Ar. 173.- 1916. Unterhaltungsblatt öes vorwärts Mlttlvoch, 26. Juli. Ein Serum-Institut. Der Pariser Korrespondent des Amsterdamer„Allgemeen Handelsblad" hat dem weltbekannten Institut Pastcur einen Be- such abgestattet, über den er folgendes berichtet: Das Institut Pafteur, das seit so vielen Jahren die Mensch- beit mit Gegengiften gegen verschiedene Krankheiten versieht, hat in diesem Kriege eine besondere Bedeutung erlangt. Die Nach- frage nach seinen Produkten hat plötzlich im enormen Mäste zu- genommen. Besonders kommt hierbei das Antitetanusscrum in Frage, das die Verwundeten gegen den früher nahezu allezeit töd- iahen„Fall" beschützen must. Uiwer gewöhnlichen Umständen sind die Fälle, bei denen Tetanus zu fürchten ist, recht selten. Sie beschränken sich, wie man weist, auf Verletzungen, bei denen die Wunden mit der Erde in Berührung kommen, nämlich der Erde, in der der Tetanus- bazillus, der anaerobisch ist, und nicht von der Luft und ihrem Sauerstoff abhängt, lebt. Seit jedoch das gegenseitige Verwunden mit Kugeln, Granaten, Lusttorpedos und Bajonetten, das Durch- löchern und Auseinanderveißen der Glieder eine Sache geworden ist, die an den diversen Fronten ausgiebig geübt wird, ist eine Tetanusinfektion ein normales Ereignis geworden. Für die Seruminjcktionen, die täglich in den Ambulanzen an und un- mittelbar hinter der Front gegeben werden müssen, sind Liter und abermals Liter nötig, und man kann denn auch sagen, daß das Institut Pasteur — nas natürlich unmittelbar nach Ausbruch des Krieges militarisiert ist und nur noch den militärischen Autoritä- ten liefert— Antitetanus in großen Mengen erzeugt. Diese Fabrikation im Großen haben wir uns bei unserem letzten Be» such in diesem„Usine de guerre", das nun allerdings nicht neue Granaten, Geschütze und sonstige Mordwerkzeuge, sondern ein segensreiches Gegengift gegen Ansteckungen erzeugt, betrachten rönnen. Die Herstellung der Sera im Institut Pasteur findet in Gar- ches, einem schönen Orte bei Paris , in der Nähe des mehr be- kannten Saint Cloud statt, wo das Institut über ein sehr aus- gedehntes Gelände verfügt. Die Hauptpersönlichkeiten in Garches , diejenigen wenigstens, die die eigentlichen Produzenten des Serums sind und denn auch mit der Rücksicht behandelt werden, wie man sie solch gewichtigen Persönlichkeiten schuldet, sind die Pferde. Sie spielen bei weitem die größte Rolle; niemals hatte ein Pferd ein solch prächtiges, beneidenswertes Leben als diese hier, die ihr Blut sür die„poilus" auf dem Altar des Vaterlandes verspritzen. Es sind viele mit langjähriger Dienstzeit dabei. Beinahe alle sind an der Front gewesen und aus diesen oder jenen Gründen, die mit ihrem allgemeinen Gesundheitszustand mchts zu tun haben, zurückgeschickt. Sie stehen nun in geräumigen, luftigen Ställen, ■tn denen fröhliche Mücken sidb in den Sonnenstrahlen tummeln und sie bekommen zu fressen und trinken, soviel sie eben Lust haben. Ihre Behandlung hinterläßt für sie absolut keine nachteiligen Fol- gen. Sie merken kaum, daß man ihnen dann und wann etwas einspritzt, hin und wieder etwas abzapft. Wenn sie sprechen könn- ten, vermute ich, daß sie allenfalls klagen würden über die über- mäßigen Sorgen, die für ihre Gesundheit getroffen sind. Da ist die tägliche Tempera turaufnahrne, das monatlich zweimal erfol- gende Wiegen und die sorgfältige Absonderung von ihren Kamera- den, damit weder ihr Futter, noch Trinkwasser mit dem ihrer Nach- barn in Berührung kommt, was natürlich zur Folge hat, daß jede Unterhaltung ausgeschlossen ist. Aber abgesehen von diesen rlei- neu Unannehmlichkeiten ist ihr Leben wirklich eine ideale