Nr. 393.- 1915.Unterhaltungsblatt des vorwärtsSovvtag, 19. Dtimdkr.20?ahre Röntgenstrahlen.In den letzten Tagen des Dezember 189ä erschien in den Be-richten der Würzburger Akademie der Wissenschaften eine kurzeAbhandlung von Konvaid Wilhelm Röntgen über eine neueStrahienart, die er wegen ihrer bis dahin undekomiten Eigenschaften als X-Strahlen bezeichnete. Bald darauf war in Berlinauf einer von der Physikalischen Gesellschaft veranstalteten Feierdie erste mit X-Stvahon heigestellte Photographie, die Hand RSnt-gens. zu sehen, und nun erschien alsbald auch in den Tagesblätterneine Flut von Berichten und Beschreibungen der neuen wundersamen Entdeckuno, die es ermöglichte, die Knochen aus einemlebenden Körper heraus auf die photographische Platte zu bannen.Tie Zahl der kleinen und größeren Abhandlungen überstieg schonin einem Jahre tausend, aber der wissenschaftliche Erfolg dieserHochflut war nur gering, selbst nach der Arbeit mehrerer Jahrewußte man über die Eigenschaften der Strahlen nicht viel mehrals in den dvci kurzen Abhandlungen von Röntgen selbst auS denJahren 1896 und 1897 zu ersehen war und denen Röntgenweitere Arbeiten über dieses Gebiet nicht mehr hat folgen lassen.Dagegen hatte die neue Entdeckung sofort einen ungeheurenindirekten Erfolgt. Sie wirkt« als mächtiges Anregungsurittel, umdas bis dahin nur wenig bearbeitete Gebret der elektrischen Ent-ladungen in Gasen in Angriff zu nehmen. Außerdem wurden dieRöntgenstrahlen der Ausgangspunkt für eine weitere fundamentaleEntdeckung, die der Radioaktivität, die von Becguerel im Jahre1396 gemacht wurde.Vor allem aber entwickelte sich wegen der praktischen Anwend-barkeit der neuen Strahlen in der Medizin überraschend schnell eineneue technische Spezialität. Meistens erfolgt die Uebevtragungwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in die Praxis erst, wenn dieForschung auf dem betreffenden Gebiet schon weit vorgeschrittenist. Die von Hertz im Jahre 1888 enddeckten elektrischen Wellenbaden erst acht Jahve später den ersten Versuch einer praktischenAnwendung erlebt, und erst im Jahve 1901 war ihre praktische Ver»wcndbarkeit für die drahtlose Telegraphie erwiesen. Bei den Rönt-genstvahlen aber wurden wegen der Möglichkeit, am lebenden Man-schon die Knochen und andere innere Organe in ihrer imlürlichenLoge und Bewegung, sowie ihre Verletzungen und die Verlage-rungen eingedrungener Fremdkörper sichtbar zu machen, sofort alleHobel in Bewegung gesetzt, um den Apparaten einen für die Praxi»ausreichenden Zustand der Vollendung zu geben. Diese» Ziel istdenn auch in überraschend kurzer Zeit erreicht worden. In denersten Monaten de» Jahre» 1896 schätzte man sich schon glücklich,mit halbstündiger Exposition ein« leidlich scharfe Aufnahme vonHand- oder Armknochen zu erhalten. Heute erlangt man bereitskinematographische Aufnahmen deS pulsierenden Herzen» mit sechsbis zwölf Momentaufnahmen in einer einzigen Sekunde. Daß diehierbei gemachten großen Fortschritte sich gleichmäßig auf alleHilfsapparate erstrecken und einen tiefgreifenden Einfluß auf diegesamte physikalische Forschung ausüben mußten, leuchtet ohneweiteres ein. Wie ungeheuer und wie ungemein segensreich dieEndwickelung der Röndgenschen Entdeckung in der Herlkunde speziellin der Behandlung von Verletzungen ist, dürfte allgemein bekanntsoin, und ungezählte Taus