Nr. 274.- 1915.
Unterhaltungsblatt ües vorwärts
SlittttftM, 27. November.
Mes und Neues in der Kriegstechnik. Eine eigenartige und überraschende Erscheinung im jetzigen Kriege ist daS vielsach zu beobachtende Zurückgreifen auf alte, längst für abgetan gehaltene Kampfweisen, Angriffs- und Verteidigungs- mittel, die aber olle durch den unS ebenso ungewohnten und des- halb unerwartet gekommenen Stellungskrieg bedingt wurden. Dieser verlangt zur erfolgreichen Durchführung besondere, seiner Eigenart angepaffte Verfahren, Waffe», BerteidigungS-, SicherungS- und Angriffsmittel, für die im Bewegungskriege kein Bedürfnis vorliegt und in diesem überhaupt nicht oder doch nur vereinzelt brauchbar sein würden. Hierzu geboren unter anderen die Verwendung von Handgranaten, die zun. Werfen solcher dienenden Vorrichtungen, die Eutwickelung von Rauch und stickenden Gasen, das Unterhöhlen und Sprengen feindlicher Stellungen, sowie das Unterwassersetzen vom Feinde bedrohter Geländeteile. Haben sich die Soldaten mit ihren Schützengräben in die Erde cingeivühlt, so kommen, auffer zur Abwehr von Sturmangriffen, die Gewehre kaum noch zur Anwendung, da sich ihnen nur selten ein Ziel bietet. Auch Geschütze sind hier ineist wirkungslos und ihre Verwendung hat nur dann Zweck, wenn es sich darum bandelt, durch einen förmlichen Regen schwerer Geschosse den ganzen Erdboden auf- zuwühlen, uin hierdurch die Schützengräben und die vor diesen er- richteten Drahtverhaue zu zerstören und unhaltbar zu machen, ein Verfahren, daS immer mehr zur Vorbereitung von Sturmangriffen benutzt wird. Zur Hauptwaffe für die Schützengräbenkämpfe sind die Handgranaten geworden, die schon bald nach der Erfindung des Schieffpulvers aufkamen. Sie wurden von den noch heute in fast allen Armeen wenigstens dem Namen nach ver- tretsnen Grenadieren, einer aus besonders kräftigen Leuten bestehenden und für ihre Zwecke eigenS ausgebildeten Truppe, in die feindlichen Reihen geschleudert. Mir den Verbesserungen der Geschütze und Geschosse, welche die FestungS- und Schützengraben- kämpfe immer aussichtsloser gestalteten, verschwand die Handgranate, unr mit dem Wiederauftauchen der Siellungskämpfe in den Kriegen der letzten Jahrzehnt« und vor allem in dem jetzt tobenden Welt- kriege von zreuem wieder in Tätigkeit zu treten. Während sie aber früher unt auch zu Anfang des jetzigen Krieges nur mit der Hand geworfen wurden, wobei die Wurfseite ziemlich beschränkt ist, ver- wendet man dazu jetzt vielfach besondere Vorrichtungen, sogenannte Minen« oder Bombenwerfer. Diese weisen die verschiedensten Ge- stallen und Einrichtungen auf, wobei man oft auf alte Vorbilder zurückgegangen ist. Zu solchen gehören auffer der uralten Schleuder und dem nicht minder alten Bogen eine ganze Reihe von Einrichtungen, welche an die vor Jahrhunderten gebräuchlichen Wursmaichinen er- innern und die Granaten entweder mittels Schieffpulver oder mittels der Spannkraft von Sehnen, Federn, Preßluft und dergl. in die feind- lichen Gräben schleudern. Die Minenwerfer wirken ähnlich wie die Mörser, indem sie den Feind mit steil einfallenden Geschossen bewerfen. Jedoch besteht in- sofern ein wesentlicher Unterschied, als sie ihren Geschossen nur eine geringe Anfangsgeschwindigkeit erteilen. Diese fliegen deshalb nicht weit, selten über 100—200 Meter und so langsam, daß es bei ge- nügender Aufmerksamkeit möglich ist. ihnen auszuweichen. Die Truppen stellen deshalb bei den Handgranatenkämpfen vielfach be- sondere Posten auf, die beim Ankommen von Geschossen durch den