Pferde- existenz. Während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts in den Ställen zu Garches sind solche Pferde nichts anderes als eine lebende Fabrik für Serum. Nach einem vorausgegangenen Jmmunisie- rungsprozeß impft man ihnen in regelmäßigen Perioden eine ge- wisse Menge Toxin, das von den Tetanusbazillen abgeschiedene Gift, ein, das in ihrem Blut das Gegengift, das Antitoxin ent- stehen läßt. Dieses wird ihnen später mit ihrem Blut wieder ab- gezapft und hilft alsdann, richtig zubereitet, im menschlichen Kör- per die Folgen der eingedrungenen Bazillen bekämpfen. Die Impfung hat für sie keine anderen Nachterle oder Schmerzen, als eine leichte Erhöhung der Temperatur, von der sie selbst kaum etwas merken. Was das Abzapfen anbelangt, so werden wir ja gleich sehen. In den Operationssälen war, als wir eintraten, gerade ein Patient hereingebracht worden. Er stand begierig vor einer Krippe voll Hafer, dem er anscheinend besonders zugetan war, denn wenn Operationstaa ist, müssen sie auf das übliche Dejeuner ver- zichten und sie erhalten auch nichts zu trinken, bevor die Operation abgelaufen ist, um das Eindringen eventueller Bakterien zu ver- hindern. Vorerst hatte er indes seinen Hafer noch nicht verdient — und erhielt ihn auch nicht. Ein Gehilfe hielt ihm das Maul zu und befestigte an seiner Nase ein Instrument, um es im Zaum halten zu können, falls es ungemütlich werden sollte. Andere be- leiteten es inzwischen für die Operation vor. Ein kleines Fleckchen oben rechts am Nacken, an der Stelle der Halsader, wurde glalt geschoren und darnach flink mit einem Antiseptikum gereinigt. Dann trat der Tierarzt heran, machte mit seinem Messer einen raschen Einschnitt und drückte in die entstandene kleine Oeffnung in der Ader das Ende eines Glasbehälters, an dessen anderem Ende ein Kautschukschlauch befestigt war, der in einer Glasflasche mündete, alles natürlich sorgfältig sterilisiert. Unmittelbar dar- nach begann das dicke Blut in ziemlicher Stärke in die Flasche zu fließen. Zu gleicher Zeit ließ der Gehilfe, der die Schnauze des Pferdes festgehalten hatte, diese los und das Tier, ohne sich darum zu kümmern, daß sein kostbares Herzblut in Strömen wegfloß, vertiefte sich mit seinen Kopf in der Krippe, um mit großem Äppe- tit zu fressen. Dies ist ein doppelter Vorteil für den Operateur: Das Tier hält ihm still und fördert durch feine Bewegungen, be- sonders denen des Kopfes, den Abfluß des Blutes.... Zweimal wurde die Glasflasche, die zwei Liter enthält, wenn sie gefüllt ist, durch eine andere ersetzt, bis die sechs Liter, die die normale Menge eines Aderlasses bilden, erreicht waren. Alsdann wurde der Glasbehälter fortgenommen, die Wunde geschlossen und das Pferd auf seinen Platz zurückgebracht, um von einem anderen abgelöst zu werden. Diese Abzapfung wird während des Monats noch einmal wiederholt, womit das Tier das regelmäßige Ouan- tum von 12 Litern pro Monat liefert. Und dieses Leben wird das Pferd auf diese Weise Jahre und abermals Jahre fortsetzen, bis ein hohes Alter Einhalt gebietet, denn die Eigenschaft, gutes Serum zu liefern, bleibt, wenn sie einmal vorhanden ist, unbe- schränkte Zeit, wenigstens für Serum gegen Tetanus . Gewöhn- lieh benützt man Pferde während der ersten vier bis fünf Jahre zur Lieferung deS Antidiphtherieserums. Sind sie dafür nicht mehr zu gebrauchen, so kommen sie für die Produktion des Tetanusserums in Betracht. Unter den Pferden, die unS später gezeigt wurden, war eins, das zu denen gehörte, von denen Pasteur seine Proben genommen hatte. Dieses Pferd hat in seinem Leben bis- her nicht weniger als 2008 Liter Serum geliefert. Wiebiel Men- fchenleben hat das brave Tier damit gerettet! _(Schluß folgt.) kleines Feuilleton. öernharö Shaw. Seinen sechzig st en Geburtstag begeht heute Bern - Harb Shaw, der cnglisch-irische Dramatiker. Weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus hat sein Schaffen Bedeutung erlangt. Ungewöhnlicki scharfe Beobachtungsgabe, geistvollster Dialog, un- barmherzige Geißelung aller gesellschastlicben Heuchelei und Korruption zeichnen seine Komödien aus. Ihre schärfsten Pfeile schießen sie gegen einen Idealismus, der in Wirklichkeit nur Unwahrheit, „Romantik in Politik und Moral" ist.