ende erfahren es in den schwere» Tagende? gegenwärtigen KviogeS an ihrem eigenen Leibe.Die wissenschaftliche Erforschung der Natur der Röntgen-strahlen führte erst in den letzten Jahven, vor allem durch die vonLau« angeregten Versuche über die Beugung der Röntgenstrahlenbeim Durchgang durch Kristalle, zu der Aufhellung ihres Wesen«.Sie erscheinen danach al» eine der Lichtstrahlung ähnliche vontausendmal geringerer Wellenlänge. Eine Untersuchung ihre?Spektrums hat bereits in fruchtbarer Weife eingesetzt. Der umdiese Forschungen besonders verdiente von Laue ist erst vor wenigenTagen für sein« Tat mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden.Röntgen selbst, der diese Auszoichnung schon früher erhalten hat,wich seit dem Jahre 19<X> in München.kleines Feuilleton.deutsches Opernhaus:.Nigoletto."Mit.Rigoletto* leitete Gutseppe Verdi die zweite Pertodefeiner künstlerischen Entwicklung und überhaupt die Reihe seinerBühnenerfolge ein. Man tut nicht unrecht daran, dies Werk alsAusfluß äußerlicher Familtenschicksale und schwerster Seelenqualendes Komponisten anzusehen. Durch den Stroin dieser Melodien undHarmonien zittert die leidenschaftliche glutvolle Empfindung ihre»Schöpfer«, der ja bis dahin sich zum Narren deS Publikums verdammt wähnen mußte. Die der Oper zugrunde gelegte Handlungist spannend und spiegelt tiefste Tragik wider. Den romantischenEinschlag de« Brigantentum» muß man den Italienern zugute haltewVerdi zumal versteht damit musikalisch hinreißende Wirkungen zuerzielen.Ignatz Waghalter dirigierte mit Schwung. Die Regieblieb allerding« manches schuldig, woher es denn kam, daß einzelneVorgänge im ganzen unverständlich geblieben sein dürften. DieAusstattung geht an, ohne daß sie als hervorragend zu bezeichne«wäre. Die Titelrolle wurde durch JacqueS Bilk gesanglich nichtimmer reinlich— dafür schauspielerisch annehmbar vertreten. HertaStolzenberg al» Tochter des Hofnarren entledigte sich threrGesangsaufgabe vortrefflich, wenngleich man der Stimme nochmehr Beweglichkeit im italienischen Sinne wünschen möchte. BernhardBotel lHerzog von Mantua) erfreut mit seinem ausgesprochenlyrischen Tenor als dem reichen Erbteil seine? einstmals weit undbreit gerühmten Baters._ ck.Lejfing-Theater:-Kaiser und 6olU6ec'.Nach der erfolgreichen.Peer Gvnt'-Aussührung des borigenJabreS ging nunmehr Ibsens.Kaiser und Galiläer* über dieLesfingbühne. Doch wurde der Eindruck, den bereit« früher einfragmentarischer Versuch des Schiller-Theaters hinterließ, daß dies««Stück wohl niemals auf den Brettern heimisch werden könne, nurbestätigt. Die Vorstellung dauerte trotz starker Streichungen überviereinhalb Stunden— ein Zeitmatz, das durch da« gönzliche Fehlenjeder Art dramatischer Spannung dem Zuschauer noch unendlichlänger schien.Was Ibsen, ehe er den Weg zu dem modernen Charakterdramengefunden, zunächst zu jenem Stoffe hinzog, war zweifellos derlockende Gedanke, zwei große welthistorisch« Bewegungen—da« unter Konstantin im römischen Reich zur Herr-schaff aufgestiegene Christentum und da» antike Hetden-tum, da« sein Reffe Kaiser Julian neu zu beleben hoffte, inihrem Gegensatz und Kampf symbolisch bildhaft darzustellen. EinProblem von einer Größe, wie sie dem Streben Hebbels, der dieStufen weltgeschichtlicher Geiftesentwickelung im dramatischen Rahmenwiderspiegeln wollte, entsprochen