St. 9.- 1916.Ltnterhaltungsblatt öes VsrVärtsMRuzoch, 12. Ißitiiar.Lshnfpftem im Zuchthaus.Eins recht eigenartige Reform ist imNewDorkerStaats-iiuchlhaus Sing-Sing eingeführt worden. Am 1. Okioberwurde den ISCO Sträflingen kundgelan, daß nächstens das Lohn-fystem in kraft komme. Acht Tage später war der erste Zahltag.Um die seltsame Begebenheit geziemend feiern zu können, erhrellendie Beteiligten einen halben Tag frei.Die Eigenart dieser Neuerung besteht in der Hauptsache imfolgenden. Ein einheitlicher Taglohn von einem Dollar{±,20 M.).Die Zahlungsmittel find aus Papier und Aluminium. Diese..Währung des hochumsriedigtcn Reiches� hat nur innerhalb der Ge-fängnismauern Geltung, doch daneben können die Insassen auchgewöhnliches Geld, das sie von außen erhalten mögen, vei wenden.Das Papiergeld besteht aus Scheinen zu zehn, fünf und einemDollar. An Aluminiummünzen sind Stücke zu fünfzig, fünfund-zwanzig, zehn und fünf Cent geprägt worden. Diese Zahlung»-mittel find«Anerkennungsgeld" benamr, und zwar, weil es die Anerkennung für gute Führung und harte Arbeit sei.Mit dem Lohnsystem und ihrem besonderen Gelds können,müssen die Gefangenen leben wie sonstwo in der amerikanischenOeffentlichkeit. Das beißt, sie haben für alles zu zahlen, was sievom Staate erhalten, ja selbst Miete für ihre Zellen undeinen kleinen Betrag für das Essen. Der Mietpreis ist in sieben«lufen eingeteilt. Mit jeder Stockhöhe nimmt die Wochenmiete um1» Cent ab. Die allgemein unbeliebte, weil feuchte Zelle des Erd-gei'chosses kostet einen Dollar die Woche, die Zelle im ersten Stock1.50, die im zweiten 1,40. die im dritten 1,30, die im sechsten �1,10und da» vielgewünschte besondere Schlafzimmer 1,60 Dollar. Auchfür die Unterhaltungen haben die Gefangenen eine Gebühr zu ent-richten. Der Eintritt in das Lichtspieltheater oder einen Vortragkostet 10 Cent oder 42 Pf.Aus den Aeußerungen der Zuchlhausverwaltung geht hervor,daß sie an die Neuerung keine übertriebenen Erwartungen knüpft.Sie erklärt r«Das Lohnsystem wird sehr wahrscheinlich eine Reiheneuer Probleme zeitigen. Aber da die Staatsbehörde die Ein-snhrung wie auch die Abänderung de» Systems ganz dem Ermessen derGefängnisverwaltung anheimgestellt hat, lassen sich die durch die Er-fahrung erwiesenen Mängel leicht beseitigen. So ist beispielsweiseder einheitliche Taglohn von einem Dollar nur als Anfang ge-dacht; denn es wird ohne jeden Zweifel bald kommen, daß sich dieKarlarbeitenden Gefangenen beschweren, damit jeder nach seinerLeistung entlohnt wird. Die bis dahin gemachte Erfahrung wirdnützliche Fingerzeige für die Aenderung geben. Dann wirdc» sicherlich Gefangene geben, die überhaupt nicht arbeitenwollen. Diese können natürlich nicht entlassen werden. DerArbeitsunfähige muß hier ebenso gut erhalten werden, wie in derFreiheit. Die Gefangenen haben so etwas wie eine Selbst-regierung, und dieie wird sich schlüisig zu werden haben, wiesie die Faulen und Arbeitsunfähigen unterstützen will. Dies wirdzur Folge haben, daß die Sträflinge von Sing-Singbald Steuern werden zahlen müssen, um die Mietesowie den Unterhalt der Einlommenlosen zu bestreiten. Wir sindüberzeugt, daß die Leute die Mittel und Wege zur Lösung diesesProblems, wie auch die zur Lösung der hundert andern, die nochentstehen mögen, finden werden."Nach