„Für mich liegt die Tragödie wie die Komödie des Lebens in den teils schrecklichen, teils lächer- lichen Konsequenzen unserer unaufhörlichen Versuche, unsere In- stimtionen zu begründen auf Ideale, die uns von der Ein- b i I d u n g und von halbbefriedigten Leidenschaften eingegeben sind, anstatt auf eine wirkliche Naturwisfen- s ch a f t hat er selbst einmal gesagt. In seinen Dramen vollzieht sich der Konflikt zwischen Vertretern eines solchen Idealismus und Vertretern eines kraftvollen Realismus, wobei der Realist triumphiert. Dieser Realist ist eine starke Persönlichkeit, die ihren Willen zum Leben durchsetzt und allein für sich, weitab von der in alten Idealen und Illusionen lebenden Masse steht.„Der Realist Shaws", sagt M. Beer in seiner Arbeit über den Künstler,„ist die Personi- fizierung des Willens, er ist ein Stück Uebermensch, der durch die Realisierung seiner Persönlichkeit zum A l t r u i ft e n wird." Allerdings: denn die Herausarbeitung dieses realistischen Uebermenschen hat Shaw nie gehindert, sich zu sozialistischen Anschauungen zu bekennen. Er ist nicht Marxist, er sieht nicht in der selbständigen Arbeiterbewegung und ihrem Kampf um die Be« freiung die Möglichkeit der Durchführung sozialistischer Ordnung. Sein Sozialismus soll eine„Vergesellschaftung der geschlechtlichen Zuchtwahl" bringen, eine„Vergesellfchaftung der menschlichen Entwicklung". So sind denn seine Dramen freilich nicht fozialistische Tendenzstücke, und seine spottende Kritik verschont auch die Re- Präsentanten der Arbeiterbewegung nicht. Aber deshalb ist seine Ueberzeugung von der Verwerflichkeit der heutigen Ordnung doch nicht geringer und sein Kampf für ihre Unterhöhlung durch eine bessere, sozialistische nicht weniger ehrlich. Vor dem Kriege wurden seine dramatischen Werke auch in Deutschland viel gespielt. Seitdem in dem großen Weltbrand Bern- hard Shaw einige scharfe Urteile über Deutschland sällte, hat er es mit den deutschen Bühnen verdorben. Das„maßgebende" Publikum ist entrüstet, weil er unter anderem sagte, den Deutschen müsse „Potsdam ausgetrieben" werden. Aber es wäre ganz ver- kehrt, Bernhard Shaw nun unter die Zahl der englischc.n Nationalisten und Chauvinisten zu rechnen. Auch gegen die englische Politik hat er in diesem Kriege scharfe Worte gefunden. Daß die englische Negierung den Krieg bloß aus Entrüstung über die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland begonnen habe, hat er wiederholt als Heuchelei ge- geißelt.„Unser nationaler Trick, mit tugendhafter Entrüstung zu prunken, ist schon in friedlichen Parteikämpsen widerwärtig genug", schrieb er in den„Daily News";„dieser Krieg ist ein Krieg um Machtverhältnisse, nichts anderes." Er hat mehrfach auch auf die Gefahr hingewiesen, daß der Krieg schließlich ein gefähr- liches Uebergewicht Rußlands herbeiführen könne. Und mit allem Nachdruck hat er sich dagegen gewandt, daß der Krieg zu einer Ver- nichtung Deutschlands führen solle.