Nr. 145.- 1916. Unf{tungsMatt öLS�Vvrw6rtö ä �i«ai " wiener Silöer. D i e Arbeiterfrau. Eine Frau von unbestimmtem Alter sitzt auf einem Stein, strilkt und schaut. Ihr Körper scheint jung zu sein, ist aber dürstig. Die billigsten Stoffe umhüllen ihn. Das Gesicht ist alt, die Hände sind alt. Ueber Slirn und Wangen laufen Rinnen, in denen die Zerstörung hockt. Die Hände haben steise Finger mit harten Nägeln. Sie sitzt, strickt und schaut. Bald arbeiten die Hände, bald nur die Augen. Sie schauen in die Welt, die sie umgibt. Gelber Lehm, Gcasspuren, Steine sind um sie herum und viele, viele Kinder. Ter Platz, wo sie sitzt, wird von drei Seiten von der Elektrischen umklingelt. Die Luft um sie herum ist von Telegraphendrähten durckschnitten. Bäume werfen bei jedem Windhauch Blüten an den Rand des Platzes. Buben in Hemd und Hose mit Papierschakos auf dem Kopf und säbelähnlichem Holz in der Hand stürzen sich darauf, als ob die Blüten Feinde wären. Kleine Kinder, die noch nicht gehen können, sitzen auf einem Stück Zeitung, auch Tuch und greifen mit müden Bewegungen nach Gras- Halmen, nach billigem Spielzeug. In diese Welt, die glaubt, raucht und lärmt, schaut sie hinein. als ob sie kein Hoffen und Wünschen nach anderer Welt in sich trüge. Vor ihr in ferner Weite zeichnen sich die feinen Linien eines welligen, waldigen Landes, das dem Himmel nahe scheint. Ihre Blicke gleiten daran ab, als ob es keine Sehnsucht da- nach gebe. Hinter ihr erhebt sich ein durch den Krieg unvollendet ge- bliebenes Kulturdenkmal, ein massiger Museumsbau, der in seinem Inhalt zeigen soll, was Menschengeist zur Güterzeugung er- sonnen hat. Sie sitzt zwischen beiden. Sie hat nicht Anteil an Kultur, nicht Anteil an welligem Land. Staub, Lärm außen, Sorge innen ist ihr Leben. Sie sitzt auf einem Stein, strickt und schaut. Ein Hut. Ein Sturm jagt böig über die Stadt. Durch alle Gaffen faucht er. Um die Ecken stößt er wie toll. Aus den Plätzen wirbelt er sich an den Hauswänden herum. Ueber die Brücke lobt er wie ein Wogenschwall. Unter der Brücke zischt er pfeifend an den Brückenpfeilern vorbei, kräuselt den trägen Fluß, der grüngelb zwischen Steinmauern fließt. Ueber die Brücke ist-ein schweres Gehen. Viele Menschen gehen dort, herüber und hinüber, gebeugt, ans Geländer gedrückt. Sie halten Hut, Kleid, sich... verängstigt, besorgt... würdelos. Ein Mensch greift plötzlich mit beiden Händen in die Luft. Sein Hut fliegt in breitem Schwünge über das Geländer in der Nähe des UferS ins Wasser. Der Mensch läuft über die Brückenstiege zum Ufer hinunter. Am Wege verliert er seinen Zwicker. Er läuft nicht lange, rutscht aus und... klatsch... ist er im Wasser verschwunden. Die Brücke füllt sich trotz Sturm mit stehenden, schauenden Menschen. Wachleute binden Kähne los und rudern, dorthin, wo sie glauben, daß er austauchen muß. Er taucht auf... ein-... zweimal... immer dort, wo Kähne nicht sind... Ein Mensch ist weniger auf Erden. Sein Hut schwimmt schon weitab auf dem Waffer. Bald dreht er sich wie gefallsüchtig um die eigene Axe, bald 'chwimml er mehr rechls, dann wieder mehr links, hüpfl über kleine Äellenhügel, scheint anzuhalten, dann gehl es lustig weiter. Äfles in allem scheint er sich sehr wohl zu fühlen.... War auch ein