Nr. 149.- 1916.Unterhaltungsblatt öes vorwärtsMittwoch, 38. Iuui.Lieber öen Sabunapaß.Ich fitze am 26. Mai, jedenfalls einem Sonnabend, und inbrüllender Sonnenglut im Wagen im Babunagebirge. Es hat einpaar mal heute tüchtig geregnet und dadurch ist die Luft feucht-warm. Gestern nachmittag marschierten wir ab, es war Pracht-Wetter, das Tal bildschön, heroische Landschaften, Stil Tboma.Äbends bezogen wir Biwak zwischen den Mauern etnes verlassenenund zerstörten Dorfes. Nur in einem Hause war Licht, bulgarischeTruppen hatten es belegt. Mein Feldbett stand mit demKopf gegen eine alte Lehmmauer, auf der die Azetylen-lampe lohte für Beleuchtung des Lagers. Im Kreiseberum standen die Wagen der marschierenden Etappe, dieDeichseln so verbunden, dah die Pferde nicht ausbrechenkonnten. Phantastische Gemüter hätten auch glauben dürfen,es sei ein Kraal gegen Komitatschis oder Wölke des Babunagebirges.aber da ich zu den nüchternen Soldaten des Weltkrieges gehöre, soblieb ich bei der Wirklichkeit und schlief so unbewaffnet, wie meineneugeborene Tochter. Gegen Morgen wurde es kühl, ich stand auf,wusch mich katzenhaft in einer Rinne und frühstückte auf einemStein, sitzend vor einer Kiste als Tisch, umdrängt von drei jungenHunden, deren einen wir mitnahmen. Um Vef) Uhr Abmarsch. Eswurde sehr schnell heiß. Der Weg war gut, teilweise von Hoch-Wasser weggerissen, aber immer fahrbar. Ein starker Bach, dieBabuna. bildete Taloisen, in denen bulgarische Kolonnen lagerten.Gegen VzIO Uhr bezogen wir Biwak, diesmal im Schatten schönerPappelbäume. Im Bach badeten wir notdürftig zwischen demGeröll das Gebirgswasser erfrischte durch seine herbe Kühle, einpaar Schildkröten sahen erstaunt zu und versuchten gleich uns,sich ihrer Schalen zu entledigen. Dafür nahmen wir sie mit, unsereMenagerie zu vermehren. Heftige Regengüsse setzten ein. Die Bul-garen krochen in ihre Ochsenkarren, die Zugtiere flüchteten in denSchutz der Bäume und auch wir wurden ziemlich naß. Wir brachendeshalb schon um 3 Uhr wieder auf und erreichten die erste Hälfteder Steigung bei einem türkischen Unterkunftsbaus. Dort lagertendeutsche und bulgarische Kolonnen, aber das Gebäude sah so wenigverlockend aus, dost wir noch weiter zu marschieren beschlossen.Der Strastenverkehr war ziemlich lebhaft. Eine Karawane ziehtvorbei. Man sieht Männer. Frauen und Kinder auf kleinenPserdchen reiten. Die Leute sind mazedonisch gekleidet, bunt, dieMänner mit kurzen, weisten Röcken über halblangen, weisten Hosen,Fes oder Turban. Die Frauen in ihren schön gestickten,weisten Gewändern, aber olle mit Schaspelzwesten und dickenFilzstiefeln. Die Gegend hat Mittelgebirgscharakter, obleich man eseigentlich zum Hochgebirge zählen darf. Das leichtbewaldete Gebirgelästt groteske Felsen sehen. Es liegt aus fast 2CKX) Meter Höhe, istauffallend schön und soll sehr wildreich sein. Die Felsen find Violeltim Schatten, ein Sonnenfleck lästt sie resedagrün aufleuchten, einzelnerote Streifen sind eingesprengt, wo Wasser darüber läuft, glänzensie weist. Aus den Hängen weiden weiste Rinder. Mitten zwischenFliedergebüsch, Akazien, zerkrüppeltem Geäst, durch die ein Bachplätschert und eine Nachtigall singt, beziehen wir in 1000 Meter Höhewieder Nachtquartiere. Es regnet nicht mehr, aber es ist stark abgekühlt.Ich sitze auf einer Bierlonne, deren Inhalt zum Schmerz meiner Leuteausgelaufen ist, weil die erhitzte Flüssigkeit den Spund heraus-fvrengle. Butterbrot