„Deutschland ist ein so wich- tiges Bollwerk für die Zivilisation, daß, selbst wenn wir mit ihm im Kriege sind, unfer Endziel die Aufrechterhaltung seiner Macht sein muß", heißt es in dem erwähnten Aufsatz. Und in einem anderen, in„NashS Magazine":„Es ist ein Glück für unS, daß das„Vernichten" nur Schuljungenparade ist". Zum Schluß dieses Aufsatzes, der schon im Herbst 1Sl4 erschien, wird auch be- rcits als dringende Notwendigkeit hingestellt,„gleich mit der Arbeit des unvermeidlichen Friedensvertrages zu beginnen, den wir doch alle einmal unterzeichnen müssen, wenn wir endlich alle von dem entsetzlichen Morden und Vernichten genug haben". Solche Worte ehren Shaw und fügen sich wohl zu dem Bilde, das wir von diesem kühnen, geistvollen Kämpfer und Spötter haben. vie Edelgase. Wir haben bereits gestern den Tod deS großen Chemiker? William Namsay gemeldet und dabei darauf hingewiesen, daß er der Entdecker des„Edelgases" Argon gewesen sei. Die sogenannten Edelgase— der Name ist nicht sonderlich glücklich gewählt—, fand Ramsah im Verlaufe seiner Untersuchungen über die Zusammen- setzung der atmosphärischen Luft. Schon dem Chemiker Rahleigh war es aufgefallen, daß der atmosphärische Stickstoff schwerer sei als der auf chemischem Wege gewonnene. Ramsah interessierten diese Feststellungen ungemein und er begann sie experimentell nachzu- prüfen, wobei er das spezifische Gewicht des atmosphärischen Stick- stoffs in der Tat höher als das Gewicht des chemisch hergestellten fand. Sofort äußerte Namsay die Anschauung, daß der atmo- sphärische Stickstoff noch eine Beimischung in Gestalt eines bisher unbekannten Gases haben müsse, und nach kurzer Zeit gelang der gemeinsamen Arbeit Ramsays und RayleighS denn auch die Dar- ftellung eines neuen Elementes, dem die beiden Chemiker den Namen Argon gaben. Es war in seinem Verhalten ein merkwürdiger Stoff: jeder chemischen Einwirkung widersetzte es sich hartnäckig, und es blieb trotz allen Versuchen stets unverändert. Da der Chemiker unter Edelmetallen sich solche Metalle vorstellt, die sich nicht ohne weiteres chemisch verändern lassen, so nannten die beiden englischen Forscher jenes gasförmige Element, das sich noch weit hartnäckiger verhielt als das sprödeste Edelmetall, Edelgas. Später fand Ramsay noch eine Reihe weiterer Edelgase, das Neon, das Krypton und Xenon. Wissenschaftlich erheblich weittragender noch war die Ent- deckung des Heliums oder vielmehr sein Nachweis auf der Erde. Das Helium führt, wie bekannt, seinen Namen daher, daß es zuerst, und zwar mit Hilfe der Spektralanalyse, ans der Sonne nachgewiesen wurde. Schon im Jahre 1863 wurde bei einer Sonnenfinsternis im Speltrum des Sonnenlichts eine Linie wahrgenommen, die völlig unbekannt war und sich durch kein auf der Erde bekanntes Element klassifizieren ließ. Erst Ramsay fand im Verfolg seiner Studien und Versuche mit den seltenen Gasen ein Element, das dem theoretisch bereits seit länger als einem Menschenalter bekannten Helium spektral- analytisch völlig gleichwertig war. Notize«. — Ein neues Verfahren des Seefisch Versandes hat kürzlich seine ersten Proben gut bestanden. Es besteht darin, daß man die Fische nicht auf Eis packt, sondern— wie der„Prometheus" berichtet— vor der Verpackung in eine Kältemischung von etwa 10 Grad unter Null getaucht. Die Oberfläche gefriert dann sofort, jede Wechselwirkung zwischen dem Innern der Fische und der Außenwelt hört auf, und das Gefrieren dringt rasch auch in das Innere der Fische ein. Zur Herstellung der Kältemischung wird Kochsalz benutzt. Derart gefrorene Fische können bis zu sechs Wochen ausbewahrt werden. Aufgetaut zeigen sie das alte Aussehen und haben den früheren Geschmack. Zur tot erklärt. 