Hundeleben bisher. In einem kleinen Vorstadtladen war er vor Zeiten in glänzender, schwarzer Steife zur Welt gekommen. Bevor er aber noch zu einem Selbstbewußtsein gelangen konnte, saß er schon inmitten der andern, mit einem gewöhnlichen, weißen Preiszettel versehen in der Auslage und mußte sich von den Menschen angaffen lassen. Und kränkend war eS. wie sie zuerst immer auf den Preiszettel, dann erst auf ihn schauten. Endlich kam ein Mensch, kaufte ihn und trug ihn auf seinem Kopf ins Freie. Lust... Licht... Bewegung, ihn schwindelte anfangs. Doch auf was für ein Gehirn war er gelangt. Da zuckle und zappelte es von den allerkleinsten Sorgen. Amt, Vorstand, Gebalt, Rang wirbelten stundenlang ihren lach- basten Eiertanz in diesem Schädel. Frau, Kinder, Krieg, das leidige Essen und Mietezahlen schlugen wie überstürzende Wellen an die Gehirnwindungen. Alles mußte er mit seiner glänzenden, schwarzen Steife decken, und das Blut dieses Menschen pochte immer so aufgeregt, so un- angenehm an den Rand seines Filzes. Lieber als dieser Kopf war ihm der kleine Garderobekasten, wo er stundenlang im tiefsten Finstern sitzen mußte, aber wenigstens mit sich allein war. Noch lieber ist ihm die jetzige, bewegte Freiheit mit der weiten Umsicht. Der Sturm kann ihm nichts anhaben. Fest sitzt er auf dem Waffer wie einst in der Auslage. Nichts grämt, sorgt, denkt, will unter ihm.... Die Steinmauern weichen. Grüne Uferböschungen umflanken den Fluß. Buben sehen ihn und werfen lachend Steine nach ihm. Das Wasser kräuselt sich immer mehr. Bei einer Biegung sieht er ein unübersehbares Waffer mit hohen Wellen und scharfem Gerinne. Ihm wird unbehaglich. Eine rote Stromboje glotzt wie ein Fraß suchendes Ungeheuer nach ihm. Der Sturm heult ihn an. Die Wellen stürzen sich über ihn, zerren und reißen an ihm. Um ihn wird es dunkel wie im Garderobekasten... nicht lange und ein schwarzer Fetzen treibt auf dem Wasser.... Ein Hut ist weniger auf Erden. Ein Ereignis. In der Vorstadtgoffe, abseits vom Zeitleben, deckt Schmutz die fü Hauswände, Schmutz den Boden. Unbestimmte Farben, die mit brausendem Leben nichts gemein haben, füllen sie aus. Die Fenster blinken nicht, die Augen der Menschen dort leuchten nicht. Häusergrau und-gelb birgt Menschengrau. Die Kleinen johlen von Laden zu Laden, die Großen stehen darin und feilschen um die Kleinigkeiten ihres Lebens. Pfeifen, Tabak, Brot, Schnaps. Wurst, Milch, Mehl kann man in der Gaffe haben. Alles kann Ereignis werden, kann Leben in die Gaffe bringen, auch der Tod... Von fernher bimmeln Kirchenglocken ihre einförmige Weife über Hausdächer. Am Ende der Gaffe erscheint ein Leichenzug mit Musik. Die Gaffe beginnt Leben zu bekommen. Fenster öffnen sich, Ladentüren, und füllen sich mit Menschen in Schurz und Schürze. Voran geben Musikanten gemessenen Schrittes in Schwarz decken die Gassenbreite. Ihre Augen und Gesichter find aufgequollen im Blasen traurigen Töne, die in alle Höfe und Zimmer ballen. Ein violett eingehülltes Kreuz schwankt dahinter. Es bringt einen leuchtenden Farbfleck in das Gaffengrau. Wie ein unregelmäßiges Viereck,' in gassenfremder Farbe, in der Luft bewegt es sich vorwärts. Weiter rückwärts torkeln Blumengewinde auf dem getragenen Sarg des Toten. Rosen und Narzissen