Nr. 230.- 1915.
Unterhaltungsblatt öes Vorwärts
Mittwoch, 6. Oktober.
Die Entstehung öes Lebens. Von Dr. H. M i« h e.*) Da- Leben hat eine Geschichte so gut wie seine höchste Form, der Mensch, und wie die Erde, die ihn und das übrige Leben trägt. Hat es aber auch ewig bestanden, wie die Stoffe und die Kräfte, von denen wir annehmen, daß sie von Anbeginn da waren, und ist es ebenso unvergängllch, wie es von diesen gilt? Wenn wir annehmen, daß die Grundeigenschaften des Lebens stets dieselben gewesen sind, so ist der Schluß unvermeidlich, daß das Leben auf unserer Erde einmal einen Anfang genommen haben muß. Denn in ihren frühen Entwickelungsperioden haben Be- dingungen geherrscht, unter denen heute Lebensprozesie gänzlich ausgeschlossen sind. Die hohe Temperatur, bei der das Wasser nur als Dampfhüllc die Erde umgab, machte die Existenz von Leben un- möglich. Erst als die Erdoberfläche erkaltete und sich Wasser aus ihr ansammelte, konnte Leben entstehen. Entstand es aber wirklich aus den Elementen der Erde selbst oder kamen Keime von einem andern Weltkörper? Das könnte wirklich so sein. Zwar wären wohl die Meteore als Transportmittel nicht geeignet, da sie in glühendem Zustande auf die Erde fallen. Dagegen weiß man, daß sehr leichte Körperchen durch den Lichtdruck fortbewegt werden können; es könnten also wohl auf diese Weise leichte, durch ihre bekannte hohe Lebenszähigkeit für die Reise besonders geschickte Sporen von fremden Welten auf unsere Erde eingewandert sein. Doch würde damit unser Problem nur auf einen anderen Welt- körper verlegt werden, so daß wir um das Problem selbst nicht herumkommen. Es muß also irgendwann und irgendwo im feuchten Schlamm eine solche Vereinigung von Stoffen zustande gekommen sein, die schon die Eigenschaften des Plasmas zeigte: kleine, schleimige, amöbenartige Kkümpchen im Weltmeer.„Im weiten Meere mußt du anbeginnen!" rät Proteus dem Homunkulus(Faust II ),„und bis zum Menschen hast du Zeit", sagt Thales später zu ihm. Frei- lich, denn unsere Phantasie kann sich diese Urwcsen nicht einfach genug vorstellen. Die einfachsten Wesen, die wir kennen lernten, die Bakterien, Amöben, sind schon verhältnismäßig hoch entwickelt, da sie schon deutlich einzelne Teile erkennen lassen, die man als primitive Zellorgan-e ansehen kann und die schon das Resultat einer langen Entwickelung sein müssen. Also noch einfacher müssen die Urwesen sein. Was ihre physiologischen Eigenschaften angeht, so kann man annehmen, daß die Urwesen thermophil(wärmeliebend) waren, vergleichbar den merkwürdigen thermophilen Bakterien, welche sich noch in 70» heißem Wasser herumtummeln. Außerdem muß man an ihren Stoffwechsel noch eine Forderung stellen. Er muß von der Art der grünen Pflanzen sein, da ja die Urwesen noch keine organischen Stoffe vorfinden und allein aus den Bestandteilen der sie umgebenden leblosen Natur schöpfen müssen. Doch dürften es auch nicht etwa kleine grüne Algen gewesen sein, weil die Aus- bildung des grünen Chlorophyllapparatcs schon eine verhältnismäßig hohe Organisationsstufe bedeutet. Also farblose Plasmamassen einfachster Ernährungsweise, so haben