Ruf:.Mine rechts" bezw..links" ihre Kameraden warnen, die dann stets nach der entgegengesetzten Seile auszuweichen haben. Dieses Warnverfahren war bei den Wurfgeschossen in alter Zeit ebenfalls gebräuchlich. Beim Festungskampf in den ältesten Zeiten und nicht weniger bei den häufigen BelagerungSkricgen im Miitelalter war das Aus- räuchern der Verleidiger in den defestigten Stellungen ein beliebtes Kampfmittel. Halte man die Festung bezw. den befestigten Orr oder die Burg eingeschlossen, so wurde an deo Toren oder an sonstigen geeigneten Stellen FeuerungSmaierial, und zwar vor allem leicht entzündliches Stroh, Holz und Reisig aufgetürmt, mit Oel oder Teer getränkt und in Brand gesetzt. Hierdurch wurde bei hölzernen Be- festigungswerken eine Zerstörung dieser aber auch gleichfalls eine Vertreibung der Verteidiger durch den entwickelten Rauch beabsichtigt. Bedingung war dabei allerdings eine günstige Windrichtung, die daS Feuer und den Rauch den Feinden zutrieb. Wenn unsere Truppen heute ähnlich vorgeben, indem sie vor Ein- leitung eines Angriffes bei passendem Wind an der Kampffront kräftige Rauchwolken oder betäubende Gase entwickeln, die von der tkuitbeweguilg in die feindlichen Slellungen getragen werden, und hier die Soldaten belästigen oder gar betäuben, so ist daS keineswegs etwas Neues. Der einzige wesentliche Unterschied gegen früher besteht nur darin, daß uns infolge der besseren chemischen Kennt- nisie kräftigere Mittel zu Gebote stehen. Daß auch unseren I
Vorfahren wirksame Mittel dieser Art nicht fehlten, beweisen die Stinkbomben, die von chinesischen Seeräubern bereits seit Jahr- tauiendcn benutzt und in die angegriffenen Schiffe geschleudert wurden, um deren Bemannung zu betäuben und dadurch kämpf- unfähig zu machen. Im Jahre 1812 und nochmals zur Zeit des Krimkrieges 1855 wurde von dem englischen Admiral Lord Dun- donald die Benutzung von Schwefeldämpsen in den derzeitigen Kriegen gegen die Franzosen bezw. Russen in Vorschlag gebracht. In beiden Fällen kam es jedoch nicht zur Ausführung des Vorschlages, da man in den Kreisen der englischen Heeresverwaltung des Erfolges zu wenig sicher war. Nicht selten lesen wir in den Tagesberichten von denKriegSschau- Plätzen, daß feindliche Grabenstücke in die Luft gesprengt und dann erstürmt wurden. Behufs Vornahme solcher Sprengungen wird die feindliche Stellung von einem Schützengraben aus mit einem Minen- gang unterfahren. Dabei ist besondere Vorsicht geboten, damit der Feind die Annäherung nicht merkt. Hat der Gang das Ziel erreicht. was durch möglichst geiiaue Massungen, am besten mit Hilfe eines Kompasses oder sonstiger Winkelinslrumente oder durch vorsichtiges Anbohren des feindlichen Grabens zu ermitteln ist, so wird unter diesen eine kräftige Sprengladung angebracht und entzündet. Die dabei gebildeten Sprengirichter, von nicht selten 5 bis 10 Meter Durchmesser und 2 bis 3 Meter Tiefe, werden rasch von den Truppen besetzt, um von ihnen aus weiter in die gegnerischen Stellungeil vorzudringen. Auch dieses Kampsmittel ist nicht neu. sondern rm FestungSkriege von jeher gebräuchlich. Man suchte früher vor allem die Festungsmauern und Wälle durch Minengänge zu erreichen und durcd Sprengungen zum Einsturz zu bringen. Die dadurch ge- schoffenen Lücken dienten dann als Einfalltore in die feindlichen Werke.