der Meinung der Verwaltung sind die genannten Fragenoder Nachteile des System» geringfügig neben seinen Vorteilen..Vor allem werden die Gefangenen durch die Neuerung zu fleißigerArbeit und Sparsamkeit angespornt. Dank dem verhältnismäßig hohenLohn schwindet die Lust zur Trägheit, das Sparen macht mehrSpaß. Dann hat das System die gute Wirkung, die Lebensgewohn-heilen der Sträflinge auszugleichen, wenigstens insofern, als sie ar-betten müssen, wenn sie Vergünstigungen genießen wollen. Bis jetzthatten die Gefangenen, die selbst reich waren oder wohl-badende Freunde besitzen, den armen gegenüber viele Vorteile voraus.Ob sie sich gut aufführten oder nicht, dank der Geldsendungen von außenvermochten sie sich Tobak und alle die anderen Vergünstigungen zuleisten, die in der Anstalt gestattet find. Das führte begreiflicher«weife zu Mißhelligkeiten. Eine Hauptbestimmung des neuenSystems ist, daß es den Gefangenen nicht mehr erlaubt, im Ladender Bereinigung für gegenseitige Wohlfahrt Tabak und andere Dingemit gewöhnlichem Gelde allein zu kaufen. Zum mindesten dieHälfte der Kaufsumme muß fürderhin auS.Anerkennungsgeld" derAnstalt bestehen. Ob es nicht vorzuziehen ist zu bestimmen, daßalle solche Käufe ganz mit Anstaltsgeld zu begleichen find,wird die Zukunft lehren. Von der Einrichtung, innerhalb derZuchthausmauern Millionäre und Habenichtse in Arbeit und Genüssenauf gleichen Fuß zu stellen, versprechen wir uns eine heilsameWirkung aus die Seelenverfasiung der Gefangenen. Die Sparsamkeitder Leute wird durch die Sparbank der Wohlfahrtsvereinigunq ge-fördert werden."Soweit die Zuchthausverwaltung. Wie die Gefangenen selbstüber das System denken, läßt sich natürlich noch nicht sagen. Bisjetzt loeiß man bloß, daß sie die Neuerung, insonderheiidas„Anerkennungsgeld", mit großer Verwunderung betrachteten.Alle hätten die zwei Dollar für die ersten beiden Arbeitstage sehrgern genommen, abgesehen von zwei Leuten, die das Geld zurück-gegeben hätten mit der Bemerkung, sie seien nicht nach Sing-Singgekommen, um Geld anzuhäufen. Aber diese beiden Käuze, die alteGäste der New Jorker Anstalt sind, werden als von jeher ein wenigverdreht geschildert. Was wohl stimmen mag.Kleines Feuilleton.Die Kartoffel.Die Kartoffel ist heute jo wichtig, daß mancher etwas Sprach-liches und Geschichtliche» von ihr wissen möchte. Hawkins und FranzDrale wwd ihre Einführung kaum zugeschrieben werden dürfen, dadie von ihnen aus Amerika gebrachte Frucht wahrscheinlich diehaitische Batate gewesen ist. Die Kartoffel ist von Italien nachDeutschland gekommen. Die Italiener nannten sie tartukulo, weilsie ähnliche Wurzelknollen wie die Trüffel bat, die italienischtartuko heißt. Der Name Tartuffeln trat im Jahre 1034 auf undwurde bald allgemein bekannt. Er kam in dem Frauenlexikon1716, in Valentinis Kräuterbuch 1719, in Hübners Handlungs-lexikon 1727 und noch 1770 vor. Aber von da an wurde er durchdas Wort Kartoffel rasch verdrängt. Gelehrte, selbst Adelung,erklärten das Wort für eine Entstellung aus Erdapfel, nämlichArdoffel mit vorgesetztem Geschlechtswort Ü artoffel. Diese wunder-liche Erklärung ist aber abgetan. Man weiß, daß das Wort Kartoffelaus Tarluffel entstanden ist, indem das T in K und u in o verwandelt wurde.Daß aber die Frucht auch ganz deutsche Namen erhalten