wir uns die Urwesen zu denken. Unter den Bakterien kennt man sogar eine Art, die, was die Ernährungsweise anbetrifft, der obigen Forderung entsprechen würde. Das sind die sogenannten Salpetcrbakterien des Acker- Hodens, die ganz und gar wie die grüne Pflanze ihre Nahrung aus der anorganischen Natur beziehen, aber dazu nicht des Lichtes und des Chlorophylls bedürfen. Allerdings gibt es noch eine andere Schwierigkeit. Augenblick- lich erhält sich das Leben auf unserer Erde durch das Zusammen- wirken verschiedenartiger Organismen. Wie hat sich nun aber ganz im Anfang, als das einfachste Urwesen entstand, das Gleichgewicht der Stoffe erhalten? Mußte sich nicht binnen kurzem die Erde mit einem schleim salpeterbakterienartiger Urwesen bedecken, die frei von jeder Konkurrenz sich ungeheuer vermehrten und rasch alle in Plasma umsetzbaren anorganischen Stoffe in organischen Verbin- düngen festgelegten? Es wäre ja allerdings denkbar, daß der Ur- sprung des Lebens nicht einheitlich war, sondern von Anbeginn an verschiedenen Orten unabhängig voneinander verschiedene Urwesen aus dem„Schaum geboren" wurden. Wir wollen uns aber nicht allzu weit in diese Urfragen verlieren, ich wollte nur zeigen, daß *) Aus dem soeben in der Sammlung„Natur und Geistes- Welt"(bei B. G. Teubner in Leipzig und Berlin ) erschienenen Bänd- chen: Allgemeine B i b l i o g i e, eine übersichtliche Einfüh- rung in die Hauptprobleme der organischen Natur.(Preis geb. 1 ,25 M.)
die Physiologie der Urwesen mindestens ebenso viel Probleme bietet, als ihre gewöhnlich allein diskutierte Struktur und Form. Die Annahme einer Urzeugung ist also eine unabweisbare Forderung. Geht sie auch jetzt noch auf unserer Erde, etwa in den Tiefen des Meeres vor sich? Früheren Zeiten machte der Gedanke keinerlei Schwierigkeiten. Aristoteles glaubte, daß Frösche und Aale aus dem Schlamm entstehen könnten, und erst vor wenigen Jahrzehnten ist durch Pasteur endgültig die Vorstellung beseitigt worden, daß Bakterien aus faulenden organischen Flüssigkeiten�von selbst entstünden. Für die moderne Biologie gilt der strikte Satz, daß Leben nur von Leben stammt, nie hat man beobachtet, daß aus organischen Bestandteilen etwas Lebendes hervorging. Wohl aber sieht man, wie das Umgekehrte stattfinden kann. Um ein auffallendes Beispiel zu nennen, so sind die Kreidefelsen von Rügen einmal Bestandteile lebender Organismen gewesen, da sie aus den Kalkgchäusen niederster Meertierchen bestehen. Wie, wenn es sich mir den anderen Bestandteilen unserer Erde ebenso verhielte, und diese nur ein Ausscheidungsprodukt des Lebens wäre, um so mehr, da fast sämtliche Elemente gelegentlich in Lebewesen gefunden werden? Dieser groteske Gedanke ist tatsächlich aus- gesprochen worden. Das Leben soll von Anbeginn bestanden haben. Die ganze feuerflüssige Erde war ein Lebewesen. Da aber das Leben dann nur als eine von Anbeginn existierende Bewegungsform der kleinsten Teilchen, die die Welt zusammensetzen, definiert wer- den kann, so verflüchtigt sich der Begriff des Lebens zu einem ganz fremdartigen, wesenlosen Nebel, mit dem der Naturforscher nichts anzufangen weiß.