und roher Schinken sind meine Mahlzeit,Marmelade mein Denert und eisenhaltiges Wasser aus einer serbi-schen Quelle bei Palanka mein Getränk. Mein Bett ist zwischen dieSträucher gestellt und durch zwei Zeltbahnen gegen alle Witlerungs-unbill geschützt. Auf der einen Seite des Berges liegt ein Eselbegraben, dessen Schwanz noch aus der Erde heraus-sieht. Es bedurfte meines energischen Einspruchs, um meineLeute daran zu verhindern, gerade auf dem Hügel abzu-lochen, der ihnen ganz besonders dafür geeignet schien.Neben mir lagen auf Stroh die Mannschaften und danebenknabberten die Pferde das duftige Gras. Die ganze Lust ist volliüstem Geruch, überall steht Thymian und andere würzige Kräuter.Die Nacht strafte leider meine Hoffnung, gegen olle Wetterstürze ge-sichert zu sein, Lügen. Es erhob sich ein tolles Unwetter, dem dieZeltbahnen nicht standhielten, bald tropfte und rieselte es durch undehe ich mich's versah, war mein Feldbett in eine Badewanne der-wandelt, in der ich fremd lag. Ich begreife erst jetzt vollkommen,warum Wickelkinder so kläglich schreien, denn so nast bin ich seit bald40 Jahren nicht gewesen. Ich zog mich mit einigen Mänteln wärmeran, so dast ich einem wondeludcir Priestnitzumschlag glich.Um 4 Uhr stand ich dann auf und beschleunigte den Abmarsch.Nach einer Stunde hatten wir die Pasthöhe erreicht, es pfiff eisigkalt herüber, ein wundervoller Blick tat sich auf. Im Vordergrundeein ganz kahles, zerklüftetes Gebirge, weit hinten die SchneebergeAlbaniens und davor im Kessel, hohe Bäume, weiste Häuser:„Prilep"zu dem es jetzt in Schlangenwindungen hinabgeht.Das Klima auf dem Südhang des Babunagebirges ist merk-würdigerweise viel härter als nördlich. Der Baumwuchs hat ganzaufgehört, nur verkümmerte Föhren und ein paar Blumen ragenüber die abgeweidete Grasnarbe. Sie bestätigen uns. dast der Wind,der hier so kalt uns umstreicht, dast mir zwei Mäntel nicht zu vielsind, ein ständiger Gast ist.Das Flüstchen, das hier fliestt, ist kleiner als die Babuna, nichteinmal einen Namen haben die Karten dafür.In das Tal hat sich einst ein gewaltiger Gletscher geschoben,Moränen von einer Mächtigkeit, wie man sie selten und selten an-schaulicher findet, erheben sich rechts von der Strohe, die hohenBerge nach Griechenland zu, von denen die Eismassen herunter-gekommen sein dürsten, sind kahl, doch sieht man ein Dörfchen sichhoch oben in eine Falte schmiegen, ohne dast man begreift, wovondie Leute leben. Geier und Adler schwingen sich um die Klippen,am Flusse gehen ein paar Bulgaren mit einem hübschen Hund aufSuchjagd._(Schiltst folgt.)Meines Zeuilleton.Wilson und Marx.In der.Humanits" veröffentlicht Bracke die folgenden Be-trachlungen: Neulich, im„Jntransigeant" vom 3. Juni, wies AbelHermani auf eine nach seiner Meinung bewunderungswürdigeFormel hin, die sich in einer der letzten Reden des Präsidenten derVereinigten Staaten, Wilson, fand. Sie bezeichnete in seinen Augenden Standpunkt, auf den die zivilisierte Menschheit sich stellenmühte, um den Krieg abzuurteilen und den Frieden zu sichern.Dieses.glückliche Wort, diese„groste Losung", die bestimmte,was die Beziehungen zwischen den Völkern sein mühten, war:.Die Nationen müssen in Zukunft durch dieselben oberstenGesetze der Ehre beherrscht sein, die wir von den Individuenfordern."Sehr gut. Aber eS wäre zu bemerken, dast es lange Zeit ge-braucht hat, bis die Oberhäupter der Staaten eine so richtige