______ kleines Zeuilleton. Die �öelkastanie. Zu den verbreitetsten Winterfrüchten, in denen sich zugleich ein vorzügliches Nähr« und Speisemittel darstellt, gehören die Edel- kastanien. Enthalten sie doch in ihrer Substanz bis zu 75 Prozent Stärke und Zucker, einen größeren Teil Stickstoff und einen geringen Teil Fett: sie stehen alio hinsichilich ihres Nährwertes fast dem Weizenmehl gleich. Dieser Umstand hat denn auch nicht zuletzt dazu beigetragen, daß man die Früchte der Edelkastanie zur Gewinnung von Mehlprodulten benutzt. Die Kasianie verdankt ihren Namen der mazedonischen Stadt Castaneo Magnesia, und sie hat eine Geschichte, die mindestens ebenso alt ist wie die der Trüffel. Bei den Römern schon wurde die Kastanie vielfach verwertet. Sie machten bereits aus ihr Mehl und Brot, wie daS auch heute noch in vielen Orten der Provinz Toscana und vor allem in der Gegend von Siena der Fall ist. Im Mittelalter versicherte die berühmte Scknile von Salorno , daß die Kastanie, vor den Mahl« zeiten genossen, als zusammenziehendes, nach den Mahlzeiten als Abführmittel wirke. Die kleinsrüchligen Edelkastaniensorlen stehen den größeren Früchten, was den Geschmack anlangt, nicht viel nach. Diese kleineren Edelkastanien trifft man nämlich in Süddeutschland , in der Rhcinpsalz, in der Bergstraße, serner im Münsterland , in Oesterreich-Ungarn und in Böhmen . Um die Kastanien längere Zeit aufbewahren zu können, tut man gut daran, sie zu trocknen, um das Keimen zu verhindern. Die Edelkastanien geben geschält und leicht geröstet zu Grün-, Wirsing- und Rosenkohl eine gutschmeckende Zuspeise. Auch kann man sie gerieben als Zusatz zu Teltower Rüben verwerten, da beide Gemüse einen ähnlichen Geichmack haben. Aber der Baum der Edelkastanie liefert nicht nur ein gutes Nahrung?- mittel: auch sein Holz wird geschätzt. Er gleicht dem Eichenholz und hat unter Wasser eine lange Dauer. Dabei hat es den Borleil. daß es sckiön weiß oder hellbraun ist. sehr feinfaserig und höchst geschmeidig. Außer im Schiffbau findet daS Holz auch als Tischler- und Drechsler- bolz vielfach Verwendung. Die französischen Weinfässer bestehen fast ausschließlich aus Kasianienholz, und der schlank aufwachsende Stock- ausschlag gefällter Bäume liefert Faßreisen sowie vorzügliche Wein- pfähle. Die Rinde des Baumes dient außerdem zum Gerben.
wenn Sie rutsche Polizei etwas verdienen will. Von den Haussuchungen und Verhaftungen, die unter der Herrschaft der russischen Polizeiwilllür in Warschau stattfanden, entwirft der„Dziennik Polski" eine erbauliche Schilderung: Zur Förderung von Bildungsbestrebuligen hatten sich 18 Mitglieder der
Arbeiterkrankenkasscn, die zu den gesetzlich erlaubten Verbänden gehörten, zusammeiigefunden. Die Beratungen hatten noch nicht begoilnen. als sich plötzlich die Tür öffnete und der Direktor der Geheimpolizei mit zahlreichen Polizisten und Gendarmen ins Zimmer trat. Als die Versammelten sich von dem ersten Erstaunen erholt hatten, erklärten sie den Eindringlingen, daß wahrscheinlich ein irrtümlicher„Donos " sAnschuldigung) vorliege, da diese Ver- sammlung ja behördlich genehmigt worden sei. Nach längerem Hin und Her wurde den Versammelten mitgeteilt, daß sie unerlaubte Beratungen abhielten, und daß darüber ein Protokoll aufgenommen werden müsse. Alle Ausgänge wurden besetzt, worauf die Anwesen- den aufs genaueste untersucht und alle Papiere, die man vorfand, mitgenommen wurden. Gleichzeitig fanden in den Wohnungen aller Beteiligten eingehende Haussuchungen statt. Alle, die der Versammlung beigewohnt hatten, auch der Pförtner des Hauses. wurden verhaftet und abgeführt. Drei Tage später erhielten alle ein amtliches Schreiben, in dem sie revolutionärer Bestrebungen bezichtigt wurden. Nach zwei Wochen wurden