kleines Zeuilleton. Charlottenburger SchiUer-Theater:„Jugenü*. Das Schiller-Theater feierte den fünfzigsten Geburtstag Halbes mit der Aufführung von dessen berühmtem, unter allen Dramen, die die junge naturalistische Bewegung in der ersten Halste der neunziger Jahre brachte, ineist gespieltem Jugendwerk, in dem der Dichter fort- leben wird. Der Kern dieser Szenen, der naive und dann so drückend schwermutsvolle Stimmungszauber, prägt sich in volksliedmätziger Einfachheit und Kraft unverlierbar der Erinnerung ein. Jugend in ihren Reizen und Hoffnungen, in ihrer wehrlosen Befangenheit der übermächtigen Triebe erster Liebe gegenüber, in ihrer taumelnden Verblendung, der ratlosen Angst und Scham vor dem Geschehenen— zieht, nachgebildet in schlichter Natürlichkeit am Blick vorüber. Das weniger Gelungene, lheatermäßig Konstruierte,— der allzu pathetisch warnende Kaplan und die Gewaltsamkeit des Ausgangs— tritt unter diesem Glänze weit zurück. Das Publikum folgte in reger Empsänglichkeit und dankte mit demonstrativem Applaus. Fräulein Gusti Bäcker, die�im Laufe der Jahre zahllose Backfischexemplare vom gewohnten schlage zu spielen hatte, über- raschte durch eine über die oft bewiesene Routine sich weit erheben- des Aennchen von frischer, sprudelnder Ursprünglichkeit. Das ganze Figürchen federte von verhaltenem Frohsinn und liebenswürdig expansiver Herzlichkeit. Der kindlich rückhaltlose Enthusias- mus, in dem das Seelchen dem Vetter Studiosus ent- gegenfliegt, kam auf das treffendste zum Ausdruck. Ihr Partner Walter W e y m a n n gab Hans zu sehr als dummen Jungen. Etwas davon steckt wohl in der Figur, doch diese Dumm- heit ist im Grunde nur Unerfahrenheit. hat keine Beimischung von Zügen bequem zufriedener Gymnasiastenart. Im Gegenteil. Nach des Dichters Weisung soll die Gestalt die Ansätze nervöser Zerrissen- heit verraten. Um so plastischer lrat Noacks menschenkundiger und menschenfreundlicher alter Pfarrer hervor. Eine ausgezeichnete Leistung, die sich in den erregten Szenen des Schlußaktes zu im- gewöhnlich tiefer Wirkung steigerte. ät.
Goethes Mutter zur Zeit öes Iranzosenkrieges. In diesen Tagen, die viele leiden und Tausende von Frauen aus Sorge um ihre Lieben zagen sehen, ist es von mehr als kultur- historischem Interesse, sich in die Zeil Goethes zurückzuversetzen und sich das Beispiel echt weiblich-deutschcn Mutes in Erinnerung zu rufen, das Goethes Mutter in den— damals so schlimmen— Monaten der französischen Gefahr ihren Mitbürgern bot. Wieviel schwere und zudem für Deutschland unglückliche Kriegsjahrc hatte Frau Aja mitzumachen I Um 1793, während der für uns so wenig rühmlichen Kampagne gegen die Franzosen , zitterte man in Frank-
furt wochenlang vor einem Ueberfall des Feindes, der das nahe- gelegene Mainz bereits erobert hatte. Die wildesten und unsinnigsten Gedichte durchschwirrten die Stadt, und in später Abendstunde erscheint im Nachtgewand und völlig aufgelöst eine Freundin bei Frau Rat und erzählt ausgeregt von glühenden Kugeln, mit denen die Franzoicn von jenseits des Rheins Mannheim bombardierten. Ach was. meinte die alte Dame gleichmütig, das könne doch nicht sein, denn die Kugeln müßten, wenn sie über das breite Wasser geflogen seien, längst wieder kalt sein, bis sie nach Mannheim hineinkämen. Sprachs und legte sich zur größten Verwunderung ihrer ganz ver- blufften Freundin ruhig ins Bett. Auch als der weite Rogmarkt. auf den sie voir ihren Fenstern blicken konnte, sich mit Fliehenden und Fuhrwerk derartig füllte,„daß einem angst werden kann", ver- liert Frau Aja den Kopf nicht, sondern wünlcht,„daß alle feigen Memmen fortgingen, so steckten sie die anderen nicht an". In- zwischen