streuen ihr Wohlriechen in den Gaffen dunst. Bänder flattern von den Kränzen, die von ewigem Gedenken sprechen. Hinter dem Sarge geht paarweise eine Menschenreihe. Sie beginnt mit Schwarz und endet in den SonntagSfarben der Vorstadt. Die ersten hinler dem Toten haben durchwachte, bleiche Gesichter, leere Blicke, die nicht dem Leben gelten. Der schwarze Stoff hüllt und hebt ihre Gcbrochenheit. Der Tote hat sie dem Tode näher gebracht. Sie wandeln wie lebende Leichname. Gegen Ende des Menschenzuges wird Blick und Gang beweg- licher. Ein schwarzer Sargwagen und einige andere enden das Er- eignis. Hinter dem Wagen beginnt sich die Gaffe wieder zu be sinnen. Ein Leuchten, ein Riechen, ein Ton von draußen ist mit dem Tod durch die Gaffe gegangen und hat sie für eine kurze Weile lebendig gemacht. Nun rst sie wieder grau, gelb und schmutzig. Kinder johlen, Große arbeiten und feilschen.— K. Schmid-BoromäuS, von LSO Gramm entfällt, so müssen wir daraus den harten, aber richtigen Schluß ziehen, daß unser Fleischverbrauch sich auf ein Viertel ermäßigt hat. Es wird lange dauern— vielleicht Jahre— bis unsere Viehvroduklion in Verbindung mit der Einfuhr uns unsere Fleischtöpfe wieder ebenso füllen wird wie vor dem Kriege. Die Viehbestände sind verringert, auch im Auslände, ihre Ergänzung wird jedenfalls längere Zeit in Anspruch nehmen. Da gewinnt denn die Frage nach einem Ersatzprodukt eine weit über die Kriegszeit hinausreichende Bedeutung. Ein solches Ersatz- Produkt scheint nun für uns das Kaninchen werden zu sollen. Die Bedingungen für die Aufzucht und Mästung dieser anspruchslosen Tiere sind außerordentlich günstig. Bekannt ist die große Frucht- barkeit der Kaninchen. Eine Häsin wirft in einem Jahre etwa 24 Junge, von denen die Häsinnen der beiden ersten Würfe noch im selben Jahre 36 Junge erzeugen, so daß die Gesamtnach'ommen- schafr in einem Jahre 6t) Stück beträgt. Die Tiere sind Allesfresier. Sie nehmen mit den Abfällen aus dem Haushalte vorlieb; man kann ihnen Disteln und Nesseln vorsetzen und sie verwerten jedes Stückchen Rasenfläche vor dem Hause oder in einer Garlenecke. Dazu kommt, daß uns das Tier nicht nur sein Fleisch, sondern auch sein Fell schenkt. Selbst das gewöhnliche Kaninchenfell stellt ja heule„auf Bisam" verarbeitet einen beliebten, wenn auch nicht hochwertigen Pelzschmuck dar. Es gibt aber Raffen wie die „Französisches Silber" oder die Raffe„Blauer Wiener", die Felle liefern, die bis zu 4 M. das Stück bezahlt werden. So lassen sich für die deutsche Ernährung und Volkswirtschaft hier leicht große Werte gewinnen. Ein Vorurteil muß freilich noch besiegt werden, nämlich dieses, daß das Kaninchenfleisch ein minderwertiges Nahrungsmittel sei. Was zunäibst seine qualitative Zusammensetzung anbelangt, so steht diese beispielsweise der von Rindfleisch nicht nur nicht nackt sondern sogar voran. Nach Scheel enthält mageres Rindfleisch 76,8 Proz. Wasser, 20,3 Proz. Eiweiß und 3 Proz. Fett. Kaninchenfleisch da- gegen enthält nur 6g, g Proz. Wasser, 20,2 Proz. Eiweiß und l8,g Proz. Fett. Und was den Wohlgeschmack anbelangt, so wird das Kaninchen gerade im Lande der Feinschmecker, in Frankreich . außerordentlich geschätzt. ES kommt nur auf die Zubereitung an. Bei richtiger Behandlung