hat, istsehr natürlich, weil sie sich durch Billigkeit, Nährgehalt und Sckmack-haftigkeit bei uns bald heimisch machte. Den Namen gab man ihrnach Früchten, die ihr ähnlich waren, Knollen, Äepfeln undBirnen. Der Botaniker Kaspar Bauchinus, bei dem sichzuerst der lateinische Name solaimm tuberosum für dieKartoffel findet, nennt sie GrüblingSbaum, Knollenbaum.Goethe zieht den Namen Erdäpfel dem Wort Kartoffel vor,das ihm wie ein Fremdwort klingt. Erdäpfel nennensie auch die Erzgebirgler, Osterländer. Thüringer, Franken, Bayern,Schwaben, Erdbirnen und Erdäpfel die Rürnberger, Lausitzer,Schlesier, Herdäpfcl die Elfäffer und Schweizer, Härdapfel die Frei-burger und Schwarzwälder, Grundbirnen fmundartlich Grumbeeren)die Rheinfranken. Knollen die Westfalen und Oberlausitzer. AuchKosennamen, wie Toffeln, Töffelchen, Gedöffel, Tüften und Dürften,gibt man ihr, worin sich die gemütvolle Freude über die nahrhafteFrucht äußert. Wie die glückliche Genügsamkeit sie in mannigfacherForm schmackhaft machen kann, hat schon Goethe in dem Vers ge-zeigt: Morgen» rund, mittags gestampft, abends in Scheiben, dabeifoll's bleiben, eS ist gesund._Trübe Weihnachten in Petersburg.Es ist, wie die„Rjetsch" erzählt, ein recht trübes Weihnachts«fest, das die Petersburger in diesem zweiten Kriegsjahre begehen.Die Verpflegungsabteilung der Stadtverwaltung hatte sich schon mitFachgenossenschasten zusammengeschlossen, um die Anförderung vonMehl, Fleisch und anderen Lebensmitteln zu ermöglichen. Inzwischenfanden auf der Wiborger Seile Arbeiterunruhen statt, und 8000 Ar-beiler meldeten dem Magistrat, daß sie in den Läden nichts zu kaufenbekämen und mit ihren Familien dem Hunger preisgegeben seien.Besonders stark machte sich der Mangel an Fleisch fühlbar. DieSchläibterläden haben zum großen Teil den Betrieb eingestellt, da siekeine Waren haben. Selbst für Lazarette wird die Fleischversorgungäußerst schwierig oder auch unmöglich. Die sättigenden Grützen.wie Graupen, Buchweizen und Gerstengrütze und dergleichen, sindfast gänzlich verschwunden. Am schlimmsten steht es aber mit derMehlversorgung der Newaresidenz. In langen Reihen stehen dieLeute auf der Sadowaja und auf dem Wosnesenskh-Prospekt undwarten zu Hunderten auf die Reihenfolge vor den Läden, in denendie Ware schnell vergriffen ist. Dann erbebt sich ein drohendes Murren.Das Verpflegungskomitee hatte zum Weihnachtsfest eine halbe MillionPud Mehl. 50 000 Pud Butter und Hunderte von Waggons mitEiern bestellt, aber aus Tomsk liefen täglich Telegramme ein, daßdie Eisenbabnverwaltungen wegen Mangels an Waggons die Warennicht verladen können. Die Preise der Eier sind demgemäß um—hundert Prozent gestiegen. Man erwartet, daß die unzufriedeneBevölkerung die Warenschuppen am Alexandro-NewSky-Lawry undKalaichnikow-Kai, wo noch Lebensmittel lagern soll, stürmen wird.Die Behörden glauben durch Aufhebung der Mehl- und Broi-Taxemehr zu erreichen, aber da hierfür»och keine Anzeichen vorhandensind, wächst die Erbitterung der Massen, die bei dem ungewöhnlichstarken Frost vergebens stundenlang vor den Verkaufsstellen harrenmüssen.Nutzen unö Schaden des Stiefelabsatzes.Die einzig dastehenden Marschleistungen unserer Infanteriein diesem Kriege beweisen auf» neue den großen Wert einer:richtigen Fußpflege, die womöglich schon in früher Jugend be-gönnen werden sollte. Die Grundlage dieser Pflege lieg! zu aller-nächst in einer den Bau und die Leistungsfähigkeit des Fußes be.