Regelverkündet und die Zeitungen der Bourgeoisie sie gebilligt haben. Sohat sie für sie den Reiz der Neuheit.Gleichwohl ist sie schon alt. Der Satz ist vor mehr als einemhalben Jahrhundert geprägt worden und Wilson hat ihn nur—gleichgültig, ob er es gewutzt hat oder nicht— wiederholt.Im Namen welcher Nation sprach dieser Vorgänger Wilsons?Im Namen der gröstien aller Nationen der Arbeiter allerLänder.Wer war dieser Mann, der hernach Wilsons und des„In-transigeanl" Zustimmung fand?Er hiest Karl Marx.In dem Aufruf, mit dem die Internationale Arbeiteraffoziationim November 1864 ihre Gründung kundgab— der Aufruf ist, wiejeder weist, von Karl Marx redigiert— wurde die.auswärtigePolitik" der Internationale mit folgenden Worten bestimmt:„die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts zu proklamieren,die ebenso wohl die Beziehungen einzelner regeln, als auch dieobersten Gesetze des Verkehrs der Nationen sein sollten."Diese Erklärung hat der Generalrat der Internationale, fürden Karl Marx damals noch das Wort führte, geflissentlich an derSpitze seiner ersten Adresse wiederholt, die er zu Beginn desKrieges 1870 an die Mitglieder der Internationalen Arbeiteraffoziationin Europa und in den Vereinigten Staaten richtete.(z)Trockenmilch.Milch ist eine kostbare und kostspielige Flüssigkeit, die obendreinnoch den Nachteil hat. sich leicht zu verändern. Der Gedanke, einesder wichtigsten Nahrungsmittel in eine Dauerware zu verwandeln,ist naheliegend. Der einfachste und sonst gebräuchlichste Weg hierzu,das Sterilisieren, ist recbt kostspielig und für die meisten Fälle auchunpraktisch, weil die Milch zum allergrößten Teil aus Wasser be-steht, das man eben mit sterilisieren, transportieren und ausbewahrenmuß. Deshalb wurde dann der Weg eingeschlagen, wenigstens einenTeil des Wassers zu entfernen, die Milch im luftleeren Raum häufigunter Zusatz von Zucker einzudicken. Das schon lange bekannte Er«zeugnis dieses Verfahrens ist die kondensierte Milch.Durch die Fortschritte der Trocknungsindustrie wurde es auchmöglich, der Milch das Wasser vollständig zu entziehen, sie in einPulver zu verwandeln. Auch hier führen verschiedene Wege zumZiel. In Amerika ist ein Verfahren verbreitet, bei welchem dieMilch durch Düsen gedrückt, zu feinem Nebel verstäubt und indiesem Zustande mittels eines heißen Luftstromes getrocknet wird.Eine deutsche Maschinenfabrik wählte folgenden Weg: Eine ge-heizte Trommel dreht sich im luftleeren Raum. Diese Trommeltaucht an der tiefsten Stelle in die zu trocknende Milchein. überzieht sich mit einer Milchschicht, die nach Abgabedes Wassers kurz vor einer ganzen Umdrehung durch einMesser abgeschabt wird. Bei dem in Deutschland gebräuchlichste»Verfahren wird die Milch unterhalb ihres Siedepunktes an deratmoiphärischen Lnft getrocknet.Milchpulver war schon vor Kriegsausbruch im Verkehr, währendder Kriegszeit aber hat es an Bedeutung gewonnen, so daß es wohlangebracht ist, einige Bemerkungen dazu zu machen. Sie wirdmeistens unter Phantasienamen, wie„Kuh in der Düte" verkauft, wasin gewissem Sinne schädlich ist. Wenn man nämlich kondensierteMilch beim Kauf verlangt, muß man eingedickte Milch, also Voll-milch erhalten. Wenn Magermilch kondensiert wurde, dann heißtdas Erzeugnis kondensierte Magermilch. Würde von vornhereindie getrocknete Ware als Trockenmilch, Milchpulver, Mager-trockeiimilch, Magermilchpulver eingeführt worden sein, dannwäre auch für den