steht es an Wohlgeschmack dem Kalbfletsch nicht nach. und der hoch kleines Feuilleton. Das Kaninchen als volksnahrungsmittel. Wenn wir von der Statistik erfahren, daß Deutichland Friedenszeilen einen Fleischverbrauch von 62 Kilogramm im Jahre oder 1 Kilogramm in der Woche pro Kopi ausweist, und damit die Talsache vergleichen, daß nach der Regelung des Fleischverbrauchs auf den Kops des Städters— die Landleule sind ja in der Be- ziehung glücklichere Menschen— ein wöchentliches Fleischquantum Nottze». — Wedekinds Gastspiel in den Kammerspielen brachte am Mittwoch seinen, S ims on". Im Gegensatz zu der stürmischen Uraufführung im Januar 1914 wurde das Spiel von „Scham und Eiferulchl" diesmal sehr gelassen aufgenommen. Wie „Hidalla" und„So ist das Leben" ist der„Simson" eine Lebens- beichte des Dichters, und so mochte es ihn reizen, zum Selbst- erkündiger seiner Paradoxe und seiner Bitterkeiten zu werden. Aber was in„Hidalla" überzeugend geriet, wo Wedekind selbst der eindruckvollste Da, steller des Apostels Hetmann wurde, scheiterte hier an den ganz aneeren Anfoideriingen der Simsonrolle. Dalilas Lob:„Des Liedes Schluß singt Siinso» so gewaltig, wie's keinem Sänger außer ihm gelingt", trifft für Wedekind selbst nicht zu. Den Krastmenschcn Simson bleibt er schuldig, und der Sänger deS eigenen Leids, der als einzige Stimulontien des Scheusals Leben, Narrheit und Betrug entdeckt, trifft uns nur in einzelnen Momenten zutiefst. Dazwischen aber doziert er unbeholfen, ein Hetmann, aber ketn Simson. Ttllq W e d e k i n d ist keine Durieux und auch keine Dalila, aber ihr gefälliges Talent leistet alles, was von ihrer Opferlust verlangt werden kann. Die Theaterszenen des ersten und dritten Aktes boten ganz die Bewegtheit, wie Wedekind als Regisseur sie liebt, und eine kapitale Sammlung kräftig herausgearbeiteter Philisterfürsten, unter denen besonders W. K r a u tz als Og hervor- trat.— r. — Bühnenchronik. Mafalda S a l v atini, das frühere Mitglied des Königlichen Opernhauses, ist vom Deutschen Opernhaus engagiert worden. — Kriegslithographien hat der hannoversche Maler Otto Hamel in einem stattlichen Hest gesammelt, das zum Besten des Roten Kreuzes verkauft wird.(Preis 2 M.) Die sehr lebendig aufgefaßten Zeichnungen schildern die Fürsorge für Verwundete im Felde, in der Bahn und im Lazarett; andere Blätter geben im- preisionistische Momentbildcr aus dem Osten und dem Orient. — Eine amerikanische Arche Noah. Da der Tier- bestand des Zoologischen Gartens in Antwerpen während der Be- schießung im Herbst 1914 zum größten Teil vernichtet wurde, wandte sich der Direktor an den New Darier Garten um Ueberlasiung von Tieren. Wenn man den Blättern glauben darf, wird gegenwärtig ein ganzes Schiff zu diesem Zweck ausgerüstet, um die mehr oder weniger wilden Paffagiere aufzunehmen, und so wird sich die Ge- schichte von der Arche Noah wiederholen, da das Schiff fast von jeder Tiergattung wenigstens ein Exemplar über das große Wasser bringen soll. 11 Warum! Von Leo Tolstoi . Im Frühling des Jahres 1830 kam zum polnischen Herrn Jatschewski auf seinem Stammsitz Roshanka der einzige Sohn seines verstorbenen Freundes, der junge Josef Migurski, zum Besuch. Jatschewski roor ein fünfundsechzigjähriger Greis mit