>rücksichtigenden hygienischen Fußbekleidung, deren nähere Betrach-tung uns indes eine wichtige Frage vorlegt, und zwar eine Frage,die erst kürzlich ein Arzt, Prof. Ritschl, zum Gegenstand einerUntersuchung� gemacht bat, nämlich die Gegenüberstellung vonNutzen und«chaden des Stiefelabsatzes. Tiefe Frage beantwortetsich nun insofern zugunsten des Absatzes, als das Tragen�absatz-loser Fußbekleidung auf die Dauer dem Fuße unmittelbar Schadenzufügen kann. Der sonst durch den Absatz gestützte Teil des Fuß-gewölbes liegt in diesem Falle dein Boden fast glatt auf, unddas zu stark auf ihm lastende Körpergewicht führt nun häufigentweder zu Senkungen der Fußknochcn oder zu Ueberdehnungender Weichteile de» Fuße» und damit zu Platt- oder Senkfuß.Stellt man hingegen durch den Absatz die Füße etwas höher, sobleibt die Wölbung des Sohlenteil» erhalten und die Körperlastkann nicht mehr schädigend wirken, weil sie sich nun auf Sohle undFerse gleichmäßig verteilt. Jedes Schuhwerk, bei dem die ganzeSohle platt und ungewölbt auf dem Boden liegt, was bekanntlichbei allen absatzlosen Schuhen, wie z. B. Pantoffeln»nd dergleichen.der Fall ist, schädigt somit den Fuß. Die günstige Wirkung desAbsatzes kann sedoch sehr beeinflußt, ja sogar völlig aufgehobenwerden durch seine Form. Ein gut gebauter Absatz darf wederkoch sein noch eine zu kleine Unterfläche besitzen. Beides mußvielmehr in einem richtigen Verhältnis zueinander gehalten sein,wenn der Astsatz seinen Zweck, die Erhöhung und Gleichgewicht»-erhaltung der Ferse, erfüllen soll. Der hohe Absatz mit der kleinenNnterfläche, leider immer noch ein bevorzugtes Kind der Mode,bringt, da er die Achsen der Fußknochen zu unnatürlichen Ab-Icnkungen zwingt, den Träger nicht nur in die stete Gefahr, beieinigermaßen unebenem Boden zu stürzen, sondern erzeugt auchdurch das Beugen der Knie beim Gehen häufig auch ein Neber-greifen dieser Beugung auf das Hüftgelenk. Ferner zwingt derhoho Absatz den Träger, ausschließlich auf den Fersen zu gehen,eine Gangart, die indes, gleicki wie der Gang im absatzlosen Schuh,höchst schädlich und nicht zuletzt durch den kleinen trippelndenSchritt auch unschön ist. Aus dem Vorausgegangenen gebt alsobervor, daß zu einem richtig gebaulen Schuh unbedingt auch derAbsatz gehört, der aber nur mätzig hoch und mit verhältnismäßigbreiter Unterfläche hergestellt werden soll.Notiz«.— Literatur im Zeitungssormat. Unter dem Titel„Die Weltliteratur" erscheint in einem Münchener Verlage eineWochenschrift in Zeitungssorm und Zeitungsdruck zum Preisevon 10 Pf., die eine wertvolle Auslese aus den Schätzen der Welt-literatur bringen wird. In jeder Nummer sollen abgeschlosseneRomane, Novellen, Dramen, Briefe, Selbstbiographien. Memoiren.Volkslieder, philosophische, kulturhistorische und volkswirischattticheSchristen veröffentlicht werden. Die Probenummer enthält KleistsNovelle„Michael Kohlhaas".Der Preis ist ja bestechend billig, und wo es sich um einmaligeLektüre handelt, mag ein solches Literaturblatt, das in Vieler Form zuerstin Belgien probiert wurde, empfehlenswert sein. Sonst wird daZBuch freilich seinen Vorrang behaupten, selbst wenn es 10 Ps. mehrkostet.