haben würde. Doch auch dieserwäre voraussichtlich an einer solchen Aufgabe gescheitert; die Bilderhätten sich bei ihm bei seiner Art ins schattenhaft Allegorisierendeverflüchtigt: Ibsen war sich der Gefahren rein gedanklichen Kon-struierenS anscheinend wohl bewußt und hat vielleicht au» diesemGrunde ein breite« geschichtliche« Detail in sein Werk hineingearbeitet,Indes diese Ueberfülle ist nicht nur unerträglich mit den Schrankende« Theaterabend«, sie sprengt hier auch zugleich jeden einheitlichkonzentrierten Zusammenhang. Julian entbehrt durchaus der Tiefeund der Größe, die für sein Unternehmen allein lebendige Anteil-nähme zu erwecken vermöchte. Al« schönheitstrunkener Aesthet, derin dem Sinn des Schillerschen Gedichte» die alten Götter Griechen-land«, die an der»Freude leichtem Gängelband' die Welt regierten,herbeisehnt, von einem großen Dichter dargestellt, konnte die Figurgewiß ergreifen. Man würde seinen Untergang im Kampfe gegenden düsteren weltflüchtigen Ernst deS Christentum» alseine tragisch bedeutsame Notwendigkeit empfinden, ganz gleichgültig,ob die Geschichte damit stimmt. Bei Ibsen aber drängen dentelden allerhand zufällige zerstreute Eindrücke und Triebe aus seineahn. Namentlich eine unbestimmte Großmannssucht, der es un-leidlich dünkt, daß ein Nazarener ZimmermannSsohn gewaltiger alsein Kaiser sein soll. Die Gestalt zerflaitert. Ebenso bleibt derMystiker MaxtmuS, der Julian geleitet, in dunklem Zwielicht. Auchdie berühmte Prophezeihung vom.dritten Reiche', da»au» dem Ringen deS Christen- und de» Heidentumseinst hervorgehen werde, verbreitet kein Licht in dem ChaoSder Dichtung. Bollsszenen, Ehristenumzüge, ruchlose Mordtaten imkaiserlichen Hause, Philospphenreden, Kriegsgetümmel treibt inlärmvollem Wirbel durcheinander. Doch nirgend» löst sich von demHintergrund« ein scharfumrissener zwingender Charakter ab.Inszenierung und Ausstattung bemühten sich vergeblich, derStimmung nachzuhelfen. Harry Waiden setzte seine retzdoll be-wegliche Kunst, doch diesmal ohne rechte Wirkung, in der Hauptrolleein. Au« dem sorgfältig durchgebildeten sehr zahlreichen Ensemblewäre in erster Reihe her Moximu« de» Herrn Loo« zu nennen.Am Schlüsse wurde lebhaft applaudiert. dt.Welhnachtswetter.Wie oft haben die Dichter es geschildert, die Maler es gemalt:wie um die Weihnachtszeit Stadt und Land vom dichten weißenSchneemantel umhüllt sind und der strenge Winter mit Frost undSchnee, mit Schlittettgeläm und Eislauf den Christbaum begleitet!Aber das Bild, da« die Wissenschaft vom WeihnochtSwetter entwirft.stimmt hiermit recht wenig zusammen. Nur ausnahmsweise könnenwir.weiße Weihnachten' in Deutschland scicrn. Freilich, im Berg-lande ist das Christfest oft genug tatsächlich von Frost,Eis und Schnee begleitet, aber in den tiefer gelegenenTeilen Deutschlands ist der Durchschnitt deS WcihnachtSwetlcrsvon anderer Art. Im größeren Teile Deutschlands und überhauptMitteleuropa« bringt die Weihnachtszeit ungleich häufiger Tauwetter.womöglich gar mit Regen und Schmutz als Winterkälte, Eisbahnund Schneewetter. Dr. R, Hennig hat in seiner im Verlage vonTheodor Thoma» in Leipzig unlängst erschienenen Schrift.VomWetter' der Wetterkunde des WethnachtSfesteS ein anziehende« Kapitelgewidmet. Im langjährigen Durchschnitte beginnen bei uns geradeerst tn der Weihnachtszeit die TageSmitteltemperatureti