Durchschnittskäuser jeder Irrtum auch ohnebesondere Aufmerksamkeit ausgeschlossen. Anders beim Phantasie-namen: er bezeichnet sozusagen ein Ding an sich, sagt an und fürsich gar nichts über die Beschaffenheil der Ware. Wer nicht genauhinsieht, wird leicht getrocknete Magermilch statt Vollmilch bekommen.Nun ist auch Magermilch etwas Gutes und Brauchbares, wenn siepreiswert ist. Aber selbst die preiswerteste Magermilch hilft nichts,wenn ich etwa für ein Kind oder einen Kranken gerade auf den Fett-geholt besonderen Wert lege.Was hier am Beispiel der Trockenmilch erläutert wurde, ließesich an Dutzend anderen Waren zeigen, um zu beweisen, dast esgerade heute in der„teuren Zeit" nötig ist beim Einkauf die Augenoffen zu haben, sonst bekommt man leicht statt Schuhsohlen-»Pappe._pearp war nicht am Noröpol.Wenn Roald Amundsen im nächsten Jahre zum Nordpol auf«bricht, kann er sicher sein, ein Reiseziel vor sich zu haben, das vorihm kein Polforscher erreicht hat— auch nicht Pearl), der bekanntlich seinerzeit den Pol erreicht zu haben behauptete, ja den Ort miteiner amerikanischen Flagge bezeichnet und dem Präsidenten der Ver-einigten Staaten zu Füßen gelegt haben will. Dast Peary wirklichnicht am Nordpol war. ist ein Ergebnis, zu dem jetzt auch dieAmerikaner gelangt sind.„Aftenposten" läßt sich darüber ausWashington ausführliche Mitteilungen drahten. In maßgebendenKreisen sind danach Pearys Entdeckungen so zweifelhaft geworden.dast das amerikanische Marinedepartement die Polarkarten Pearyseingezogen hat. Von verschiedenen Seiten find die heftigstenKritiken laut geworden: es wird nicht nur angegeben, dast PearysAngaben viele Fehler enthalten, sondern es wird die Vermutungausgesprochen, daß es sich um bewußte Fälschungen Pearys handele.Der schärfste Kritiker des nordamerikauischen Polarforschers istsicherlich Henry T. Helgesen, ein Amerikaner norwegischer Abkunft,der als Vertreter Nord-Dakotas im Kongresse sitzt. Helgesen hatjüngst in Washington im Repräsentantenhause einen Vor-trag gehalten, in dem er PearyS angebliche Nordpol-entdeckung ins Reich der Fabel verwies und dessen Kartenfür irreführend erklärte. Er machte beispielsweise daraufaufmerksam, dost Peary im Nordwesten Grönlands einen„Peary-Kanal" als Nordbegrenzung von Grönland verzeichnet. DieForschungen Mylius-Erichsen« haben aber gezeigt, dost von einemsolchen Kanals und einer solchen Begrenzung nicht die Rede ist.Leutnant I. P. Koch hat gezeigt, dast Pearys Ostgrönlandssee nichtvorhanden ist, und die Forschungen Mikkelsens und Rasmussenshaben auch viele Dinge, die Peary aufgefunden haben will, nichtbestätigt. So ist beispielsweise Pearys Jsiupland nicht vorhanden.Helgesen kam bei dieser öffentlichen Kriiik Pearys auf Grund vondessen weiteren Angaben über seine Lagerplätze und seine Lotungen,u dem Ergebnis, dast Peary nie am Nordpol oder in dessenNähe war.5]Warum!Von Leo Tolstoi.VII.Gerode während dieser für Migurski so schweren Zeitkam der Pole Rossolowski nach Uralsk, der in den großartigenvom Geistlichen Sirozinski �entworfenen Empörungs- undFluchtplan verwickelt war. Sirozinski war damals nach Si-birien verbannt.Rossolowski, der ebenso wie Migurski und wie tausendandere Leute deswegen mit Verbannung nach Sibirien bestraftwar, weil sie dasjenige sein wollten, als was sie geborenwaren, nämlich Polen, hatte sich an jenem Plan beteiligt undwar dafür mit Rutenhieben bestraft und in dasselbe