischen Platt ihrer Konsonanten die elenden Mauern schallen. Komm," sagte Vicus. Mit einer Schüchternheit, über die er nicht hinauskommen konnte, hielt er sich beiseits, um seinen großen Gefährten zuerst eintreten zu lassen. Sie hatten vor einer Art von Spelunke mit einer Mittel- tür Halt gemacht, die zwei hohe, schmale, mäßig von Gas erhellte Fenster zeigte. In einem rötlichen Halbdunkel konnte man auf Regalen, die Borten von aufgeschnittenem Papier hatten, undeutlich Büchsen mit eingemachtem Hering. Salatschüsseln mit mari- nierten Saubohnen und auf zweifelhaften, symmetrisch ge- reihten Tellern zwischen geschnittener Kresse runde Stücke blassen Fleisches und zwischen halbierten Zitronen geröstete Seezungen erkennen. Das war ihr Logis:A la Ville de Renaix", Haus von Isidore Boussart, genannt Zizi. Die Winkelkneipe bestach nicht gerade durch ihr Aeußeres, aber die Mieter sahen nicht so genau darauf.

Sie waren ihrer ein Dutzend Vlamen, die regelmäßig I jeden Winter vier, fünf Zimmer der Herberge innehatten. Trotzdem war der Wirt nicht freundlich zu ihnen. Aber das machte nichts. Er war in ihrem Lande geboren, in Deltinge, in der Nähe von Grammont, in Oberflandern. Trotz der rauhen Kälte der verschneiten Abende war das Loch bloß durch eine ockergelb gestrichene jalousieähnlichc Tür geschlossen. Ucber ihr war eine Oeffnung, durch die die dicke Luft ausströmte. Flohil stieß sie mit der Schulter auf und sie traten ein. Gasarme hingen von der mit rußigen Rosetten bedeckten Decke herab und legten ein rötliches Licht über die kleinen, sorgsam mit Schmirgelpapier abgeriebenen Tische. Auf jedem befanden sich eine verzinnte Salatschüssel aus Blech, ein Senfnapf, und mit Kettchen befestigte Löffel und Gabeln. Grobe Bänke fügten sich in die Wände ein, deren Bewurf ölig glänzte. Nelis, der zugleich im Zimmer bediente und das Geschirr abwusch, hatte am Morgen mit weißem Sand auf dem roten Fußboden allerlei kunstvolle Arabesken gestreut, die inzwischen von den vielen Schritten zertreten waren. Eine ungesunde Wärme drückte. Sie wurde genährt von dem Eisengußzylindcr des weißglühenden Ofens und dem Sieden des auf den niedrigen Oefen mit ihren polierten Einsätzen schmelzenden Fettes. Und NöliS, der die Deckel hob, um mit dem Schaumlöffel geräuschvoll die in ihrer kurzen Brühe zischenden Miesmuscheln umzurühren, erregte Dampfwirbcl, die einen von Petersilie, Zwiebeln und Cayennepfeffer ge- würzten Dust gaben. Von der Schwelle aus hatte Flohil, der in sein ver- schrumpftes, schwarzes Lederetuichcn den saftigen Priem spie, den seine Kinnbacken gekaut hatten, ihren gewohnten Platz hinten in der rechten Zimmerecke ins Auge gefaßt. Fabrik- Mädchen hielten ihn besetzt, die in ihrer gemeinen Sprech- weise miteinander schwatzten und wie Bonbons ihre öligen, mit grobem Salz bestreuten Bratkartoffeln sogen. Sie machten ein böseS Gesicht und suchten sich murrend einen anderen Tisch. Es war nur noch einer frei, in der Nähe der Klapp- türe, die zu den Kellerräumen führt. Mißmutig ließen sie sich, Souhe auf die schmierige Bank, Vicus mit dem Rücken gegen den bullernden Ofen auf einen Stuhl fallen. Der Affe ist noch nicht'runter gekommen", bemerkte Souhe, seine beiden frostblauen Fäuste auf dem Tisch. Er ließ stine Blicke durchs Zimmer schweifen. .Bock, Kroeg , Bethezonn kneipen wieder wie gestern.

Aber warum thront die dicke Dila nicht hinter dem Schank- tisch?" Das war für Souhe ein wahrer Gegenstand des Staunens. Solche kindlichen Kleinigkeiten haben in den Augen dieser schlichten Menschen eine große Wichtigkeit. In seiner Stummheit eingeschlossen wie ein Feuerwächter in seinem Leuchtturm, ließ Vicus den Kameraden reden. Aber er hatte sein Taschenmesser ausgeklappt und, nachdem er ans seinem Sack ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket gezogen hatte, schickte er sich an, es auszupacken. Rimnist Du denn kein Brot, Vicus?" Nein, Brüderchen, ich habe hier noch zwei Schnitten." Ach so!" Die breite Hand Flohils hatte sich auf die mit Butter gestrichenen Schnitten gelegt und ein stilles Lachen eines Halbwilden entblößte zwischen seinen roten, fleischigen Lippen seine kräftigen, weißen Zähne. Aber laß mich doch ivenigstens mittun, Du Schurke I" Die Klinge drang in die trockene Krume ein und zer- schnitt das Brot genau in zwei gleiche Teile. Nelis. uns hängt der Magen schief I Laß ihn nicht zu lange schreien, wackerer Junge!" Doch Nelis beeilte sich nicht, obgleich er der einzige war, der bediente. Die Haare sorgfältig an den Schädel geklebt, einen leichten Flaum auf seiner Jungemannslippe, zog er die Schlappen im beständigen Auf und Ab von den Oefen zu den Tischen. Und indem er den Gästen Portionen zu zwei Sous brachte, warf er sich mit dummwichtiger Miene in die Brust, daß ihm der Adamsapfel über den weichen Kragen seines buntgestreiften Hemdes hüpfte. Ein Augenblick, Lämmchen!" Vielleicht haben wir noch Zeit, eine Wallfahrt zur wundertätigen Jungfrau von Oostacker zu machen, nicht?" Hier bin ich schon!" Er fand endlich eine Minute, sie zu bedienen; und mit Heißhunger warfen sie sich auf das billige Mahl, das ihnen ihre Kraft wiedergeben und sie bis zum nächsten Morgen aufrechterhalten sollte: ergiebig qualnite es vor ihnen auf vier Tellern aus grobem Steingut. Bier, mein Junge!" Zwei Kübel?" Donnerwetter, ja!" Es ist frisch, wirklich.".(Forts, folgt)