auf denGefrierpunkt herabzugehen, so daß also ein Thermometerstand um0 Grad herum als normaler Durchschnitt für die WeihnachtStageim ebenen Deutschland zu bezeichnen ist. Natürlich gibt«S sehrgroße Schwankungen. Zuweilen hat die Weihnachtszeit bittere Kältegebracht, so z. B. 1876 und im KriegSjahre 1870; am Tage vorWeihnachten i870 fand die Schlacht an der Hallu« bei strengemFrost statt. Umgekehrt haben wir aber auch zu Weihnachten schonbeinahe spätsommerliche Wärme gehabt! so betrugen z, B. in denJahren 1852 und 1857 die Mitteltemperaturen an den Weihnachts-tagen von 8 bis 10 Grad Wärme, und in neuerer Zeit erlebtenwir im Jahre 1900 zur Chrtstzeit auffallend warmes und gleich-zeitig sehr schöne« und angenehmes Wetter. Wie selten das richtigeWrihnachtswetler bei uns ist, beweist der Umstand, daß wir� es inden letzten 25 Jahren nur zweimal erlebt haben, nämlich in denJahren 1890 und 1906.Soviel vom Frost zur Weihnachtszeit. Wal nun den Schnee-fall anbetrifft, so ist eine starke, haltbare Schneedecke in derWeihnachtszeit bei un» noch seltener al» ausgesprochener Frost.Der Dezeniber gehört nicht zu Deutschlands Schneemonaten, dassind der Januar und der Februar und selbst noch«her der Märzal« der Dezeniber. Immerhin kommt ausnahmsweise auch einmalzur Weihnachtszeit ein großer Schneefall vor, wie der berühmteRiesenschneefall de« JahreS 1866, der weite Gebiete Mitteldeutschlandsund Oesterreich» vom 19. bi» zum 23. Dezember geradezu im Schneebegrub. Viele erinnern sich noch der Abenteuer jenes Weihnacht»-feste», wo die Eisenbahnzüge überall stecken blieben und die dielen,die zu ihren Lieben daheim eilten, da» Fest in wenig gemütlichenVerhältnissen irgendwo unterwegs mit ihren Leidensgenossen feiernmußten. Man hat berechnet, daß damals in Deutschland nichtweniger als 240 Millionen Zentner Schnee niedergegangen sind.So wenig man aber zum Christfeste aus Frost und Schneerechnen darf, so wahrscheinlich ist e». daß Die Weihnachtstagevon Stürmen begleitet sind. Da« haben ja schon unsere Altvorderngewußt, die tn den zwöls heiligen Nachten, vom 25. Dezember bis zumV. Januar, den.Zwölften', den Gtiirmgott Wodan, den.wildenJSger', durch die Luft dahinbraufen ließen. Jedenfalls sindStürme in den WeihnachtStagen verhältnismäßig häufig. DieBauern- und VollSweiSheit vom WeihnacktSwett« tst vor allem derAnsicht, daß.grüne Weihnachten weiße Ostern' bedeuten, und dieseWeisheit trifft in sehr vielen Fällen zu. Ein spät beginnenderWinter erstreckt sich oft auch lang in« Frühjahr, während auf ciitcnzeitigen Winterbeginn häufig auch ein zeitige» Frühjahr folgt.Nottze«.—. Rusikchronik. Tie Königliche Kapelle wirdin der Philharmonie unter der Leitung Leo Blech« und unter Mit-Wirkung von Frau Teresa Carreno am zweiten Weihnachtsseiertag,mittag« 12 Uhr. ein Konzert veranstalten.— Theater chronik. Die erste Aufführung von Goethe»Schauspiel„Götz von Berlichingen' im Theater in derKöniggrätzer Straße mit Friedrich Kaytzler in der Titelrolle istauf Donnerstag, den 23. Dezember angesetzt worden.