pflegt sie Verwundere, speist ihre preußische Einquartierung und hat ein„königlich Pläsier", mit welchem Appetit die Soldaten den Schweinebraten verzehren, den sie ihnen vor- setzt. Abends geht sie in die„Comedie ", damit der Geist frisch bleibt, schläft ihre acht Stunden und ist immer bei gutem Humor. Nur einmal läßt sie sich von der allgemeinen Angst und Verwirrung anstecken. Die Franzosen sind derartig mit Menschen und Eigentum umgegangen, keiner ist mehr seines Lebens sicher, daß Frau Rat aus dringende Vorstellungen ihrer Freunde ihre Möbel und sonstigen Kostbarkeiten in den Keller bringen läßt und mit ihren Mägden auf eine Nacht nach Offenbach zu Madame la Roche„emigriert". Aber schon am nächsten Tage kehrt sie ganz beschämt wieder in„den goldenen Brunnen" zurück, und wenn die Franzosen die Stadt auch wieder beschießen, sie geht nicht mehr fort. Wohl bricht sie in einem Brief an den Sohn einmal in den Stoßseufzer aus:„Herr jemine l Wahrhaftig die Frau Aja wird recht gedrillt— Gott ! erhalte mir meinen guten Muth und mein fröhliches Hertz." Ihre gute Natur half ihr über vieles hinweg, unter dem ihre Zeitgenossen fast er- lagen. Wie oft vertreibt sie sich die Zeit mit einem Scherz. Wie köstlich schildert sie ihrem Sohne ihre„Flucht" nach Offenbach , die wirklich gar nicht gefahrlos war, denn die Stadt wurde heftig be- schössen und brannte bereits an allen Ecken und Enden; dazu war für viel Geld und gute Worte kein Fuhrwerk zu haben und alles in wildester Aufregung und Verwirrung.„Es ist ein Odemholcn unter Henkcrshand", gesteht sie selbst über diese schrecklichen Tage, und doch ängstigt sie sich nicht vorher, sondern spart ihre Kräfte für die Unter- stützung ihrer Mitmenschen.„Denn wir können dem Rade des Schicksals, ohne zerschmettert zu werden, doch nicht in die Speichen greifen." Das ist der Grundgedanke ihrer bodenständigen Lebens- Philosophie._ vie englischen Kriegspostkarten. Die englischen Kriegspostkarten haben eine für die Stimmung in der Bevölkerung vielleicht bezeichnende Wandlung durchgemacht. Wie die„Daily News' feststellen, sind die Karten lange nicht mehr so haßerfüllt und siegestrunken wie in den ersten Kriegsmonaien. Vor einem Jahre waren Karikaturen schärfster Art auf Deutschland besonders begehrt, jetzt aber ist eine etwas bescheidene Senlimenta- lität in der Kartenindustrie vorherrschend. Zwar gibt es noch immer verschiedene„Haßkarten", doch sind sie durch die schnell beliebt ge- wordenen neuen Drucke ganz in den Hintergrund gedrängt. Das Publikum hat, wie das Londoner Blatt meint, sein Interesse am Haß eingebüßt. Dafür wächst die Zahl der sentimentalen und lyrischen Bilder voii Tag zu Tag. In jedem Schaufenster erblickt man den„Abschied des Soldaten" und die„Heimkehr des Kriegers". Dte meisten Karten sind auf die sogenannte Kino-Rührseligkeit zugeschnitten. So siebt man einen jungen Soldaten, der als Silhouette vor einem Zelt auf Wache steht, und über ihm. zwischen den ziehenden Wolken des Himmels, erscheint geisterhaft das Gesicht eines jungen Mädchens. Darunter steht:„Denkst Du auch manchmal an mich?..." Sehr beliebt sind auch pathetische Serien mit schluchzenden Schwestern, weinenden Müttern und den Schmerz verbeißenden jungen Leuten in Khakiuniform._ Notiz». — Theaterchronik. Im Theater in der KZniggrätzcr Straße muß die für Sonnabend, den 9. Oktober, angesetzte Erst- aufführung von Kleists„?Imphitryon" verschoben werden. Dafür findet die Erstaufführung von Slrindbergs Drama„Der Vater" statt. — Engelbert Humperdinck hat zu Shakespeares „Sturm" eine umfangreiche Musik komponiert, die bei der Erst- aufführung des Werkes in der Volksbühne am Freitag zur Wiedergabe gelangt.