13) Von Ernst Wichert . Am nächsten Vormittag schon war das Stübchen im letzten Fischerhause so besucht, wie das Boudoir irgendeiner Frau vom Stande in der großen Stcwt. Eine Visite drängt die andere, und jeder Besuch war natürlich ganz zufällig und nur aus freundnachbarlichen Rücksichten abgestattet. Wunderlich nur, daß sie alle immer nach einer kurzen Einleitung auf die- selbe Frage kamen. Annika als kluge Frau hatte das voraus- gesehen und sich überlegt, daß es gar nicht lohnen würde, den Gevattern etwas aufzubinden, da das Gerede dann noch grö- ßer sein und ihrem Ruf vielleicht schaden könnte. Sie be- friedigte also die Neugierde vollkommen, setzte nun aber um so mehr durch die nachfolgende Erklärung in Staunen, daß sie entschlossen sei, nicht wieder zu heiraten. Ein Schrei der Entrüstung war die Antwort. Einen solchen Antrag aus- schlagen? Den reichen Konrad Hilgruber abweisen? Das wäre ja die reine Narrheit I Ob sie etwa auf den Kronprinzen warten wolle? Oder ob ihr der Krüger nicht hübsch genug wäre, der doch ein ganz respektabler Mann geworden sei und bloß die Hand auszustrecken brauche, um die reichste Köllmer- tochter daran zu haben. Sie wisse gar nicht ihr Glück zu schätzen, sonst hätte sie sich auch nicht eine Minute besonnen! Ob sie etwa hier auf der Nehrung so lange spinnen wolle, bis ihr Peter mit dem Fischerkabn ausfahren und etwas ver- dienen könne? Denn das solle sie doch nur nicht glauben, daß die arme Dorfschaft eine so junge Person, noch dazu mit ihrem Kinde, füttern werde, wenn es bekannt sei, daß sie aus purem Eigensinn eine reiche Heirat ausgeschlagen, die auch ihnen selbst hätte von Nutzen sein können, da man doch wüßte, an wen man sich in der Not zu wenden hätte. Wenn sie wirklich das Fischerhaus verkaufe, könne sie von dem Gelde doch nicht lange leben und werde noch die Hälfte dem Gericht für das Kind einzahlen müssen. Dann könne sie bei fremden Leuten dienen gehen und den Jungen in Pflege geben!— Solche und ähnliche Reden, bald freundlich, bald unfreundlich vorgebracht, mußte sie von allen Seiten hören, so daß sie zuletzt schon ganz kleinlaut wurde und nur schüchtern Ein- Wendungen machte. Und wenn sie dann wieder mit sich allein war, konnte sie sich doch nicht abstreiten, daß die Leute in vielen Punkten recht hätten und daß es wirklich mit ihrer Zukunft schlecht aussehe, besonders da sie nun auch das kleine Kapital fortgegeben, das früher bei ihren Berechnungen eine wichtige Rolle spielte. Sie nahm die alte Bibel vor und las eifrig'darin, um sich Trost zu erholen. Aber es wollte alles auf ihren Fall nicht recht passen, und wenn sie spät zu Bett ging, drückte sie das Gesicht in die Kissen und weinte und betete:„Gott erleuchte mich." Konrad Hilgruber ivar bei schönem Wetter ausgefahren, aber ehe er noch das jenseifige Ufer erreicht hatte, hob ein plötzlich losbrechender Sturm die schwarze Wolke, die den Horizont umlagerte, auf und trieb sie über das Haff. Seine Braunen mußten alle ihre Kraft daran setzen, den Schlitten durch die Schneeberge zu schleppen, die an einzelnen Stellen zusammengewirbelt wurden. Erfroren, durchnäßt und nicht in der besten Laune langte er zu Hause an und mußte sich obendrein noch die Frage gefallen lassen, warum er die schöne Annika nicht lieber gleich mitgebracht habe.„Nach drei Tagen enficheidet sich's, Mutter," sagte er ärgerlich und ging auf sein Zimmer. Der Sturm hielt an und brachte wieder Regen. Mit Besorgnis sah der Krüger am folgenden und nächstfolgenden Tage auf das Haff, wo sich der Schnee mehr und mehr in Wasser auflöste. Noch war der Grund fest, aber wegen der offenen, nur nicht überall sichtbaren Spalten nicht zuver- lässig. In der Krugstube wurden viel Geschichten von ver- unglückten Heufuhren erzählt, und das allgemeine Urteil war, daß das Eis in kurzem ganz aufgehen werde.