— Ein Riesenfindling. In der Feldmark Hahnenkampim Kreise Minden bat. wie in der Zeitschrift„Niedersachsen" mit-geteilt wird, ein Maurermeister auS Rahden einen Findling—einen erratischen Steinblock— freilegen lassen, dessen Gewicht manaus 7000 Zentner schätzte. Die Regierung in Minden beabsichtigt,durch eine Abteilung Pioniere mittels eines großen Kran» diesen10 Meter lange», 7 Meter breiten und 3 Meter hohen Granit-block auszuheben und, loenn. möglich, nach der Stadt Minden zuschaffen. Andernfalls will man ihn in der Nähe de» Fundort» zueinem Kriegerdenkmal aufrichten._Die Schickfalsmaus.EineErzählungvonTierenundMenschen.83] Bon Harald Tandrup.„O. Christenscn,' sagte sie,„Sie glaubm doch nicht, daßer es getan hat?'„WaS soll er denn angestellt haben?' fragte der Philo-sbph-„Sie sagen, Andersen habe VaterS Geld genommen.".Lm". brummte Christensen.„WaS soll man nunglauben?"Maren fühlte sich gekränkt, weil er die ernste Sache sokaltblütig nahm. Hatte dieser Mensch denn gar kein Herz imLeibe?„Sie glauben vielleicht auch, daß er ein Dieb ist?"fragte sie.„Ich glaube»veder an die Ehrlichkeit der Menschen, nochan den Scharsblick der Polizei," antwortete Chnstensen,„dazugibt es zu viele Spitzbuben auf freiem Fuß und zu viele Un-schuldige vor Gericht. Die Verhaftung bedeutet keineswegs,daß Andersen auch verurteilt wird; wenn er aber verurteiltwird, so ist er noch längst nicht überführt— und selbst,wenn er überführt werden sollte, kann man noch nichtbestimmt sagen, daß er schuldig sei. Das Recht ist sehr ver-wickelt."„Aber ist eS denn nicht entsetzlich, daß er im Gefängnissitzt, wenn er nichts getan hat?' rief Maren entrüstet.„Finden Sie das wirklich so entsetzlich, im Gefängnis zusitzen?" fragte Christensen.„Schon Shakespeare sagte, dieganze Welt sei ein Gefängnis. Sogar unsere Seele sitzt imGefängnis, in einem kleinen Bauer aus Knochen mit zweiGucklöchern'— er deutete auf seinen Kopf.„WaS ist besser:die durch Gesetz gestchertc Ernährung im Gefängnis oder dasRecht der Freiheit. Hungers zu sterben?"„Ach, wenn Sie doch mit dem Gerede aufhören würden',erwiderte Maren unwillig und wendete sich von ihm ab.Christensen war niemals beleidigt. Ruhig legte er dieHand auf das Geländer und schickte sich an, weiterzugehen.„Wollten Sie sonst noch etwas, Jungfer?' fragte er ge-lassen.Sie sehnte sich dan:ach, sich bei ihm auszusprechen, undhatte Angst, er könnte ihr entschlüpfen. Der arme Philosophflößte ihr trotz seiner Eigenheiten Ehrfurcht ein: sie fühlteunllar, daß er einer höheren Gedankenwelt angehörte.Und da sie wußte, womit sie ihn halten konnte, sagte sierasch:„Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust, ein TSßchen Kaffeezu trinken. Christensen.'„Kaffee?" wiederholt« er nachdenklich, indem er stehenblieb.„Ja, wahrhaftig— das wäre keine schlechte Idee.'„Er steht auf dem Herd und ist noch warm," sagte sieverlockend.Christensen mackte kehrt und stieg die Treppe herab.„Eine Tasse Kaffee kann ich nie ausschlagen,' entgegneteer.„Ein jeder bat seine Schwächen, Jungfer.'Darauf folgte er ihr tn die Küche und setzte sich auf denHolzkasten, der dicht neben dem warmen Herd stand.„Entbehren Sie in dieser Zeit die Wärme gar nicht?'fragte Maren, während sie eine Tasse herausnahm.„Nein, Jungfer. Ich habe dem Luxus entsagt— undWärme ist Luxus."„Das ist mir etwaS Neues,' antwortete sie und schenkteden Kaffee ein.„Haben Sie nie darüber nachgedacht, wie sich die Menschenan das Einheizen gewöhnten?"„Nein," antwortete Maren.„Zuerst waren sie bloß froh darüber, doch nicht, weilsie cS bisher für ein Unglück gehalten hatten, zufrieren, sondern, weil sie meinten, cS sei behaglich, sichzu Wärmen. Dann gaben sie ihrem Verlangen nach Bchag-lichkeit nach, und davon kam das ganze spätere Unglück."