Rotes vlamenblut. Von Pierre Broodcoorens . Die Ellbogen auf dem Schanktisch, fixierte sie ihn mit einer plötzlichen, begehrlichen Flamme ihrer durch das Liebes- fieber erschlafften Augen. Er genierte sich sehr, spuckte zwischen seine beiden Füße. „Ich Hab' an einer Frau genug, siehst Du." „So heißt's immer, aber dann kommt's anders." Oh, aber bei ihm war's die pure Wahrheit. Er dächte, daß er mit Hilla Citters zufrieden sein könnte. Nicht ohne sichtliche Verlegenheit drehte er zwischen seinen Fingern mit ihren ungepflegten eckigen Nägeln den Liebes- brief hin und her, dessen rosenfarbene Marke in dem fettigen Umschlag verschwand. Nölis stieß mit den Portionen für die vier Radaubrüder, die sich jetzt vernünftiger betrugen, beladen, im Vorbeigehen Souhe an. Souhe suchte mit den Augen einen bequemeren und besser beleuchteten Platz. Entschieden gab es eine besondere Nachricht. Es verhielt sich so: Erst heute morgen hatte er einen vergnügten Brief von Hilla erhalten, in dem sie ihm ausführlich alle Ver- gnügungen erzählt hatte, die das Weihnachtsfest gebracht hatte. Auch teilte sie ihm mit, daß sie sich auf eine stattliche Hochzeit vorbereitete, die auf den Dreikönigstag fiel und in Riebekc im Gasthaus zum„Weißen Roß" gefeiert werden sollte. Sie bedauerte von Herzen, daß er nicht kommen konnte, um mit den Leuten vom Coin-des-Tisserands von dem guten Punsch zu trinken. Aus schwerem Herzen und mit verdüsterter Stirn seufzte er auf. Virus, der mit dem Heißhunger seines krankhaften Zu- standes alle Teller rein abgegessen hatte, näherte sich ihm interessiert: „Neuigkeiten, Brüderchen?" Briefe waren für sie wichtige Ereignisse. In der Regel kam in ihrem Nomadenleben auf alle zwei, drei Monate einer. Aufmerksam buchstabierte man ihn, um ihn dann stundenlang unermüdlich Zeile für Zeile durchzusprechen. Auch erweckten sie angenehme Erinnerungen und enthielten immer ein liebes Wort für die Freunde. Das machte ihnen Vergnügen. Souhe holte einen Stuhl herbei und richtete sich in dem Lichtstreifen einer Gasflamnie ein. Er antwortete Vicus:
„Wahrscheinlich! So Gott will, �ist es nichts Ernstes. Denn die Schrift ist mir unbekannt. Sonderbar!" Auf dem blauen Umschlag hob sich breit, mit dicken, kind- lich unsicheren Buchstaben die Aufschrift ab: „An Herrn— Herrn Franeois Flohil— bei Herrn Isidore Boussart— in der„Stadt Renaix"— Rue de la Poste— in Bracqungnies(Hainaut)." Nein, wahrhaftig: Soühe hätte nicht sagen können, warum ihm, als er sein Messer öffnete, die Finger zitterten. Es war eine schreckliche Waffe, mit der man Kaninchen schlachtete. Die breite, scharfe Klinge war aus gutem, eng- lischein Stahl. Sie hatte ihren eigenen, in Hirschhorn ein- gelassenen Griff zur Scheide. Mit ihrer scharfen Spitze holte Souhe mit einer schnellen Kreisbewegung— wie man Miesmuscheln öffnete—, wenn er Kaninchen schlachtete, wie blutige Zwiebeln die Augen aus den Höhlen heraus. Ja, es war ein fürchterliches Werkzeug des Todes. Sein Metall warf im Schein des Gaslichtes kurze, kalte Blitze. Vorsichtig nahm Souhe den Brief, der ihm auf den Knien lag. Langsam öffnete er den Umschlag. Vor ihm hörte Vicus, die Hand in der Tasche, nicht auf sich zu wundern. Was für ein Kerl, der Flohil! Aber er sah, wie die Brauen des