Batailloneingereiht, in dem Migurski diente. Rossolowski, ein ehe-nialigcr Mathematiklehrer, war ein langer, etwas krummer,hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und gefurchterStirn.Gleich am ersten Abend seiner Ankunft, als er bei Mi-gurskis Tee trank, begann Rossolowski in seinem langsamenruhigen Baß von dem Unternehmen zu erzählen, wegen dessener so grausam gelitten hatte. Das Unternehmen bestand darin,daß Sirozinski in ganz Sibirien geheime Verbindungen orga-nisiert hatte, die mit Hilfe aller in Kosaken- und Linienregi-menter eingereihten Polen die Soldaten und Sträflinge auf-wiegeln, die verbannten Ansiedler zur Erhebung veranlassen,sich der Artillerie in Omsk bemächtigen und alle befreienwollten.„Aber wie war denn das möglich?" fragte Migurski.„Sehr gut; alles war fertig," sagte Rossolowski mitfinsterer Miene und erzählte ruhig den ganzen Befreiungs-plan und olle Maßregeln, die für den Erfolg, und im Falle desMißlingens zur Rettung der Verschworenen getroffen waren.Ter Erfolg wäre sicher gewesen, wenn nicht zwei Schurckenalles verraten hätten. Sirozinski war nach RossolowskisWorten ein genialer Mann von großer Seelenstärke. Er warauch als Held und Märtyrer gestorben. Rossolowski erzähltein gleichmäßigem ruhigen Baß die Einzelheiten der Exekution,der er auf Befehl der Obrigkeit mit allen wegen der Ange-legenheit Verurteilten hatte beiwohnen müssen...Zwei Bataillone standen in zwei Reihen und bildeteneine lange Gasse. Jeder Soldat hatte einen biegsamen Stockin der Hand von der allerhöchst bestätigten Stärke, daß nurdrei in die Gewehrmündung hineingingen. Als erster wurdeDr. Schakalski gebracht. Zwei Soldaten führten ihn, und die-jenigen, welche Stöcke hatten, schlugen ihn auf den entblößtenRücken, sobald er in einer Richtung mit ihnen war. Ich sahihn erst, als er an die Stelle kam, wo ich stand. Bis dahinhatte ich nur Trommelwirbel gehört, dann aber, als dasPfeifen der Gerten und das Geräusch der Schläge auf demKörper ertönte, wußte ich, daß er kam. Und ich sah, wie dieSoldaten ihn an Gewehren zogen, und wie er zitternd und denKopf bald nach dieser, bald nach jener Seite wendend, ging.Und gerade, als er an uns vorübergeführt wurde, hörte ich.wie der russische Arzt zu den Soldaten sagte:„Schlagt nichtso heftig, habt doch Erbarmen!" Aber sie schlugen immerfort,und als er zum zweitenmal an mir vorübergeführt wurde,ging er schon nicht mehr selbst, sondern wurde geschleppt. SeinRücken bot einen entsetzlichen Anblick. Ich drückte die Augenzu. Er fiel hin und wurde fortgetragen. Dann wurde derzweite gebracht, dann der dritte, der vierte. Alle fielen hin,alle wurden fortgetragen, die einen für tot, die anderen kaumlebend, und wir alle niußten dabeistehen und zusehen. Dasdauerte sechs Stunden— von frühmorgens bis zwei Uhrnachmittags. Der letzte war Sirozinski selbst. Ich hatte ihnlange nicht gesehen und hätte ihn nicht wiedererkannt, so warer gealtert. Sein rasiertes, ganz runzeliges Gesicht war blaß— grünlich. Sein entblößter Körper mager, geblich, dieRippen traten über dem eingezogenen Bauch deutlich hervor.Er ging ebenso wie alle anderen, zuckte bei jedem Schlag zu-sammen und warf den Kopf hoch, stöhnte aber nicht und sprachlaut das Gebet:„Gott erbarme Dich meiner."„Ich habe es selbst gehört," röchelte Rossolowski schnell,schloß den Mund und schnob durch die Nase.Ludwika, die am Fenster saß, schluchzte und bedeckte dieAugen mit ihrem Tuch.