einige freigelassen, während die anderen vom Oberpolizeimeister zu 1 bis S Monaten Haft im Polizeigefängnis verurteilt wurden. Durch gute Worte, d. h. natürlich: durch klingende Münze, gelang es den Verhafteten. in eine gemeinsame Zelle zu kommen; hier führten sie ein gutes Leben, denn sie erhielten auf Umwegen, die mit Gold gepflastert waren, alles, was sie sich nur wünschen konnten: Zeitungen, Bücher, Geld, Nahrungsmittel usw. Und warum hatte man unbescholtene friedliche Bürger urplötzlich revolutionärer Umtriebe bezichtigt? Weil das Jahr zu Ende ging, ohne daß sich in der Stadt etwaS Be- sonderes ereignet hätte! Um aber die üblichen Gelder für besondere Verdienste und den Neujahrszuschuß zu erhalten, sahen sich die Polizei- und Gendarmeriebeamten genötigt, eine Heldentat zu be- gehen, um ihre ftuchtbare Tätigkeit in dem„revolutionären" Polen ins rechte Licht zu setzen..._ wie weit ist es nach Konstantinopel ! Von Wien der Donau folgend sind es 2800 Kilometer bis nach Stambul . Schon nach Sulma. wo der bestregulierte mittlere Donauarm mündet, beträgt die Fahrt rund 1800 Kilometer, so viel wie die Strecke Berlin — Konslantinopel für einen Flieger. Von Budapest ab sind es 260 Kilometer weniger bis zum Schwarzen Meer und von Belgrad nur noch 1100 Kilometer, der Luftlinie Wien — Paris vergleichbar. Dazu kommt noch die 460 Kilometer lange Dampferfahrt von der erwähnten Hafenstadt Sulina zum Bosporus , die der Rbeinstrecke Baiel— Köln ernsphcht. Biel kürzer, nur 1500 Kilometer, ist dagegen die Bahnverbindung Wien — Konstan- tinopel, die sich ab Budapest um 240 Kilometer verringert und von Belgrad etwa 940, von Risch 720 und von Sofia 580 Kilometer beträgt. Von dem in Luftlinie 240 Kilometer südlich gelegenen Saloniki aber sind es fast 700 Kilometer Bahnfahrt bis nach Konstanlinopel, also io weit, wie etwa die Strecke Hannover — Berlin — Danzig . Von Bukarest führt zum Hasen Warna , der Bahnfahrt Erfurt — Frankfurt entsprechend, ein 260 Kilometer langer Schienenstrang, und ebensoviel sind es von da zu Schiff nach der Türkenresidenz. die in etwa 15 Stunden erreicht wird. Von Sebastopol dauert die Ueberfahrt 30 Stunden, von Odessa aber IVa Tage, ebensoviel wie die Fahrt Athen — Konstantinopel , während eine italienische� SchiffSlinie voir Brindisi in FriedenZzeiten i1/« und eine französische von Marseille 8 volle Tage braucht._ Notize». — Keine d e u t s ch e n K r i e g S b r i e f m a r k e n. Im Gegen» satz zu anderen Ländern sollen im Deutschen Reich keine BrieftriegS« marken eingeführt werden. — T h e a t c r ch r o n i k. Als nächste klassische Neuinszenierung deS Theaters i. d. Königgrätzer Straße wird Goethes„Götz von Berlichingen " in einer neuen Bühnenbearbeitung von Friedrich Kayßler. der auch die Titelrolle spielt, vorbereitet. — Drahtbindfaden. Im Kriege hat sich der Papier - biirdfaden schnell eingeführt, und wo hohe Zugfestigkeit verlangt wird, müssen, wie der„Prometheus" mitteilt, Drahtbindfaden aus- helfen. Eiserne Drähte, die eine Zugfestigkeit haben, die selbst dem stärksten Bindfaden entspricht, würden aber so dünn sein, daß sie durch Einschneiden das Verpackungsmaterial zerstören würden. Macht man die Drähte aber dicker, so werden sie steif und lassei, sich nicht knüpfen. Deshalb ist man auf den Ausweg gekommen, den gesponnenen Papierfaden und dünnen Eisendraht zu vereinigen. Der Draht ist in Spiralen um den Papierfaden herumgewunden, also gewissermaßen mit dem Papierfaden verzwirnt. Ein der» artiger Drahtbindfaden entspricht allen Anforderungen.