Kameraden zuckten und dann sich mechnisch zusammenzogen. Seine Augen wurden weit und starr, um sich gleich darauf zusammenzukneifen. Sein männliches Gesicht veränderte sich, schien sich an das Papier heften zu wollen, entfernte sich dann lebhaft, wie von einer Wespe beunruhigt. Sein Atem ging heftig. All' diese flüchtigen Eindrücke wiederholten sich wie Reflexe, die die Flamme in den Wasserkugeln der Apothekenschaufenster erregt, in dem bleichen, naiven Gesicht des Harmonikaspielers. „Um Himmelswillen! He, was ist geschehen, lieber Souhe?" „Nichts, was Dich angeht." Seine Stimme war schneidend rauh. Seine dicken Finger versuchten linkisch das Papierblatt in den Umschlag zurück- zuschieben. Es gelang ihnen nicht und er stopfte das Ganze zornig in die Hosentasche. „Souhe! Freund!" Er hatte sich erhoben, Souhe mit aschfahlem Gesicht, weiten Nüstern und starren Augen. Vicus sah, daß er entschlossen war, nichts zu sagen, und daß er nicht gut daran tun würde, noch weiter in ihn zu drängen. „Ein Glas Klaren, Dila!" Mit schwankendem Schritt hatte Souhe sich zum Schank-
tisch begeben. Als aber die Wirtin, während sie ihm ein großes Glas Gencver eingoß, ihn fragend anblickte, erwiderte er ihren Blick geradezu mit Feindseligkeit. Dilas Augen zwinkerten. Ihr Gesicht nahm einen Aus- druck freiivilliger Uninteressiertheit an und sie wandte Souhe den Rücken. Aber das war ihm gleichgültig. Er hatte den Trank mit einem Zuge hintergegossen, setzte dann das Glas hart auf das Zink des Tisches zurück und ging. ohne ein Wort zu sagen. Vicus dachte:„Es muß sich um eine eklige Geschichte handeln." I Jähe Blutwallungen marterten ihm die Schläfe, und Bruch- stücke eines alten Liedes von Mewc Jesus plagten sein Gc- dächtnis: „Es verspricht mir mein Schatz Einen teueren Besatz. In solchem Flor Komm sein' würdig ich ihm vor." Blitzschnell sah er die alte Hexe vor sich, wie sie bei der roten Hcrdglut unter dem mit weichen Rußflocken über- zogencn Kaminmantel Saubohnen aushülste. Jrrwischglcich zerrann das Gesicht wieder. Alles war wieder schwarz um ihn. Mit einemmal gedachte er des Briefes und eine glühende Spitze bohrte ihm ins Hirn. „Es ist eine schändliche Lüge, eine Gemeinheit I Ah, Herr- gott, gottverflucht!" Mchreremal wiederholte er stieren Auges den Fluch, und betäubte sich mit anderen verachtungsvollen, rauhen Worten. Sehr schnell schritt er gerade vor sich hin, indem er mit dem Aermel die finsteren Hauswände streifte. Seine rechte Hand zerknüllte in der Tasche das Stück Papier . Als er die„Stadt Renaix" verließ, überwältigte ihn ein Schwindelanfall. Sein Blut machte ihn blind wie einen Ochsen unter dem Hammer. Aber schnell hatte er sich wieder gefaßt, seine Brust ivurde wieder frei und sog wild die eisige Januarluft in sich hinein, die ihm seine Hitze kühlte. O, allein sein, damit er alles überlegen, die Dinge mit kaltem Blut prüfen konnte! Aber würde er die dazu unerläßliche Ruhe ausbringen können? Immer schlug der Stoß ans Trommelfell, der sein Herz getroffen hatte. Er hatte ein nervöses Lachen. Sein Blut toste in ihm lvie eine Wasserflut gegen ihre Dämnw. Und der Aufruhr, das Chaos seiner Empfindungen und Ge- danken schien dem jähen Brausen des Saftes zu antworten, der ihn erregte.(Forts, folgt.