„Nur noch zwei Tage muß es halten," dachte der Krüger bei sich— „hinüber muß ich!" Als nun aber die festgesetzte Zeit verstrichen war, über- kam ihn doch einige Bangigkeit. Es war nicht so sicher, daß fein Wagnis gelingen und er gesund zurückkehren würde. Er konnte es nicht ü�ers Herz bringen, diesmal von seiner Mutter zu scheiden, ohne sich mit ihr ausgesprochen und ihr ein freundliches Lebewohl gesagt zu haben. Er suchte sie des- halb frühmorgens in ihrer Schlafstube auf, schloß die Tür ab, damit niemand ihn störe, und setzte sich zu ihr ans Bett. „Mutter!" begann er mit fast feierlichem Ernst,„ich habe der Annika versprochen, heute zu ihr hinliberzukommen und ihre Antwort zu hören, ob sie mich mag. Ich werde fahren!" Die Krügerin sprang im Bett auf und starrte ihn mit großen Augen an.„Bist Du toll geworden?" schrie sie ihn an.„Heute über Haff fahren? Und dieser Person wegen?" „Ich werde fahren," antwortete er fest und bestimmt. „Darüber sprechen wir nicht weiter. Aber wenn Du mich ruhig anhören willst, möchte ich Dich von allem unterrichten, wozu ich in Zukunft entschlossen bin, für den Fall, daß die Annika mich nimmt, und für den Fall, daß die Annika mich nicht nimmt." Sie schlug eine helle Lache auf:„Daß sie Dich nicht nimmt? Das fehlte wirklich nur noch, daß Du Dir dort einen Korb holst. So albern ist die Annika nicht!" „Du kennst sie eben nicht," antwortete er achselzuckend. „Sie ist nicht wie andere Weiber. Ich bin ihrer Zustimmung noch durchaus nicht sicher, und gerade deshalb muß ich heute hinüber, mag's kommen, wie es kommt, damit sie nicht denkt, ich sei anderen Sinnes geworden. Gibt sie mir aber ihr Ja- wort, dann wär's freundlich von Dir, Mutter, wenn Du Dich beizeiten darauf vorbereiten möchtest." „Und ich sage Dir," fuhr die Alte auf,„daß das Ma- trosenweib mir nicht ins Haus kommt, solange ich darin bin," und gestikulierte ihm lebhaft mit beiden fleischigen Händen vor den Augen. „Dann wird nichts übrig bleiben, als daß Du gehst," sagte er zögernd und leise, aber doch nicht unschlüssig, und fügte, als er sie wie versteinert sitzen sah, mit einem Seufzer hinzu:„oder daß ich mich anderwärts anbaue, Mutter!" Diese ganz unerwartete Energie imponierte ihr denn doch. Freilich kostete es einige Minuten, bis sie sich die ihr gestellte Alternative klargemacht hatte; dann aber setzte sie das Gespräch nicht im früheren Tone fort, sondern warf sich auf die Seite, stemmte den Ellenbogen ins Kissen und den Kopf auf die Hand, brummte ärgerlich einige unverständliche Worte vor sich hin und fing dann ruhiger und gemäßigter an, ihre Gründe gegen die ihr so verhaßte Partie vorzubringen. Er hielt wacker stand und ließ sich nicht aus dem Sattel heben, selbst als sie schließlich zu Bitten ihre Zuflucht nahm und in aufrichtiger Besorgnis über das waghalsige Unternehmen ihres Sohnes in Tränen ausbrach.„Mit Deinem kranken Vater Hab' ich nichts als Not und Sorgen gehabt," klagte sie, „und nun wirst Du noch das Deinige dazu tun, daß ich im Alter meine einzige Stütze verliere." Er stand bewegt auf, küßte sie auf die Hand, mit welcher sie die Augen bedeckt hatte, und fragte:„Wirst Du freundlich hinterher Deine Zustim- mung geben, wenn ich jetzt die Fahrt aufschiebe?" Sie schluchzte weiter. Erst als er die Frage nochmals dringlicher wiederholte, antwortete sie ausweichend:„Ach! Du wirst Dich anders besinnen." Er preßte die Lippen zusammen, verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln, schüttelte den Kopf und ging.(Forts, folgt.)
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33 (26.7.1916) 173
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