breiter Stirn, breiten Schultern, breiter Brust und einem langen weißen Schnurrbart im roten Gesicht! er war ein Patriot aus der Zeit der zweiten Teilung Polens . Als Jüngling hatte er mit Migurskis Vater unter Kosciusko ge- fochten und haßte mit aller Kraft seiner patriotischen Seele die„apokalyptische"— wie er sich ausdrückte— Buhle, wie Katharina II. und ihren frechen Liebhaber, den Verräter Poniatowski , und glaubte ebenso fest an eine Wiederher- stellung des Königreichs Polen , wie er nachts daran glaubte, daß am Morgen die Sonne wieder aufgehen würde. Im Jahre 1812 befehligte er ein Regiment im Heere Napoleons , den er vergötterte. Der Untergang Napoleons betrübte ihn, aber er verzweifelte trotzdem nicht an einer Wiederherstellung des wenn auch verstümmelten Königreichs Polen. Die Eröff- nung der Ständeversammlung in Warschau durch Alexander I. belebte seine Hoffnungen: die Heilige Allianz dagegen, die Reaktion in ganz Europa und die Verrücktheit Konstantins schoben die Verwirklichung seines letzten Wunsches in weite Ferne. Seit- 1825 hatte Jatschewski sich auf dem Lande niedergelassen und lebte nun seßhaft in seinem Roshanka. wo er sich mit der Wirtschaft beschäftigte, auf die Jagd ging und Zeitungen und Briefe las, und so trotz allem die politischen Ereignisse in seinem Vaterlande eifrig verfolgte. Er war in zweiter Ehe mit einem arnicn, hübschen adeligen Fräulein verheiratet, und diese Ehe war unglücklich. Er liebte und verehrte diese zweite Frau nicht, empfand sie als eine Last und behandelte sie schlecht und roh, als wollte er sich für den Fehler, den er mif seiner zweiten Ehe begangen, an ihr rächen. Kinder hatte er von der zweiten Frau nicht. Von der ersten Frau dagegen waren zwei Töchter da: die ältere, Wanda, eine majestätische Schönheit, die den Wert ihrer Schönheit kannte und sich auf dem Lande langweilte, und, die jüngere, Albina, des Vaters Liebling, ein lebhaftes, etwas mageres Mädchen mit blonden Locken und wie beim Vater breit auseinander- stehenden, großen, glänzenden, grauen Augen. Albina war fünfzehn Fahre alt, als Josef Migurski zum Besuch kam. Migurski war schon früher als Student bei Jatschewski in Wilna gewesen, wo sie im Winter wohnten, und hatte Wanda den Hof gemacht; jetzt kam er aber zum erstenmal als vollständig erwachsener freier Mann zu ihnen aufs Land. Der Besuch des jungen Migurski war allen Be- wohnern Roshankas willkommen. Dem Alten war Josef Migurski deswegen angernchm, weil er ihn an den Vater, seinen Freund, in jener Zeit erinnerte, wo sie beide jung ge- wesen waren, und weil er leidenschaftlich und voll der rosig- sten Hoffnung von der revolutionären Gärung erzählte, die nicht nur in Polen , sondern auch im Auslande herrschte, woher er kürzlich zurückgekehrt war. Frau Jatschewski war Migurski angenehm, weil der alte Jatschewski in Gegenwort von Gästen an sich hielt und sie nicht wegen jeder Lappalie ausschalt. Wando war er ange- nehm, weil sie die Ueberzeugung hegt«, Migurski käme ihretwegen und beabsichtige, ihr einen Antrag zu machen: sie war bereit, ihm ihr Jawort zu geben, hatte aber die Absicht, wie sie sich im Selbstgespräch ausdrückte: lui tenir la dragöe baute.') Albina war vergnügt, weil alle vergnügt waren. zu hängen. Wanda war