— Karl H e n ck e ll arbeitet seit einiger Zeit an der Heraus»gäbe seiner gesamten Werke, die zugleich auch seine bisher noch nichterschienenen Neudichtungen enthalten sollen. Das wird unsere Leserauch besonders deshalb freuen, weil in den gesamten Werken auchalle jene Schöpfungen wiederkehren werden, die während der Aus-nahmezeit in Deutschland verboten waren, ebenso jene, die aus derJugendzeit unseres Dichters stammen und sämtlich vergriffen sind.— Guido Baccelli, einer der bekanntesten Aerzte Italiens,ist in Rom im 84. Lebensjahre gestorben. Baccelli war mehrmalsals Minister tätig und hat an der Sanierung der römischen Eampagnamitgearbeitet.Die Schicksalsmaus.Eins Erzählung von Tieren und Menschen.Klj Von Harald Tandrup.An den Wänden entlang standen Marmorbänke, und aufdiesen saßen die großen Geister vergangener Zeiten in ver-traulichem Gespräch.Christus schritt mit Christensen an der Hand weiter. SeinBlick glitt suchend im Saal umher, alles schien besetzt zu sein.Plötzlich entdeckte er einen ganz kleinen Platz, und auf diesenschwebten sie zu.„Rück' ein wenig auf die Seite, Schopenhauer," sagteChristus, indem er das Gewand einer der Gestalten leicht be-rührte,„damit sich Christensen zwischen dich und Spinozasetzen kann. Ihr drei werdet gewiß eine ganze Menge zu be-sprechen haben."So ging Christensen in die ewige Seligkeit ein.Ein Weilchen später öffnete sich ganz leise die Tür zu derKammer, in der Christensen gewohnt hatte.Ein kleiner Funke fuhr durch den Spalt, blieb aufdem Fußboden liegen, qualmte und zischte, blitzte einenAugenblick auf und brach dann in einem knatternden Neu-jährsgruß los.Draußen erklang ein schallendes Gelächter; die Türwurde aufgeriffen, und Andersen, Maren und Larsen stürmtenherein.„Prosit Neujahr, Christensen!" riefen sie.Aber gleich darauf verstummte ihr Lärm, denn sie hattentrotz der Dunkelheit den weißen Körper auf dem Fußbodenentdeckt. Es mußte etwas geschehen sein.Lars Larsen brannte ein Lichtstümpfchen an. das in einerFlasche steckte. Vor ihnen lag Christensen, jene armseligeHülle, die dem wahren Chnstensen zur Wohnung gedienthatte.— Sie beugten sich über ihn.„Christensen ist tot!" sagte Lars Larsen feierlich.„Ach, du lieber Himmel, wie schade!" rief Andersen.„Und wir wollten ihm doch morgen Grünkohl vorsetzen,"fügte Maren hinzu.„Es war das einzige warme Essen, ausdem er sich etwas machte."„Nein, daß er gerade jetzt sterben mußte, wo er es besserbekommen sollte." sagte Andersen.„Vielleicht hat er es nun noch bester, als wir es ihmhätten machen können," erwiderte Lars Larsen.„Friede seimit ihm!"Im selben Augenblick begannen sämtliche Glocken dasneue Jahr einzuläuten. Die Luft erzitterte unter den Klängen;von allen Seiten krachten Schüsse.Lars Larsen und Andersen nahmen die Hüte ab.„Jetzt weiß er mehr als wir alle," sagte Andersen.„Wißt ihr noch, wie er immer sagte, es gäbe keinen Tod?"fragte Maren.„Ich glaube, er hat recht gehabt," antwortete Andersen„die, die das ewige Leben in sich haben, sterben nie."Dann trat er ans Fenster, öffnete es, schaute zu demfunkelnden Sternhimmel hinauf und flüsterte:„Ein gutes, neues Jahr, Christensen!"Ueber das alte Haus sank die Ruhe des Todes.„Die Menschen sind ausgezogen, damit wir mehr Platzhaben," verkündigte Meister Grau seiner Familie.