Die Schicksalsmaus. EineErzählungvonTierenundMenschen. 14j Bon Harald Tandrup. „Es geht schon, Blomberg," antwortete der andere, in- dem er mit seinem Fühlhorn zu arbeiten begann. Tann schloß sich die Tür. und kurz darauf hörten sie ihn die Treppe hinaufstolpern. Blomberg rieb sich grinsend die Hände, während er im Zimmer auf und ab lief. „Den wollen wir schön übers Ohr hauen," sagte er. „Sie erinnern sich doch noch an den alten blauen Rock. An- dersen, den Sie dieser Tage ins Leihhaus getragen haben?" Andersen glaubte, er habe nicht recht gehört. „Das ist doch nicht möglich, daß ein so feiner Mann wie Sie, Herr Blomberg, diesen armen, blinden Menschen so an- führen will?" rief er erstaunt. „Natürlich will ich das— verdient er es vielleicht besser?" fragte Blomberg überlegen.„Sie brauchen sich das wirklich nicht zu Herzen zu nehmen, Andersen." „Zu Herzen nehmen? Eine Sünde ists, Herr Blomberg," erwiderte Andersen�heftig.„Ich sage das mit allem Respekt vor Ihnen, denn Sie sind inein Meister und ein viel ge- bildeterer Mann als ich, das weiß ich recht gut. Aber eine Sünde bleibt es in meinen Augen deshalb doch." „Sünde 1" zischte Blomberg.„Ich glaube, Andersen, Sie wissen nicht, was Sie sagen. Ich hielte es für eine Sünde, wenn man eine so gute Gelegenheit ungenützt vorübergehen ließe. Man findet das Geld nicht auf der Straße. Sie dürfen mirS glauben, eine derartige Sünde geschieht in jeder Stunde des TageS." .„Das mag wohl sein." sagte Andersen schüchtern.„Aber nur ists eben, als ob es dadurch, daß der Mann nicht sehen kann, schlimmer wäre." „Ach so— Sie halten es für eine besondere Sünde, einen Menschen an der Nase herumzuführen, weil er nicht sehen kann? Sja. wissen Sie, mein Lieber, die, die sehen können. werden nie betrogen I Es gibt Hunderte und aber Hunderte von Menschen, die einfach glotzen wie das Vieh, glotzen, aber nicht verstehen. Sie haben Augen, aber sie sehen nicht. Das sind die Tunnnköpfe, von denen die andere Hälfte der Men- scheu lebt..Gerade wie die Störche auf ihre Jungen ein- hacken, die irgendein Gebrechen haben, hacken die Menschen
auf die Aermsten ein, die in dem großen Wcttflug um das Auskommen nicht schnell genug fliegen können. So ists ein inal auf dieser Welt, Andersen, und Sie werden es nicht besser machen— und wenn Sie selbst Ihr Herzblut dafür gäben. Das alles kommt vom Geld." „Aber könnte nmn sich nicht wenigstens davon fern halten?" erwiderte Andersen.„Mögen die anderen böse sein, wenn man nur selbst ein gutes Gewissen hat." „Ja, auf diese Weise— nein, ich danke!" rief Blomberg. „Das hieße nichts anderes, als sich vom Spiel drücken. Aber wer einmal damit angefangen hat, kann sich nicht mehr zurück ziehen. Sie sind in diese Welt gesetzt, Andersen, und so heißt es einfach wählen, ob Sie die anderen auffressen oder von ihnen gefressen werden wollen. Etwas anderes gibt es nicht — Sie haben nur zwischen diesen beiden Dingen die Wahl. „Dann sollen sie in Gottes Namen mich fressen, wie Sie sagen, Herr Blomberg; denn ich werde mich nie dazu enb schließen können, andern Böses zu tun." „Wenn alle Menschen so wären wie Sie, Andersen, stünde es vielleicht besser auf der Welt. Sie erinnern mich an ein Lamm, und die Lämmer vertragen sich ja meist gut. Aber außer ihnen gibt es noch Wölfe und Raubtiere, und Sie dürfen nicht vergessen, Andersen, daß diese Tiere auch leben wollen und sich nicht von Gras nähren können wie die Lämmer, son- dcrn ausgerechnet Lämmer fressen müssen. So verwickelt ist die Welt. — Aber das mag meinetwegen sein, wie es will; jetzt sind Sie jedenfalls so gut und gehen zum Pfandlciher, um den Rock für den blinden Musikanten zu holen." „Wie Sie wünschen, Meister," erwiderte Andersen.