„ES war doch nur natürlich, daß sich die Armen Wärmenwollten,' meinte Maren, um wenigstens etwas zu sagen;denn im Grunde genommen war ihr das Thema höchst gleich-gültig.„Aber sie lemten gleichzeitig, daß es auch etwas gebe,daS frieren heißt— und doS war ihnen bis dahin unbekannt.Sie hatten wohl gefroren, cS aber für etwas Selbstverständ-lichcS gehalten. Jetzt waren sie an Erkenntnis fortgeschritten.Doch wer auf daS Licht zugeht, muß unbedingt einen Schattenwerfen, und der Schatten des Fortschritts ist des DaseinsFluch!"„Ich bin überzeugt, Sie haben recht. Chnstensen," sagteMaren,„aber das ist nur zu hoch. Wollen Sie vielleicht einStück Sauerbrot zu Ihrem Kaffee?"„O ja," erwiderte der Philosoph,„geben Sie eS nur her.Aber, wa» ich sagen wollte, soviel begreifen Sie doch, daßdie. die den Segen der Wärme entdeckten, mit ihm auch denFluch der Kälte kennen lernten, nicht?— DaS ist eineVariation über das unerschöpfliche Thema; der Baum derErkenntnis ist keineswegs der Baum deS Lebens, wie Byronsagt! ES gibt Taufende von Menschen, die daS Leben un-erträglich finden, weil sie wissen, daß sich andere Reitpferdeund Automobile halte» können. EL gibt Familien, die zehnJahre lang gern Margarine essen. Aber dann machen sieeines schönen Tages einen AuSflug, auf dem sie Mcicreibuttcrkaufen.— Sie können niir'ö glauben, es vergehen vieleMonate, ehe der Buttergeschmack vergessen ist; er erscheintjedesmal, wenn die Zähne mit der Margarine in Berührungkommen."„Der arme Andersen bekommt an seinem jetzigen Auf-enthaltSort gewiß nicht einmal Margarine", jammerte Maren.„Ach, wenn er doch frei ivcrden könnte, der liebe Mensch!"„Ihr Vater muß nur die Anzeige zurückziehen, daS istdaS einfachste", sagte Chrtstensen.„Er will nicht. Er>var erst vorhin wieder auf derPolizei, und sie sind dort furchtbar böse auf Andersen, weiler den Diebstahl nicht eingesteht. Sic glauben alle, er seider Dieb, denn Vaters Geldbeutel war ja tn seinem Koffer—aber ich bin dennoch fest davon überzeugt, daß Andersen un-schuldig ist. Meinen Sie das nicht auch?"„Gewiß, es spricht vieles dafür", antivortete der Philosoph.„Slber der Schein ist nun einmal gegen Andersen, und dashat bessere Männer zu Fall gebracht als ihn. Schönen Dankfür den Kaffee, Jungfer!"„Wohl bekomm's", erwiderte sie und nahm ihm dieTasse ab.Ehristeusen wollte gehen; aber Maren stellte sich zwischenihn und die Tür.„Sie glauben nicht, WaS für eine böse Zeit das gewesenist," sagte sie.„Erst MutterS Tod, dann Andersens Heirat«-antrag— daS war ja zwar eine Freude: aber dann kamdas dumme Geld dazwischen--- und jetzt sitzt er im Ge-fängniS!"„Nun ja. ich gebe zu, daß es für einen Durchschnitts-menschen etwas viel ist," entgegnete Christensen.—„Wirandern, die mehr denken, nehme» dergleichen nicht so ernst.Wir sehen täglich, wie die Wahrheit unterliegt und das Ii»-recht sich breit macht; aber eS ärgert tmS nicht. Das Böse istebensogut ein Wunder wie alles andere."„Auch der Vater ist ganz sonderbar geworden", fuhrMaren fort.«Ehe die Mutter starb, sprach er immer davon.wie gut wir cS bekommen sollten, ivenn er über das Geldverfügen könne— und jetzt ist er gerade so geizig, wie dieMutter war. Ist das nicht traurig?"»Sehr traurig," stimmte Chrtstensen bei.(Forts, folgt)