„Vergnügen, das zu beschreiben! Bestien— Bestien sindes!" schrie Migurski, warf die Pfeife hin, sprang vom Stuhlauf und ging schnell in das dunkle Schlafzimmer. Albina saßwie versteinert da und hatte die Augen auf einen dunklenWinkel gerichtet.vm.Als Migurski am nächsten Tage vom Exerzieren nachHause kam, wurde er durch das Aussehen seiner Frau über-rascht und erfreut, die ihm wie ehemals mit leichten Schrittenund strahlendem Gesicht entgegenkam und ihn ins Schlaf-zimmer führte...Jose, hör mal."„Nun. was denn?"„Ich habe die ganze Nacht über das nachgedacht, wasRossolowski erzählt hat. Und ich hin dann zu dem Entschlußgekommen: ich kann so nicht leben, kann hier nicht leben.Ich kann nicht! Und wenn ich sterben soll— hierbleibenkann ich nicht."„Was sollen wir denn machen?"»Fliehen."„Was denn? Fliehen?"„Ich habe alles überlegt. Hör mal zu—" und sie er-zählte ihm den Plan, den sie heute nacht ersonnen; er warfolgender: Er. Migurski, sollte abends aus dem Hause gehenund am Ufer des Ural feinen Mantel und im Mantel einenBrief zurücklassen, in dem er schrieb, daß er sich das Lebennähme. Man würde annehmen, daß er sich ertränkt hätte.Würde ihn suchen, dann seine Papiere einschicken. Er aberwürde sich versteckt halten. Sie würde ihn so verstecken,daß niemand ihn fände. So würden sie etwa einen Monatlang warten. Und wenn alle sich beruhigt hätten, würden siefliehen.Ihr Plan erschien Migurski im ersten Augenblick un-ausführbar, gegen Ende des Tages aber, als sie ihm mitaller Energie und Zuversicht zugeredet hatte, stimmte er ihrbei. Außerdem war er schon deswegen geneigt, ihr bcizu-stimmen, weil die Strafe für einen mißlungenen Flucht-versuch(dieselbe, von der Rossolowski erzählt hatte), nur ihn,Migurski, treffen würde; gelang die Flucht aber, so wurde siefrei, und er sah, wie schwer ihr nach dem Tode der Kinderdas Leben hier wurde.Rossolowski und Ludwika wurden in das Vorhaben ein-geweiht, und nach langen Beratungen, Abänderungen und Ver-bcsserungen war der Fluchtplan fertig. Anfangs wollten siees so einrichten, daß Migurski, wenn man an seinen Tod imWasser glaubte, allein zu Fuß entfliehen sollte. Albina aberwürde in einem Wagen fortfahren und ihn an einer verab-redeten Stelle treffen. Das war der ursprüngliche Plan. AlsRossolowski dann aber von all den fehlgeschlagenen Flucht-versuchen der letzten fünf Jahre in Sibirien erzählte(in dieserganzen Zeit war nur ein einziger Flüchtling glücklich entkommen) brachte Albina einen anderen Plan in Vorschlag,der dahin ging, daß Jose im Wagen versteckt mit ihr undLudivika bis Saratow fahren sollte. In Saratow sollte erverkleidet ans Ufer der Wolga gehen, sich an einer passendenStelle in ein Fahrzeug setzen, das sie in Saratow mietenwürde, und in ihm mit Albina die Wolga hinab bis Astrachanund über das Kaspische Meer nach Persien fahren. DerPlan wurde von allen, besonders von Rossolowski gebilligt;er bot aber die Schwierigkeit, ein Gelaß im Wagen zu schaffen,das nicht die Aufmerksamkeit der Behörden erregte, und dasdoch einen Aienschen in sich aufnehmen konnte. Als dannAlbina nach einer Fahrt zum Grabe ihrer Kinder Rossolowskisagte, wie weh es ihr täte, die Ucberreste ihrer Kleinen imfremden Lande zurückzulassen, meinte dieser nach kurzem Nach-denken:„Bitten Sie die Behörde um Erlaubnis, die Särgeder Kinder nützunehmen, man wird es Ihnen gestatten."„Nein, das will ich nicht, das kann ich nicht!" sagteAlbina.(Forts. Forts,)