nicht die einzige, die überzeugt war, Migurski käme in der Absicht, ihr einen Antrag zu machen. Das glaubten alle im Hause vom alten Jatschewski bis zur Kinderfrau Ludwika, obschon niemand es aussprach. Und es war Wahrheit. Migurski kam tatsächlich in dieser Absicht; nachdem er aber eine Woche dagewesen war, reiste er, durch irgend etwas verwirrt und verstimmt, ab, ohne seinen Antrag gemacht zu haben. Alle waren über diese un- erwartete Abreise erstaunt, und niemand außer Albina begriff die Ursache. Alüina wußte, daß die Ursache dieser sonder- baren Abreise— sie war. Während der ganzen Dauer seines Aufenthaltes in Roshanka hatte sie bemerkt, daß Migurski besonders erregt *) Lui tenir la dragee haute= ihm den Brotkorb etwas höher und lustig nur mit ihr gewesen war. Er verkehrte mit ihr wie mit' einem Kinde, scherzte mit ihr, foppte sie, aber sie fühlte mit weiblichem Instinkt, daß diesem Perkehr mit ihr nicht das Benehmen eines Erwachsenen gegenüber einein Kinde, sondern eines Mannes gegen ein Weib zugrunde lag. Sie sah das an dem liebenden Blick und dem freundlichen Lächeln, womit er sie empfing, wenn sie ins Zimmer trat, und sie begleitete, wenn sie hinausging. Sie gab sich nicht genau Rechenschaft darüber, was das war. aber dieses Be- nehmen gegen sie machte ihr Vergnügen, und sie gab sich un- willkürlich Mühe, das zu tun, was ihm gefiel. Und deswegen führte sie in seiner Gegenwart alle Handlungen mit eigen- tümlicher Erregung aus. Ihm gefiel es, wie sie mit dem schönen, kurzhaarigen Barsoihundc um die Wette lief, der an ihr hinaussprang und ihr errötendes, strahlendes Gesicht leckte; es gefiel ihm, wie sie beim geringsten Anlaß in ein helltönen- des, ansteckendes Gelächter ausbrach; wie sie bei der lang- weiligen Predigt des Geistlichen einen ernsten Gesichtsaus- druck annahm, während ihre Augen lusfig weiterlachten: ge- fiel ihm, wie sie mit ungewöhnlicher Naturtreue und Komik bald die alte Wartefrau, bald den betrunkenen Nachbar, bald ihn selbst, Migurski, kopierte, und augenblicklich von einer Darstellung in die andere überging. Besonders gefiel ihm ihre begeisterte Lebensfreude. Es war, als wenn sie soeben erst den ganzen Reiz des Lebens vollständig erkannt hätte und sick nun beeilte, ihn auszukosten. Ihm gefiel diese ihre eigen- tünrliche Lebensfreude/ die wiedermn gerade dadurch erregt wurde und wuchs, daß sie sein Entzücken darüber kannte. Deswegen ivußte Albina allein, weshalb Migurski, der gekommen war, Wando einen Antrag zu machen, ohne diesen Antrag wieder abreiste. Obgleich sie sich niemals hätte entschließen können, das irgend jemand zu sagen, und obgleich sie es sich sechst nicht deutlich sagte, wußte sie in der Tiefe ihres HerzenS, daß er ihre Schwester hatte liebgewinnen wollen, sie aber, Albina, liebgewonnen hatte. Albina wunderte sich sehr dar- über, hielt sich für ganz unbedeutend im Vergleich mit der verständigen, gebildeten, schönen Wanda, konnte aber nicht anders, als sich darüber freuen, weil sie selbst mit aller Kreit ihrer Seele Migurski liebte, ihn so liebte, wie man nur zum erstenmal und nur einmal im Leben liebt. (Forts, folgt.)
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33 (23.6.1916) 145
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