„Ich werde alles hin, was Sie wollen, denn Sie sind ja der Herr und haben die Verantwortung zu tragen." „Freilich," murmelte Blomberg, während er den Pfand- zcttel hervorsuchte.„Sie können sidi darauf verlassen, An- dersen, daß Ihr feines Sonntagsgewissen nicht den geringsten Flecken bekommt. So, da hätten wir ihn ja!" Darauf reichte er seinem Gesellen den Zettel. und das zur Einlösung nötige Geld; Andersen schlüpfte in seinen Rock und ging davon. Als der Schneider allein war, wanderte er ein paarmal im Zimmer auf und ab, strich sich über die�Glatze, trat vor den zerbrochenen Spiegel und drehte seinen Schnurrbart nach oben. Dann ging er wieder zur Tür, verschloß sie und schaute auch noch zum Fenster hinaus, um ganz sicher zu sein, daß niemand, im Hof sei. der hereinsähe. Hastig wühlte er darauf in einer Schublade seiner Kom-j
l mode. Unter einem Haufen Wäsche fand er endlich eine ! kleine, flache Schachtel mit einem Sparkassenbuch und einigen Zetteln. Und nachdem er noch einmal ängstlich umher geschielt hatte, öffnete er das Buch und guckte hinein. Er lebte in der steten Sorge, mit diesem Buch könne etwas Unvorhergesehenes geschehen. Sobald er allem war, mußte er sich davon überzeugen, daß die Gesamtsumme wirk- lich unverändert und das kleine Kapital nicht auf irgendein? mystische Weise verschwunden sei. Das Geld war so merk- würdig unverdient gekommen. Noch befand sich alles in Ordnung. Es war nichts passiert. Ja, hier stand es schwarz auf weiß, daß er der Eigen- tümer des Geldes war; niemand hatte es ihm genommen. „Der Zitronenschneidcr ist doch nicht, ganz der, für den er gehalten wird," sagte er halblaut.„Vielleicht kommt doch noch der Tag, an dem die alten Leute daheim in Hulanid darüber reden werden, daß Jöns Blomberg zurückgekehrt ist. Nur immer hübsch Gedulb!" Sorgfältig legte er die Schachtel an ihren früheren Platz zurück und schloß die Kommode zu. Dann warf er sich auf sein ärmliches Bett und versank in Träume. Meister Grau kam von einem seiner Streifzüge in die Küche nach Hause. Schon am äußersten Ende des Ganges vernahm er eine Unruhe, ein Gewimmel, ein Pfeifen und Winseln von dünnen Stimmen, die ihm verrieten, daß sich die Familie vergrößert habe. Jedoch überraschend kam ihm das ja nicht. Sobald er die Nase in die Mäusewohnung hineinsteckte, rief ihm seine Frau voller Stolz entgegen: „Nanu, was sagst Du dazu?" „Wie viele sind es denn?" fragte er ängstlich. „Zwölf," antwortete sie glücklich. „Gott segne die lieben Kleinen," murmelte Meister Grau verzweifelt und fügte im Stillen hinzu:„Ich wollte, die Katze holte sie." Madame zeigte ihm eins nach dem andern. Sie waren ohne jeden Fehler, appetitliche, kleine, nackte Kerle mit rosen- roten Körpern und kurzen dünnen Schwänzchen, echte Maust- linder, die sich in ihrer Blindheit gegenseitig wegstießen und übereinander purzelten, während sie nach dem mütterlichen Trost suchten. Wenn sich eins von ihnen zu weit weg gewagt hatte, nahm es die Madame vorsichtig beim Genick und legte es zu den andern zurück. CMfofeU