„Kommt,wir wollen gleich in die neue Wohnung einziehen."Also krabbelten sie in die Küche hinaus und von dort ausin die Stuben; die Jungen aber liefen über die Treppe inChristensens Wohnung und ließen sich da nieder.„Hab' ich's nicht immer gesagt, daß wir noch einmalreiche Leute würden!" rief Meister Grau.„Oder kann manvielleicht noch mehr verlangen, als ein ganzes Haus fürsich?"Als er dann auf die Suche nach Nahrung ging, zeigtees sich, daß außer Speiseresten, Brotrinden, Lichtstumpen unddem sogenannten täglichen Brot, für das man dem liebenGott immer dankbar sein muß, noch eine ganze Menge kleinerLeckerbissen vorhanden waren, die eine große Rolle im Haus-halt spielen.Aber im Lause der Zeit entdeckte Meister Grau auch,daß west mehr Mäuse im Haus lebten, als er bisher geahisthatte.Sie hatten alle einzeln gewohnt und geglaubt, sie feiendie einzigen Mäuse auf der Welt— jedenfalls die einzigen,die etwas taugten. Und jetzt fand man sich, merkte, daß dieWelt größer sei, als man je gedacht hatte.Das war für die Tiere ein ebensolcher Zeitabschnitt wiejener für die Menschen, als Amerika entdeckt wurde.Nur die kleinen flachen Geschöpfe hinter den Tapeten warenuntröstlich; den« als ein Bewohner des Hauses nach dem.andern auszog, wurden sie auf schmale Kost gesetzt. Aber so istdas Leben. Selbst die Menschen müffen sich in das finden,was man schlechte Zeiten nennt.—Eines Nachts kam Langzahn zu Graus zu Besuch. Erhatte das bisher wegen der engen Gänge, die zur Mäuse-familie hinunterführten, nicht tun können. Aber jetzt bewohnteman ja das ganze Haus, so daß es genug Platz für eine Zu-sammenkunst gab.Als Madame Grau Langzahn ihre Jüngsten vorstellte.ließ er sich sogar herab, sie zu loben. Und nachdem sie Wurst-häute und Käserinden verzehrt hatten, machten sie einenRundgang durch das ganze Haus und betrachteten die Plätze,die für die großen Begebenheiten von Bedeutung gewesenwaren: den Raum unter dem Ofen, Christensens Stube, woman den Philosophen tot auf dem Fußboden gefunden hatte.und Blombergs Werkstatt, Möns' frühere Wohnung.Meister Grau wurde nicht müde, die neuen Verhältnissezu loben. Er sagte, sie lebten wie in einem Schloß, dasHinterhaus sei zum wahren Paradies für die Tiere ge-worden.„Aber wie lange?" fragte Langzahn.„Was werdet ihrtun, wenn alles aufgegessen ist? Ihr habt keinen Rinnsteinwie ich!"„Kommt Zeit, kommt Rat!" erwiderte Meister Grau.—Die Zeit verging, und der Rat kam, wenn auch anders,als es Langzahn vorausgesagt hatte.Es fing damtt an, daß eine Menge Arbeitsleute mttHämmern, Aexten und Brecheisen einrückten, sämtliche Wändeniederrissen und die Fußböden aufbrachen.Den Tieren war es, als sei das jüngste Gericht nahe.Das Haus schwankte wie bei einem Erdbeben. Estrabte und polterte, krachte und hämmerte aus allenSeiten. Schaudernd verbargen sich die Mäuse in ihrenSchlupfwinkeln.Meister Gran und seine Frau saßen dicht zusammen-gedrängt unter dem Fußboden und erwarteten jeden Augen-blick, daß etwas Furchtbares geschehe. Sie hörten dieMenschen davon sprechen, daß das Haus eingerissen und einneues dafür aufgebaut werden solle. Und plötzlich kam dasFurchtbare: Das Fußbodenbrett, das das Dach ihres Hausesbildete, wurde mit einer mächtigen Stange in die Höhegehoben, und ihr Heim lag offen vor den Augen derMenschen da.(Schluß folgt.)